Anthroposophie

«Anthroposophie» ist keineswegs ein neuer Name. Als es sich vor einer Anzahl von Jahren darum handelte, unserer Sache einen Namen zu geben (da der Name Theosophie nicht mehr gebraucht werden durfte, wegen Hinauswurfs aus der Theosophischen Gesellschaft), da verfiel ich auf einen solchen, der mir lieb geworden war, deshalb, weil ein Philosophie-Professor, dessen Vorträge ich in meiner Jugendzeit gehört habe, Robert Zimmermann, sein Hauptwerk «Anthroposophie» genannt hat. Das war in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Übrigens führt der Name Anthroposophie weiter zurück in der Literatur. Man brauchte ihn auch schon im 18. Jahrhundert; ja auch früher. Der Name ist also alt; wir wenden ihn für Neues an. Uns soll der Name nicht bedeuten «Wissen vom Menschen». Das ist die ausdrückliche Absicht derjenigen, die den Namen gegeben haben. Unsere Wissenschaft selbst führt uns zu der Überzeugung, daß innerhalb des Sinnesmenschen ein Geistesmensch lebt, ein innerer Mensch, gewissermaßen ein zweiter Mensch. Während nun dasjenige, was der Mensch durch seine Sinne und durch den an die Sinnesbeobachtung sich haltenden Verstand über die Welt wissen kann, «Anthropologie» genannt werden kann, soll dasjenige, was der innere Mensch, der Geistesmensch wissen kann, «Anthroposophie» genannt werden. Anthroposophie ist also das Wissen des Geistesmenschen; und es erstreckt sich dieses Wissen nicht bloß über den Menschen, sondern es ist ein Wissen von allem, was in der geistigen Welt der Geistesmensch so wahrnehmen kann, wie der Sinnesmensch in der Welt das Sinnliche wahrnimmt. Weil dieser andere Mensch, dieser innere Mensch der Geistesmensch ist, so kann man dasjenige, was er als Wissen erlangt, auch «Geisteswissenschaft» nennen. Und der Name Geisteswissenschaft ist noch weniger neu als der Name Anthroposophie. [1]

Diese Geisteswissenschaft gelangt eigentlich als eine Fortsetzung naturwissenschaftlicher Forschung durch Gedanken- und Willenszucht dahin, das, was wir in uns tragen, Denken und Wollen, in seiner Ausgestaltung so zu erfassen, daß man es auch dann erfaßt, wenn dieses Seelische, das im Denken und Wollen lebt, eben leiblos lebt in einer Weise, wie es nicht mehr von den Sinnen erreicht werden kann. Die Anthroposophie will nicht sein eine Theorie oder eine theoretische Weltanschauung sondern sie will sein dasjenige, was im Leben des Menschen den Geist in seiner Lebendigkeit rege machen kann, was den Menschen nicht bloß mit Wissen vom Geist, sondern mit dem Geist selbst durchdringen kann. [2]

Uns soll (also) der Name nicht bedeuten Wissen vom Menschen. Während nun dasjenige, was der Mensch durch seine Sinne und durch den an der Sinnesbeobachtung sich haltende Verstand über die Welt wissen kann, «Anthropologie» genannt werden kann, soll dasjenige, was der innere Mensch, der Geistesmensch wissen kann, «Anthroposophie» genannt werden. Es ist ein Wissen von allem, was in der geistigen Welt der Geistesmensch so wahrnehmen kann, wie der Sinnesmensch in der Welt das Sinnliche wahrnimmt. [3]

Die Anthroposophie muß sich richten an Erkenntniskräfte, die zwar durchaus im gewöhnlichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft vorhanden sind, aber vorhanden sind nur für die Ausgangspunkte ihrer Entwickelung, nicht aber für die weiteren Schritte. Und diese weiteren Schritte müssen gemacht werden, um gerade vom Gesichtspunkte einer wirklichen Erkenntnis aus, nicht von dem einer nebulosen Mystik, in die geistigen Gebiete des Lebens einzudringen. Der Ausgangspunkt muß dabei sein, was ich nennen möchte eine Vereinigung intellektueller Bescheidenheit auf der einen Seite und dem unbedingten Vertrauen in die Vervollkommnung der menschlichen Erkenntniskräfte auf der anderen Seite. Indem Anthroposophie zu einer Vereinigung dieser beiden Seelenimpulse führen will, kommt sie eben dazu, mit derselben Sicherheit über das sogenannte übersinnliche Gebiet etwas erforschen zu können, wie mit Hilfe der Sinne und der Naturwissenschaften heute mit so großem Glück und so sicherem Erfolg in das Gebiet der Sinnenwelt, des physischen Daseins, eingedrungen wird. Was soll nun in diesem Zusammenhange intellektuelle Bescheidenheit genannt werden? Anthroposophie macht geltend, daß (man) ja vielleicht über das, was man sich an Seelenkräften als erwachsener Mensch errungen hat, ebenso hinausschreiten (kann), wie über die Erkenntnisfähigkeiten der träumerischen Seelenverfassung des kleinen Kindes. Natürlich kommt es ganz darauf an, ob ein solches Hinausschreiten wirklich gelingt, andererseits hat aber Anthroposophie ein volles intensives Vertrauen eben dazu, daß die jeweilig vom Menschen errungenen Erkenntniskräfte immer mehr und mehr vervollkommnet werden können. [4]

