Alle unsere Sinnesorgane, die nach außen gerichtet sind, haben ihre Gegenbilder in unseren inneren Organen. Und diese inneren Organe sind ja zu gleicher Zeit die Organe der Erinnerung. Es wird der ganze Mensch, indem er seine Organe nach dem Inneren öffnet, zum Erinnerungsorgan. [1] Das Erinnern ist ein viel komplizierterer Vorgang als man gewöhnlich denkt! Man hat manchmal die auf Materialismus beruhende Vorstellung: Wir denken, dann suchen sich die Gedanken so irgendwo in der menschlichen Seele eine Wohnung, und dann holen wir sie wieder herauf, wenn wir uns an sie erinnern. Nein, so ist es nicht. Wer den Vorgang des Denkens beobachten kann, der findet Folgendes: Sehe ich etwas in der Außenwelt durch meine Sinne an, so schließe ich daran die Gedanken. Wenn ich mich erinnere und einen Gedanken bilde, so kommt mir das, was mir sonst von der Außenwelt kommt, aus meinem eigenen Inneren herauf. Genau ebenso, wie ich den Gedanken neu fasse an der äußeren Welt, so fasse ich neu den Gedanken an dem, was mir aus meinem Inneren heraufkommt.
Das Erinnern beruht nämlich nicht darauf, daß die Gedanken hinunterziehen in die Seele, sondern daß aus dem, was physisch wirkt auf Auge und Ohr, eine Fortsetzung in das Leibliche hineingeht, daß ein Parallelvorgang zu dem Denken da ist, und daß dieser Parallelvorgang Rhythmisches zurückläßt, welches dann wiederum heraufgeholt wird und innerlich ebenso wahrgenommen wird, wie sonst die Wahrnehmung äußerlich wirkt. [2]
Wenn wir auf das Bleibende des Vorstellungslebens sehen, das dann als Erinnerung wieder auftaucht, so ist die Summe der Vorgänge, die dann zu dem führen, was erinnert wird, eigentlich in derselben Seelenregion des Menschen vorhanden, in welcher das Gefühlsleben vorhanden ist. Das Gefühlsleben mit seiner Freude, seinem Schmerz, seiner Lust und Unlust, Spannung und Entspannung und so weiter, dieses Gefühlsleben ist dasjenige, was eigentlich der Träger des Bleibenden der Vorstellung ist und aus dem die Erinnerung wiederum geholt wird. Unsere Vorstellung verwandelt sich durchaus in Gefühlsregungen, und diese Gefühls-regungen sind es, die wir dann wahrnehmen und die zur Erinnerung führen. [3]
Alle Eindrücke, die wir von der Außenwelt bekommen, haben ihre Spiegelbilder in der Stoffwechsel-Gliedmaßenorganisation; und habe ich einen Eindruck von außen, so verschwindet er von der Kopforganisation, die vom Physischen nach dem Ich hinein zentripetal angeordnet ist. Das Ich muß sich aufrecht erhalten, das kann nicht einen einzigen Eindruck stundenlang haben, sonst würde es identisch werden mit dem Eindruck. Aber unten bleiben die Eindrücke, und da müssen sie wieder herauf, wenn erinnert wird. [4]
Gewiß, der Prozeß des Erinnerns selbst ist ein Seelisches, aber wir brauchen die innerliche Widerlage des Physisch-Leiblichen, damit sie zustande komme. Es ist bei dem, was in der Erinnerung sich abspielt, durchaus ein Zusammenwirken mit leiblichen Vorgängen, die nur von der äußeren Wissenschaft heute noch nicht genügend erforscht sind. Vergleicht man nun dasjenige, was im weiblichen Organismus – allerdings auch im männlichen Organismus, wo es nur sich mehr zurückzieht, wo es mehr im ätherischen Organismus zu beobachten ist –, vergleicht man dasjenige, was im weiblichen Organismus mit der monatlichen Periode geschieht, mit dem, was im gewöhnlichen Erleben mit einer Erinnerung geschieht, so wird man zwar einen Unterschied finden, aber man wird, wenn man mit gesunden Seelenaugen den Vorgang ins Bewußtsein sich hineinschafft, doch nicht anders sagen können, als daß dasjenige, was in der Erinnerung sich abspielt, dieses auf seelenhafte Art auftretende Geschehen im physischen Organismus, etwas ähnlich ist demjenigen, was mit den monatlichen Funktionen des Frauenorganismus vorgeht, nur im Kleinen, mehr ins Seelische gezogen, weniger in den Leib hineingepreßt. [5]