Die Anthroposophie kann nicht eine Erneuerung der Gnosis sein, denn diese hing an der Entfaltung der Empfindungsseele. Anthroposophie muß im Lichte der Michael-Tätigkeit aus der Bewußtseinsseele heraus ein Welt- und Christus-Verständnis auf neue Art entwickeln. [5] Im Grunde genommen soll ja Anthroposophie nichts anderes sein als jene Sophia, das heißt jener Bewußtseinsinhalt, jenes innerlich Erlebte in der menschlichen Seelenverfassung, die den Menschen zum vollen Menschen macht. Nicht «Weisheit vom Menschen» ist die richtige Interpretation des Wortes Anthroposophie, sondern «Bewußtsein seines Menschentums»; das heißt, hinzielen sollen Willensumwendung, Erkenntnis-erfahrung, Miterleben des Zeitenschicksals dahin, der Seele eine Bewußtseins-richtung, eine Sophia zu geben. [6] Der Name Anthroposophie heißt: Weisheit, die entspringt, wenn der Mensch sich in seinem höheren Selbst findet. [7] Bei dieser Geisteswissenschaft handelt es sich darum, zur Naturwissenschaft als der geistigen Grundlage des modernen Wirtschaftslebens hinzuzufinden dasjenige, was den Menschen angeht, hinzuzufinden eine wirkliche Menschenkenntnis. [8] Die Anthroposophie hat eine Mission; sie ist wie ein Kulturkeim, der in die Zukunft hineinwächst und aufsprießen muß. [9] Es ist Anthroposophie durchaus nicht etwa ein Glaubensinhalt, sondern ein wirklicher Wissensinhalt, aber ein solcher, der den Menschen eine Kraft gibt, wie sie in älteren Zeiten nur der Glaube enthalten hat. [10] Sie erfüllt ihre vollständige Aufgabe erst dann, wenn sie die menschlichen Seelen lebendig durchdringt und wenn wir durch sie nicht nur etwas begreifen, sondern ganz anders werden in unserer ganzen Stellung und in unserem Verhältnisse zur umliegenden Welt. [11] Der Mensch muß erst sein Denken umgestalten, wenn er sich die Berechtigung erwerben will, über das Lebens-, Seelen- und Geistgebiet wissenschaftlich zu sprechen. [12]

Anthroposophie will ja nicht das sein, was ihr von so vielen Seiten nachgesagt wird: irgendeine Art von Schwärmerei oder Sektierertum; sondern sie will sein eine ganz ernste, im wissenschaftlichen Sinne gehaltene Betrachtung der Welt, nur daß diese Betrachtung der Welt in ebenso ernster Weise auf das geistige Gebiet gerichtet sein soll, wie wir heute gewohnt sind, wissenschaftliche Methoden angewendet zu finden auf das materielle Gebiet. Anthroposophie will allerdings nicht eine «Wissenschaft» im gewöhnlichen Sinne des Wortes sein, die abgezogen vom Leben von einzelnen Menschen getrieben wird, die sich für diesen oder jenen wissenschaftlichen Beruf vorbereiten, sondern sie will sein eine Betrachtungsweise der Welt, die für jeden Menschensinn gelten kann, der Sehnsucht danach hat, sich die Fragen zu beantworten, die handeln von dem Sinn, den Aufgaben des Lebens, von der Wirkungsweise der geistigen und der materiellen Kräfte im Dasein und der Anwendung dieser Erkenntnisse im Leben. Und es ist uns auf anthroposophischem Felde bisher durchaus gelungen, auf einzelnen Gebieten ganz praktische Anwendungsmöglichkeiten der anthroposophischen Betrachtungsweise zu erzielen, vor allen Dingen auf pädagogischem Gebiete, wo wir Schulen eingerichtet haben, die auf der Anschauungsweise beruhen, von der hier gesprochen werden soll.Und es ist uns dies auch in einer vielfach anerkannten Weise auf dem Gebiete der Heilkunst gelungen. So kann es sich also nicht darum handeln, auch auf dem Gebiete der Heilkunst nicht, irgendwie Laienhaftes, zu der heutigen Wissenschaft in Opposition Tretendes, mit der Anthroposophie zu verkünden, sondern zu zeigen, wie man durch gewisse geistige Methoden in der Lage ist, zu dem Anerkannten anderes hinzuzufügen, das eben nur dann hinzugefügt werden kann, wenn man das Gebiet ernsten Forschens erweitert in die geistige Welt hinein. Anthroposophie will dies dadurch erreichen, daß sie nach Erkenntnisarten strebt, die im gewöhnlichen Leben und auch in der gewöhnlichen Wissenschaft nicht vorhanden sind. Im gewöhnlichen Leben wie in der gebräuchlichen Wissenschaft bedient man sich ja derjenigen Erkenntnisse, welche der Mensch erringt, wenn er mit seinen nun einmal menschlich vererbten Anlagen und Fähigkeiten dasjenige hinzuerwirbt in seiner Entwickelung, was uns die gewöhnliche heutige niedere oder höhere Schulerziehung geben kann, und was uns in dem heute anerkannten Sinne zu einem reifen Menschen macht. Anthroposophie will weitergehen, sie will ausgehen von dem, was ich nennen möchte intellektuelle Bescheidenheit. Und diese intellektuelle Bescheidenheit, die zunächst da sein muß, wenn man überhaupt Sinn und Gesinnung für Anthroposophie entwickeln will, möchte ich in der folgenden Weise charakterisieren. [13]

Nehmen wir einmal die Entwickelung des Menschen von der jüngsten Kindheit auf. Wir sehen das Kind so in die Welt treten, daß es in seinen Lebensäußerungen und namentlich in dem, was es in der Seele trägt, noch nichts von dem hat, womit der reife Mensch sich erkenntnismäßig und tatenmäßig in der Welt orientiert. Durch Erziehung und Unterricht müssen erst aus der kindlichen Seele und aus dem kindlichen Organismus diejenigen Fähigkeiten herausgeholt werden, die der Mensch nicht reif zur Welt mitbringt. Und wir geben alle zu, daß wir ja nicht im wahren Sinne des Wortes für die Welt wirkende Menschen sein können, wenn wir nicht zu dem, was wir durch Vererbung in die Welt mitbringen, dasjenige hinzuerwerben würden, was eben erst durch die Erziehung aus dem Menschen herausentwickelt werden kann. Dann treten wir – der eine früher, der andere später, je nachdem er niedere oder höhere Schulen absolviert – ins Leben und haben ein gewisses Verhältnis zum Leben, haben die Möglichkeit, ein gewisses Bewußtsein zu entwickeln von dem, was uns in der Welt umgibt. Nun sagt der, der mit Verständnis an das Wollen der Anthroposophie herankommt: Warum sollte dasselbe, was zunächst beim Kinde möglich ist – daß es etwas ganz anderes wird, wenn es seine seelischen Eigenschaften weiterentwickelt –, warum sollte denn das nicht möglich sein beim reifen Menschen im heutigen Sinne? Warum sollte man denn, wenn man mit der heutigen, auch höchsten Schulbildung, an die Welt der Sinne herantritt, nicht auch in der Seele verborgene Fähigkeiten haben, die noch weiterentwickelt werden können, so daß man durch eine weitere Entwickelung hinauskommt zu Erkenntnissen und zu einer praktischen Lebensführung, die gewissermaßen dasjenige fortsetzen, was man sich in derjenigen Entwickelung errungen hat, die zum gewöhnlichen Bewußtsein hinführt?