Im Ätherleib sind eingeprägt alle Gedanken und Erlebnisse des Menschen. Die sind in ihm eingegraben. Der Mensch würde sich viel mehr an seine Erlebnisse gedächtnismäßig erinnern können, wenn nicht die Außenwelt fortwährend seine Erlebnisse auslöschte. Der Mensch hat seine Vorstellungen nur nicht immer vor sich, weil er seine Aufmerksamkeit nach außen richtet. Wo er aufhört das zu tun, nimmt er wahr, was in seinem Ätherleib aufgespeichert ist. Alles was der Mensch von der Außenwelt aufgenommen hat, das ist in seinem Ätherleib eingegraben. Wenn nun im Tode der physische Leib abgelegt wird, nimmt er in dem Augenblicke alles das wahr, was in seinem Ätherleib aufgespeichert ist (siehe: Lebenstableau). [6]
Die Art und Weise, wie wir uns erinnern können, hängt im wesentlichen davon ab, wie wir vermöge unserer außerhauptlichen Organisation teilnehmen können an den Dingen, wie weit wir drinnenstehen können in den Dingen. Wenn wir starke Kopfmenschen sind, werden wir vieles begreifen, aber an weniges uns so erinnern, daß wir mit ihm zusammengewachsen sind. [7]
Was wir denken, vorstellen, empfinden, geht bis in unseren Ätherleib hinunter, aber der Ätherleib prägt es wiederum dem physischen Leibe ein, und dasjenige, was der Ätherleib wie Abdrücke im physischen Leibe schafft, das ist die Erinnerung. Wenn wir uns im späteren Leben an irgend etwas von früher Erlebtem erinnern, so bedeutet das: Wir stoßen mit dem Astralleib, der sich dann mit dem Ätherleib vereinigt, auf das, was wie eine Einprägung, wie ein Siegelabdruck in unserem physischen Leib geblieben ist. Kindlich ist die materialistische Vorstellung, die sich herausgebildet hat: als wenn eine Erinnerung im Gehirn da, eine andere dort sitzen würde, als wenn sie so eingeschachtelt wären. Das ist nicht wahr, sondern jede Erinnerung hat einen Abdruck, der im Grunde dem ganzen Haupte und noch manchem anderen Teil der menschlichen Gestalt entspricht, und die Erinnerungen stecken ineinander, nicht nebeneinander, wie eine kindliche materialistische Vorstellung annimmt. Diese Erinnerungstätigkeit beruht also darin, daß unser Astralleib und Ätherleib Eindrücke in unserem physischen Leib bewirken können. Es ist wirklich die selbe Tätigkeit, die äußerlich dann eintritt, wenn wir uns irgend etwas notieren. Wenn wir nämlich die Notizen anschauen, so besitzt das, was wir in unserer Seele haben, natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Zeichen, die wir auf dem Papier haben. Auf dem Papier sind Zeichen irgendwelcher Form, aber durch dasjenige, was wir dann daraus machen, indem wir angeregt werden, in der Seele das wieder lebendig zu machen, was wir notiert haben, geht ein geistiger Vorgang vor sich. Und so ist es auch mit der Erinnerung. Was in uns bleibt, hat wahrhaftig mit demjenigen, was beim Erinnern in der Seele auftritt, prinzipiell nicht mehr Ähnlichkeit als das, was auf dem Papier steht, mit dem, was in der Seele auftritt, wenn wir es wieder lesen.