So wird denn auf dem Felde der Anthroposophie eine Art von Selbst-entwickelung aufgenommen, eine Selbstentwickelung, die über den gewöhnlichen Stand des Bewußtseins hinausführen soll. Nun gibt es in der menschlichen Seele drei Fähigkeiten, die wir für das gewöhnliche Leben bis zu einem gewissen Grade entwickeln, die aber weiterentwickelt werden können. Und erst Anthroposophie ist dasjenige im modernen Kultur- und Zivilisationsleben, was zu einer entsprechenden Weiterentwickelung dieser Fähigkeiten die Anregung geben will. Diese Fähigkeiten sind Denken, Fühlen und Wollen. Alle drei Fähigkeiten können so umgestaltet werden, daß sie Erkenntnisfähigkeiten in einem höheren Sinne werden. [14]

Zunächst das Denken. Wir gebrauchen in derjenigen Bildung, die wir uns heute erwerben, das Denken so, daß wir uns eigentlich im Denken ganz passiv der Welt hingeben. Ja, man verlangt es gerade in der Wissenschaft, daß möglichst keine innere Aktivität im Denken wirken soll, sondern daß das, was draußen in der Welt ist, nur so sprechen soll, wie die Sinne es beschreiben, und daß man im Denken sich einfach dieser Sinnesbeobachtung hingibt. Man sagt: jedes Weitergehen über ein solches Passiverhalten führe zur Phantastik, zur Träumerei. Aber das, um was es sich bei der Anthroposophie handelt, führt nicht zur Phantastik, nicht zur Träumerei, sondern ganz im Gegenteil zu einer solchen inneren Betätigung, die klar ist, wie nur irgendeine Verrichtungsweise auf dem Gebiete der Mathematik oder der Geometrie klar sein kann. Gerade die Art und Weise, wie man sich in der Mathematik, in der Geometrie verhält, wird in der Anthroposophie zum Muster genommen, nur daß dann nicht spezielle Eigenschaften entwickelt werden wie in der Geometrie, sondern daß allgemein-menschliche, jedes menschliche Herz und jeden Menschensinn berührende Fähigkeiten entwickelt werden. Und im Grunde genommen ist das, was zunächst zu leisten ist, etwas, was eigentlich von jedem Menschen, wenn er nur unbefangen genug dazu ist, eingesehen werden kann. Man verwendet einfach die Fähigkeit, die Kraft des Denkens, eine Weile zunächst nicht dazu, um etwas anderes, Äußeres zu erfassen, zu ergreifen, sondert man läßt einen Gedanken anwesend sein in der menschlichen Seele, einen Gedanken, den man möglichst überschauen kann, und man gibt sich für eine bestimmte Zeit ganz diesem Gedanken hin. Ich will es genauer beschreiben.

Wer das nötige Vertrauen dazu hat, wende sich an einen auf diesem Gebiete erfahrenen Menschen und frage ihn: Welches ist für mich der beste Gedanke, dem ich mich so hingeben kann? – Dann wird dieser ihm einen leicht überschaubaren Gedanken geben, der dem, der so etwas sucht, aber möglichst neu sein soll. Verwendet man einen alten Gedanken, dann steigen allerlei Erinnerungen, Gefühle, also Subjektives aus der Seele herauf, und man kommt leicht in die Träumerei hinein. Verwendet man jedoch einen Gedanken, der einem ganz sicher neu ist, bei dem man an nichts erinnert wird, dann kann man sich einem solchen so hingeben, daß man die denkerischen Seelenkräfte dabei immer mehr und mehr verstärkt. Ich nenne in meinen Schriften, diese Art, das Denken innerlich zu kultivieren, Meditation. Es ist ein altes Wort; wir wollen heute mit ihm nur den Sinn verbinden, den ich auseinandersetzen will.

Die Meditation besteht darin, daß man die Aufmerksamkeit von allem äußerlich und auch innerlich Erlebten abwendet, daß man an nichts denkt als nur an den einen Gedanken, den man ganz in den Mittelpunkt des Seelenlebens stellt. Indem man so alle Kraft, die man in der Seele hat, auf einen einzigen Gedanken wendet, geschieht mit den seelischen Kräften etwas, was sich damit vergleichen läßt, daß man immer mehr und mehr eine Handbewegung als Übung ausführt. Was geschieht dabei? Die Muskeln verstärken sich, man bekommt kräftige Muskeln. Genau so geht es mit den Seelenkräften. Wenn man sie immer wieder und wieder auf einen Gedanken hin richtet, so erkraften sie sich, verstärken sich. Und wenn dies lange Zeit hindurch geschieht – es braucht auf einmal wahrhaftig nicht längere Zeit, denn es handelt sich mehr darum, daß man überhaupt in eine Seelenverfassung hineinkommt, sich zu konzentrieren auf einen Gedanken –, dann wird man, je nachdem man die Veranlagung dazu hat, bei einem kann es acht Tage dauern, bei einem anderen kann sich der Erfolg in drei Jahren einstellen und so weiter, aber man wird durch solche Übungen, die man immer wieder und wieder, und seien es auch nur fünf Minuten oder eine Viertelstunde täglich, anstellt, dazu kommen, innerlich etwas zu fühlen, wie wenn sich das menschliche Wesen mit einem neuen inneren Kräfteinhalt erfüllt. Man fühlt vorher die Kräfte seiner Nerven im gewöhnlichen Denken und Fühlen; man fühlt die Kräfte seiner Muskeln im Ergreifen der Gegenstände, im Ausführen der verschiedenen Verrichtungen. Dann fühlt man eines Tages: Man kann jetzt nicht mehr (nur) über äußere Dinge denken, wie man es früher auch gekonnt hat, sondern man fühlt jetzt: man hat eine ganz neue Seelenkraft in sich, man hat etwas in sich, was wie ein verdichtetes, wie ein viel stärkeres Denken ist. Und endlich fühlt man: mit diesem Denken ergreift man zuerst etwas, was man vorher nur in ganz schattenhafter Weise gekannt hat. [15]