Hellsichtig angeschaut, ist die Sache so: Nehmen wir also an, es erinnere sich jemand an etwas, was er früher durchgemacht hat. Was dann in seinem physischen Leibe aufleuchtet, ist ein Zeichen, das in irgendeiner Weise sogar der menschlichen Figur vom Kopfe und ein Stück darunter nachgebildet ist. Das sind Zeichen. Es ist jedes anders, was in der Erinnerung auftaucht, aber es sind Zeichen. Und was wir erleben, indem wir uns erinnern, das macht erst die Seele aus den Zeichen (siehe: Erinnern und Äther). Es ist das wirklich ein unterbewußtes Lesen (in dem äußeren Äther, angeregt durch das Zeichen), was als Erinnerung auftritt. [8]
Jedesmal, wenn wir eine Wahrnehmung machen, eine Vorstellung uns bilden, wird nämlich ein Abdruck in unserem physischen Leib gemacht. Dieser Abdruck ist sogar mehr oder weniger menschenähnlich. Jede Vorstellung, die wir uns bilden, macht nicht nur, wie der materialistisch-phantastisch Denkende meint, da oder dort im Gehirn einen Eindruck, sondern auf den ganzen Menschen macht jede Vorstellung einen Eindruck. Wenn ich jetzt zu Ihnen spreche, in der Minute vielleicht hundert Silben, so haben Sie während dieser Minuten rasch hintereinander fünfzig Menschen gebildet, jedoch fünfzig Menschenbilder rasch weggeschafft, das eine wechselt rasch mit dem anderen ab. Diese Menschenbilder sind mehr oder weniger gleich in ihrer äußeren Gestalt, aber doch wiederum ungleich; keines ist dem anderen vollständig gleich. Jedes ist von dem anderen verschieden, wenn auch eben nur etwas verschieden. Und der Grund, warum Sie morgen nicht dieses Menschenbild sehen, sondern sich an den Eindruck erinnern ist der, daß Sie in Ihrem Astralleib lesen. Es ist eine richtige unterbewußte Lesetätigkeit, geradeso wie wenn Sie irgend etwas aufschreiben und später lesen wollen, Sie nicht die Buchstaben beschreiben, sondern das, was die Buchstaben bedeuten, so ist es morgen, wenn Sie sich an das heute Erlebte erinnern. Sie versetzen sich in der Seele in dieses Menschenphantom, und Ihre Seele erlebt etwas ganz anderes als dieses Menschenphantom. Sie erlebt dasjenige, was sie gestern erlebt hat, noch einmal. [9]
Wenn man eine geistige Anschauung hat, die nicht durch die äußere Welt zustande gebracht ist, dann können wir uns nicht, wenn wir uns an sie erinnern wollen, uns in ein inneres Phantom versetzen, das geblieben ist; das ist ja im Leibe. Da müssen wir durch eine viel stärkere Kraft, ohne diese Unterstützung, die ganze Sache vom Inneren heraus wiederum erarbeiten. [10]
Die unterbewußte Tätigkeit, welche der Erinnerung zugrunde liegt, indem sie sich parallel dem Vorstellen unterbewußt entwickelt, zwar etwas anderes (ist), aber verwandt ist mit dem, was in den Vererbungskräften, in den Wachstumskräften liegt. [11]
Daß der Mensch sich an das einmal Erlebte erinnern kann, das beruht darauf, daß, indem der Ätherleib des Hauptes in Wechselwirkung tritt mit dem Ätherleib des übrigen Organismus, dasjenige, was im Ätherleib des Hauptes wirkt, in dem Ätherleib des übrigen Organismus Veränderungen hervorruft, die bleibend sind, und die heraufwirken bis in den physischen Organismus. [12] Alles das, was da jenseits des Gedankens, der erinnert wird, lebt, das nimmt man nicht wahr, wenn man sich nicht durch das schauende Bewußtsein aus sich selbst herausheben kann, und gewissermaßen sich von der anderen Seite schaut. So daß man nicht nur sieht, ein Gedanke geht hinunter, und spürt, er kommt wieder herauf, sondern alles das wahrnimmt, was dazwischen geschieht, während der Gedanke hinuntergegangen ist und wieder heraufkommt. Das ergibt sich nur dem inspirierten Bewußtsein (siehe: Inspiration). [13]
Was wir wahrnehmen und auch was wir gedanklich verarbeiten, das spiegelt sich an der Oberfläche unserer sämtlichen Organe, und diese Spiegelung bedeutet unsere Erinnerung, unser Gedächtnis während des Lebens. Also was sich da, nachdem wir es wahrgenommen und verarbeitet haben, an der Außenfläche unseres Herzens, unserer Lunge, unserer Milz und so weiter spiegelt, was da zurückgeworfen wird, das ist dasjenige, was die Erinnerungen abgibt. Da sind die verschiedensten Organe beteiligt. Wenn es sich zum Beispiel handelt um die Erinnerung, sagen wir sehr abstrakter Gedanken, da ist außerordentlich stark beteiligt daran die Lunge, die Lungenoberfläche. Wenn es sich mehr um gefühlsgefärbte Gedanken handelt, da ist sehr stark die Leberoberfläche daran beteiligt. [14]