Was man da ergreift, das ist nämlich im Grunde genommen die Wirklichkeit des eigenen Lebens. Wie kennt man denn dieses eigene Erdenleben, wie man es seit der Geburt durchlebt hat? Man kennt es in der Erinnerung, die bis zu einem gewissen Punkt der Kindheit zurückreicht. Da tauchen aus unbestimmten Seelentiefen herauf die Erinnerungen an die durchgemachten Erlebnisse. Sie sind schattenhaft. Vergleichen Sie nur einmal, wie schattenhaft das ist, was als Erinnerungsbilder an das Leben auftaucht, gegenüber dem, was man vollsaftig, intensiv von Tag zu Tag an Erlebnissen hat. Erfaßt man nun in der geschilderten Weise das Denken, dann hört diese Schattenhaftigkeit der Erinnerungen auf. Dann geht man zurück ins eigene Erdenleben und man erlebt das, was man vor zehn, vor zwanzig Jahren erlebt hat, mit derselben inneren Kraft und Stärke, wie es war, als man es erlebt hatte. Aber man erlebt es nun nicht so, wie man es damals erlebte, daß man mit den äußeren Gegenständen, mit den äußeren Wesenheiten in unmittelbare Berührung kommt, sondern man erlebt einen geistigen Extrakt davon. Und was man erlebt, das kann, so paradox es heute noch klingen mag, ganz eindeutig geschildert werden. Man hat auf einmal, wie in einem mächtigen Tableau, wie in einem Panorama, sein Leben bis zur Geburt hin vor sich. Nicht daß man die einzelnen Ereignisse bloß in der Zeitenfolge vor sich hat, sondern man hat sie in einem einheitlichen Lebenstableau vor sich. Die Zeit wird zum Raume. Was man erlebt hat, das hat man vor sich, aber nicht im Sinne der gewöhnlichen Erinnerung, sondern man hat es so vor sich, daß man weiß: Was man da vor sich hat, das ist die tiefere menschliche Wesenheit, ein zweiter Mensch in demjenigen Menschen, den man im gewöhnlichen Bewußtsein vor sich hat. Und wir kommen, indem wir durch das verdichtete Denken das eigene Leben kennenlernen, zu demjenigen, was bleibt, was bleibt durch unser ganzes Erdenleben hindurch, was aber zu gleicher Zeit das ist, was aus den äußeren Stoffen unseren Organismus aufbaut und was ihn wieder abbaut. Und dies letzte ist gleichzeitig das, was wir als ein Lebenstableau übersehen.

Nun unterscheidet sich das, was wir in dieser Weise ansehen, von der gewöhnlichen Erinnerung noch durch etwas anderes. In der gewöhnlichen Erinnerung treten die Ereignisse des Lebens so vor unsere Seele hin, wie sie von außen an uns herankommen. In dem Tableau, das durch das verdichtete Denken vor uns hintritt, lernen wir uns so erkennen, wie wir sind, was wir einem Menschen getan haben, wie wir uns zu einem Ereignis gestellt haben. Wir lernen uns selbst kennen. Das ist das Wichtige. Denn indem wir uns selbst kennenlernen, lernen wir uns auch intensiver kennen und lernen uns so kennen, wie wir in unseren Wachstumskräften, ja selbst in unseren Ernährungskräften drinnen-stecken; und wie wir es selbst sind, die unseren Körper aufbauen und wieder abbauen. Wir lernen daher so unsere innere Wesenheit kennen. [16]

Und so lernen wir erkennen, wie wir in dem Augenblicke, wo wir das verdichtete Denken erfassen, die Naturgesetze nur auf das mineralische Reich anwenden können. Aber wenn wir die Pflanzen erklären wollen, müssen wir ihr Wachstum erklären, und das können wir nicht mehr durch die Kräfte, die von der Erde aufsteigend wirken, sondern nur durch jene Kräfte, die vom Umfange, vom Kosmos in das Erdendasein hereinwirken. Da kommen wir dazu, anzuerkennen, daß wir in der Erkenntnis von der irdischen Anschauung aufsteigen und zu der kosmischen Anschauung kommen müssen. Und in dieser kosmischen Anschauung ist nun das enthalten, was wirkliche menschliche Selbsterkenntnis ist. [17]

Wir können weiterkommen, indem wir auch das Fühlen umgestalten. Das Fühlen, das wir im gewöhnlichen Leben haben, ist eine persönliche Angelegenheit, nicht eine eigentliche Erkenntnisquelle. Aber wir können das, was sonst nur im Fühlen subjektiv erlebt wird, zu einer wirklichen objektiven Erkenntnisquelle machen, und zwar in folgender Weise. Hat man das verdichtete Denken erreicht, hat man erreicht, daß das eigene Leben und auch das Leben der Pflanzen wie auf einem mächtigen Tableau vor der Seele ausgebreiter sind, so kann man weitergehen. Man kann dahin kommen, nachdem einen im erkrafteten Denken etwas ergriffen hat, nun den verstärkten Gedanken wieder auszuschalten. Wer da weiß, wie es schwierig ist im gewöhnlichen Leben, Gedanken, die einen ergriffen haben, wieder auszuschalten, der wird begreifen, daß besondere Übungen dazu notwendig sind, um das Angedeutete zu erreichen. Aber man kann es; man kann nicht nur erreichen, daß man einen Gedanken, auf den man sich konzentriert hat, mit aller Kraft der Seele ausschaltet, sondern daß man auch das ganze Erinnerungstableau – und damit sein eigenes Leben – ausschaltet und die Aufmerksamkeit davon abzieht. Dann tritt etwas ein, von dem man deutlich merkt: man steigt jetzt tiefer in die Seele hinunter, steigt jetzt in jene Regionen hinunter, die sonst nur dem Gefühle zugänglich sind. Nun ist es ja gewöhnlich so, wenn man im gewöhnlichen Leben Gesichtseindrücke, Gehörseindrücke und so weiter verschwinden läßt, dann schläft der Mensch meistens ein. Hat man aber das verdichtete Denken entwickelt, so schläft man nicht ein, wenn man nun alle Gedanken, auch die verdichteten, ausschaltet. Da kommt man in einen Zustand, in welchem keine Sinneswahrnehmungen und keine Gedanken wirken, den man nur so beschreiben kann, daß man sagt: der Mensch ist bloß wach, er schläft nicht ein; aber er hat zunächst nichts im Bewußtsein, er ist mit leerem Bewußtsein wach. Das ist ein Zustand, den die Geisteswissenschaft entdeckt, der im Menschen da sein kann, der ganz systematisch, methodisch heranentwickelt werden kann: Leeres Bewußtsein haben im vollbesonnenen Wachzustand, ist das, was als zweiter Erkenntniszustand angestrebt wird.