Erinnerungen können sich bilden nicht nur an das, was man klar erlebt hat. Man kann ein Erlebnis haben, das so vorüberhuscht, daß man es sich nicht ganz klar zum Bewußtsein bringt, während man es erlebt, und dennoch kann es später als Erinnerung auftreten und dann deutlich sein. Da wird man, wenn man sich nicht kritisch genug verhält darauf schwören, man habe etwas in der Seele, was man niemals in diesem gegenwärtigen Leben erlebt hat. Weil das so ist, ist es begreiflich, daß mit solchen Impressionen viel Unfug getrieben wird von mancherlei Leuten, die sich mit Geisteswissenschaft – aber nicht in genügendem Ernst – befassen. 147.75fWenn man das Leben in der Erinnerung zurück anschaut, so stellt es sich scheinbar als eine geschlossene Strömung dar. Die ist es aber doch nicht, sondern wir müßten eigentlich, indem wir jetzt leben, den heutigen Tag überblicken bis zum Aufwachen, haben dann eine leere Stelle, daran schließt sich der Bewußtseinsinhalt des gestrigen Tages und so weiter fort. Was wir da in der Rückerinnerung beobachten, das trägt allerdings in sich auch diejenigen Zustände, die wir nicht bewußt durchlebt haben, die also in dem präsenten Teil des Bewußtseins nicht drinnen sind. Aber sie sind in anderer Art drinnen. Ein Mensch, der gar nicht schlafen würde, der würde eine ganz zerstörte Rückerinnerung haben. Sie würde ihn gewissermaßen blenden. Er würde alles das, was er in der Rückerinnerung vor sein Bewußtsein hinstellt, als etwas ihm ganz Fremdes, blendend Glänzendes erleben. Er würde überwältigt sein davon, und er würde sich vollständig ausschalten müssen. Er käme gar nicht dazu, sich selber in sich zu erfühlen. Nur dadurch, daß sich die Schlafzustände hineinstellen in die Rückerinnerung, wird die Rückerinnerung abgeblendet. Wir sind in der Lage, sie auszuhalten. Denn dadurch wird es möglich, daß wir uns selbst behaupten gegenüber unserer Erinnerung. [15]
[1] | GA 201, Seite 109 | (Ausgabe 1987, 286 Seiten) |
[2] | GA 301, Seite 146 | (Ausgabe 1977, 268 Seiten) |
[3] | GA 302, Seite 12f | (Ausgabe 1978, 142 Seiten) |
[4] | GA 317, Seite 79 | (Ausgabe 1979, 200 Seiten) |
[5] | GA 323, Seite 66 | (Ausgabe 1983, 376 Seiten) |
[6] | GA 93a, Seite 158 | (Ausgabe 1972, 286 Seiten) |
[7] | GA 206, Seite 54 | (Ausgabe 1967, 208 Seiten) |
[8] | GA 159, Seite 131f | (Ausgabe 1980, 388 Seiten) |
[9] | GA 159, Seite 351f | (Ausgabe 1980, 388 Seiten) |
[10] | GA 159, Seite 353 | (Ausgabe 1980, 388 Seiten) |
[11] | GA 73, Seite 44 | (Ausgabe 1973, 398 Seiten) |
[12] | GA 66, Seite 246 | (Ausgabe 1961, 269 Seiten) |
[13] | GA 66, Seite 248 | (Ausgabe 1961, 269 Seiten) |
[14] | GA 205, Seite 100f | (Ausgabe 1967, 247 Seiten) |
[15] | GA 207, Seite 56 | (Ausgabe 1981, 192 Seiten) |
GA 66: | Geist und Stoff, Leben und Tod (1917) |
GA 73: | Die Ergänzung heutiger Wissenschaften durch Anthroposophie (1917/1918) |
GA 93a: | Grundelemente der Esoterik (1905) |
GA 159: | Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915) |
GA 201: | Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Der Mensch – eine Hieroglyphe des Weltenalls (1920) |
GA 205: | Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Erster Teil:. Der Mensch als leiblich-seelische Wesenheit in seinem Verhältnis zur Welt (1921) |
GA 206: | Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921) |
GA 207: | Anthroposophie als Kosmosophie – Erster Teil:. Wesenszüge des Menschen im irdischen und kosmischen Bereich (1921) |
GA 301: | Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft (1920) |
GA 302: | Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung (1921) |
GA 317: | Heilpädagogischer Kurs (1924) |
GA 323: | Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie. Dritter naturwissenschaftlicher Kurs: Himmelskunde in Beziehung zum Menschen und zur Menschenkunde (1921) |