Aber das Bewußtsein bleibt dann nicht lange leer. Es füllt sich. So wie sich das gewöhnliche Bewußtsein durch die Augenwahrnehmungen mit Farben füllt, durch das Ohr mit Tönen, so füllt sich nun dieses leere Bewußtsein mit einer geistigen Welt, die ebenso im Umkreise ist wie hier die gewöhnliche physische Welt. Erst das leere Bewußtsein entdeckt die geistige Welt, jene geistige Welt, die weder hier auf der Erde noch im Kosmos im Raume ist, sondern die außer Raum und Zeit ist, die aber doch unsere tiefste menschliche Wesenheit ausmacht. Denn haben wir vorher mit dem verdichteten Bewußtsein des Denkens hinschauen gelernt auf unser ganzes Erdenleben wie auf eine Einheit, jetzt schauen wir mit dem erfüllten, zuerst leeren Bewußtsein hinaus in diejenige Welt, die wir in einem seelisch-geistigen Leben durchgemacht haben, bevor wir ins irdische Dasein heruntergestiegen sind. Wir lernen uns jetzt kennen als ein Wesen, das geistig vorhanden war vor Geburt und Empfängnis, das vor dem Erdendasein in einem vorirdischen Dasein gelebt hat. Wir lernen uns erkennen als ein geistig-seelischer Mensch, der den Leib, den er an sich trägt, von Eltern und Voreltern überliefert erhalten hat. So lernen wir jetzt die innere menschliche Wesenheit, die eigentliche geistig-seelische Wesenheit kennen. Sie tritt uns entgegen, wenn wir in die Region des Gefühls nicht nur fühlend, sondern auch erkennend hinuntersteigen. Da müssen wir aber erst merken, daß Erkenntnis-Erringen verbunden ist mit starken inneren Erlebnissen, die ich in folgender Weise schildern kann. Wenn Sie irgendein Glied Ihres physischen Organismus unterbunden haben, es nicht bewegen können, wenn Ihnen jemand vielleicht nur zwei Finger zusammenbindet, so spüren Sie es als unangenehm, vielleicht als schmerzhaft. Jetzt sind Sie in einem Zustande, wo Sie im Geistig-Seelischen erfahren ohne den Leib. Jetzt haben Sie den ganzen physischen Menschen nicht an sich, denn jetzt leben Sie in einem leeren Bewußtsein. Der Übergang dazu ist mit einem tiefen Schmerzgefühl verbunden. Über die Erfahrung des Schmerzes, der Entbehrung hinüber, erringt man sich den Eingang in das, was unser tiefstes geistig-seelisches Wesen ist. Davor schrecken viele Menschen zurück. Aber es ist eben nicht anders möglich, sich über das wirkliche menschliche Wesen aufzuklären als auf diese Art. Lernt man auf diese Weise erkennen, was man dem innersten Wesen des Menschen nach ist, so kann man dann noch weitergehen. [18]

Dann muß man aber eine Erkenntniskraft ausbilden, die im gewöhnlichen Leben nicht als Erkenntniskraft genommen wird: man muß die Liebe ausbilden als Erkenntniskraft, das selbstlose Hinausgehen in die Dinge und Vorgänge der Welt. Bildet man diese Liebe immer mehr und mehr aus, so daß man tatsächlich sich hinaustragen kann in den Zustand, den ich eben geschildert habe, wo man leibfrei, körperfrei die Welt anzuschauen vermag, dann lernt man sich vollständig erfassen als geistiges Wesen in der geistigen Welt. Dann weiß man, was der Mensch als Geist ist, dann weiß man aber auch, was Sterben heißt, denn im Tode legt der Mensch seinen physischen Leib tatsächlich ab. In der Erkenntnis, die ich jetzt als dritte schildere, die durch eine Vertiefung der Liebe erfahren wird, lernt man sich erkennen außerhalb seines Leibes; man vollzieht in der Erkenntnis-bildhaftigkeit die Trennung von seinem Leibe. Man weiß von diesem Augenblicke an, was es heißen will, wenn man im Erdendasein den Leib ablegt und durch die Pforte des Todes geht. Man lernt den Tod kennen, aber auch das Leben im Geistig-Seelischen über den Tod hinaus. Man lernt die geistig-seelische Wesenheit des Menschen jetzt erkennen, wie sie im Leben nach dem Tode sein wird. Wie man sie vorher erkennen gelernt hat, wie sie vor dem Herabstieg in das irdische Dasein in der geistigen Welt ist, so lernt man jetzt erkennen das Fortleben der geistig-seelischen Wesenheit des Menschen nach dem Tode. Was ich so nur prinzipiell, in der Kürze hier geschildert habe, ist der Inhalt einer heute schon reichen Literatur, die wahrhaftig ihre Gewissenhaftigkeit, ihre Erkenntnis-verantwortlichkeit von der exaktesten Wissenschaft gelernt hat, die es heute nur geben kann. Man berührt damit eine Geisteswissenschaft, die wirklich der gewöhnlichen Wissenschaft gewachsen sein will. [19]

Aber gerade dadurch lernt man ein anderes kennen: wie das Leben eigentlich aus zwei Strömen besteht. Man spricht heute allgemein von Entwickelung, man spricht davon: das Kind ist klein, es entwickelt sich, es wächst. Es wuchtet und kraftet, es sprießt und sproßt das Leben. Man spricht davon, daß sich die niederen Lebewesen zu den höheren entwickelt haben: sprießendes, sprossendes Leben, das immer komplizierter und komplizierter wird. Mit Recht! Dieser Strömung des Lebens – das lernt man erkennen – steht eine andere gegenüber, die auch in jedem Lebewesen, das empfindet, vorhanden ist: die abbauende Strömung. Geradeso wie wir wucherndes, sprießendes, sprossendes Leben in uns haben, aufbauendes Leben, so haben wir auch abbauendes Leben in uns. Durch eine solche Erkenntnisart, wie ich sie beschrieben habe, lernt man einsehen, daß man nicht nur sagen kann: unser Leben geht hinauf bis in unser Gehirn und Nervensystem; dort richtet sich das Materielle so ein, daß das Nervensystem der Träger des seelischen Lebens werden kann. So ist es nicht. Es sprießt und sproßt das Leben, aber es gliedert sich ein in dieses sprießende, sprossende Leben das fortwährende Zerfallen. Fortwährend zerfällt in uns das Leben. Das sprießende, sprossende Leben macht dem Zerfall fortwährend Platz. Wir sterben eigentlich teilweise in jedem Augenblick, es zerfällt etwas in uns. Wir bauen es nur immer wieder auf. Aber indem etwas in uns materiell zerfällt, hat das Geistig-Seelische Platz, in uns einzutreten, in uns tätig zu sein. Dadurch entwickelt sich noch kein Denken, daß die Nerven aufgebaut werden, und ebenso kein Fühlen. Sondern indem die Nerven gewissermaßen zerfallen, gleichsam lauter Löcher bekommen, gliedert sich in das Zerfallende das Geistig-Seelische hinein. Wir müssen das Materielle zuerst abbauen, damit das Geistig-Seelische in uns erscheinen kann, damit wir selber es erleben können. Das Geistige ergreift das Materielle nicht dadurch, daß dieses sich ihm entgegenentwickelt, sondern es ergreift es dadurch, daß das Materielle sich im umgekehrten Prozeß abbaut, und im Abbauen findet das Geistige dann seine Erscheinung, seine Offenbarung. So sind wir erfüllt von Geistigem, das überall da ist, wo Devolution ist, nicht Evolution, wo Ent-Entwickelung ist. [20]

Die(se) Geisteswissenschaft ist der erste, ich möchte sagen, noch stammelnde Versuch gegenüber dem, was zukünftige Menschheitsgeschlechter an Geisteswissenschaft erleben werden. [21] Heute verkünden wir Geistes­wissenschaft mit ganz bestimmten Worten und Vorstellungen und Begriffen, aber es ist nicht so, daß wir glauben, dasjenige, was wir heute sagen, gelte für alle Erdenzukunft, sondern es wird sich wandeln. Wenn 2000 Jahre mehr vorüber sein werden, wird auch dasjenige, was wir heute Erkenntnis der Geisteswissenschaft nennen, mit anderen Worten verkündigt werden, ebenso wie wir heute anders reden als in der Griechenzeit; nichts wird bleiben von der Art unserer Worte. [22]

Zitate:

[1]  GA 35, Seite 176f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[2]  GA 73a, Seite 370   (Ausgabe 2005, 583 Seiten)
[3]  GA 35, Seite 176f   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[4]  GA 84, Seite 154ff   (Ausgabe 1961, 291 Seiten)
[5]  GA 26, Seite 212   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[6]  GA 257, Seite 76   (Ausgabe 1965, 230 Seiten)
[7]  GA 198, Seite 244   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[8]  GA 329, Seite 203   (Ausgabe 1985, 348 Seiten)
[9]  GA 135, Seite 78   (Ausgabe 1978, 110 Seiten)
[10]  GA 211, Seite 77   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[11]  GA 141, Seite 64   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[12]  GA 36, Seite 257   (Ausgabe 1961, 379 Seiten)
[13]  GA 319, Seite 142ff   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[14]  GA 319, Seite 144   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[15]  GA 319, Seite 144ff   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[16]  GA 319, Seite 147ff   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[17]  GA 319, Seite 50f   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[18]  GA 319, Seite 151ff   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[19]  GA 319, Seite 153f   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[20]  GA 319, Seite 154ff   (Ausgabe 1982, 256 Seiten)
[21]  GA 159, Seite 121   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[22]  GA 159, Seite 213f   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 36:  Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze aus der Wochenschrift «Das Goetheanum» 1921–1925 (1921-1925)
GA 73a:  Fachwissenschaften und Anthroposophie (1920/1921)
GA 84:  Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (1923/1924)
GA 135:  Wiederverkörperung und Karma und ihre Bedeutung für die Kultur der Gegenwart (1912)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)
GA 257:  Anthroposophische Gemeinschaftsbildung (1923)
GA 319:  Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin (1923/1924)
GA 329:  Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung. Altes Denken und neues soziales Wollen (1919)