Selbst

Das, was der Mensch sein Selbst nennt, ist nicht das wirkliche Ich, ist das Ich, wie es sich spiegelt im physischen Leib. Spiegelbilder seines Inneren erlebt der Mensch nur. Und wenn er unreif die Gestaltungen dieses eigenen inneren Astralleibes und Ichs erleben würde, so entstünden in ihm Zerstörungstriebe, so würde er ein aggressives Wesen, so entstünde in ihm die Lust zu schaden. [1] Wir sind uns niemals unseres Geistes in seinem vollen Umfange bewußt, sondern nur insoweit, als dies die Gesetze unserer gegenwärtigen Verkörperung zulassen. [2]

In Wahrheit ist der Mensch gar nicht drinnen innerhalb seiner Haut. Sie sind in Wahrheit immer ausgebreitet über den Horizont, den Sie überschauen. Und im Wachbewußtsein stecken Sie eben mit einem wesentlichen Teil Ihres Ich und Astralleibes auch im physischen und ätherischen Leibe drinnen. Das ist eines der schlimmsten Stücke der Maya, daß der Mensch glaubt er stecke in seiner Haut. Das tut er nicht. In Wirklichkeit steckt er in den Dingen, die er sieht. Würde ich nicht meinen Organismus (jemandem) entgegenhalten, so würde ich ihn nicht sehen. Daß ich ihn sehe, daran ist mein Organismus schuld, aber mit meinem Ich und Astralleib stecke ich in ihm drinnen. [3]

Hinter den Erinnerungen sitzt schon unser Selbst, sitzt dasjenige, was uns weiter aus der geistigen Welt gegeben wird, damit wir den Weg von der Zeit in die Ewigkeit finden können. [4] Der Mensch muß wirklich von Zeit zu Zeit eine innigere Gemeinschaft mit seinem Geistselbst, Manas eingehen. Denn was wir auch haben können an einem die Seele befriedigenden Gefühl über den Zusammenhang des Menschen mit der geistigen Welt, es beruht darauf, daß diese Begegnung während der Schlafenszeit mit dem Genius nachwirkt. Das Gefühl, das wir im wachen Zustand bekommen können von unserem Zusammenhang mit der geistigen Welt, ist eine Nachwirkung dieser Begegnung mit dem Genius. In irgendeiner Form kommt diese Begegnung mit dem Genius bei jedem Menschen oftmals zum Bewußtsein. [5] (Weiteres siehe: Begegnung jedes Menschen mit der höheren Welt).

Dasjenige Ich, das wir hier erleben innerlich im Erdendasein zwischen Geburt und Tod, das ist ja an die physische Leiblichkeit gebunden. Das ist wahrnehmbar für uns, solange wir uns in der physischen Leiblichkeit erleben, und wir werden in einer gewissen Weise zur Selbstlosigkeit gezwungen, wenn wir aufsteigen in die Ätherwelt, in die astralische Welt. Da haben wir höchstens etwas wie eine Erinnerung dieses Erden-Ichs. Aber wir finden dann das wahre Ich, wie es von Erdenleben zu Erdenleben geht. Wir finden dieses wahre Ich so, daß es uns zunächst vorkommt wie ein ganz anderes Wesen. Wir sagen uns: Hier stehe ich innerhalb dieses Lebens zwischen Geburt und Tod im irdischen Dasein. Ich blicke zurück durch das Stück Ätherwelt, das mir erscheint, bis zu meiner Erdengeburt hin. Dann blicke ich weiter durch in Welten, in weite Gefilde, die eigentlich nur zeitliches Dasein haben, wo vom Raume zu sprechen im Grunde genommen ein Unding ist; aber es erscheint mir wie eine weite Perspektive die Welt mit all ihrem Inhalt, wie sie um uns herum lebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Indem ich durch den Äther hindurchschaue, durch die Welt der dritten Hierarchie, indem ich durch das Astralische hindurchschaue, in dem ich war zwischen dem Tode und einer neuen Geburt wie in einer in der Offenbarung des Logos lebenden, wie sich selbst durch die Weltensprache offenbarenden übersinnlichen Welt, indem ich durch das alles hindurchschaue, schaue ich endlich hin zu einem zunächst weit von mir entfernten Wesen, zu demjenigen, was mein Lebensinhalt im vorigen Erdenleben war. Da erscheint mir zunächst die Sache so, daß ich mir sage: Ich stehe eben hier im irdischen Leben mit meinem jetzigen gespensterartigen Ich, und dann sehe ich weit zurück durch alles das hindurch, was ich eben bezeichnet habe, auf den Inhalt meines vorigen Erdenlebens. Aber ich schaue zugleich, wie der als sich loswindendes Ich durchgegangen war durch die Welten, durch die ich wie perspektivisch hindurchgeschaut habe, bis in mein gegenwärtiges Erdenleben herein. Ich schaue zunächst wirklich mein lebendes wahres Ich wie ein fremdes fernes Wesen. Und ich erkenne mich wieder in diesem mir zunächst erscheinenden gleichsam fremden Wesen. Und dann wird man gewahr, wie dieses Selbst eben hergeströmt ist vom vorigen Erdendasein in dieses Erdendasein herein, wie es aber jetzt gewissermaßen in diesem Erdenleben zugedeckt ist, und nur erscheinen würde, wenn all die Ereignisse, die zwischen dem Einschlafen und Aufwachen vorkommen, vor die Menschenseele hintreten würden. Da drinnen webt und lebt weiter dasjenige, was aus dem vorigen Erdenleben, durch Astral- und Ätherwelt durchströmend, bis zu uns gelangt ist. [6]

In diesem Erden-Ich lebt eigentlich nur das erste Rudiment der Liebe. Und schon dadurch ist dem Leben auf Erden ein Glanz verliehen, daß die Kraft der Liebe in dieses irdische Leben hereinstrahlt. Aber diese Liebe muß so gesteigert werden, daß der Mensch fähig wird, durch die Steigerung der Liebe die Ätherwelt und die Astralwelt wahrzunehmen, und damit eigentlich dasjenige, was als sein Ich, als der Egoismus, als das Gegenteil der Liebe in ihm lebt, was im Leben als das Gegenteil der Liebe ihm die Möglichkeit gibt, als eigenes Ich sich zu empfinden innerhalb des Erdenlebens, das zu überwinden. Die Liebe muß so stark werden, daß man lernt, dieses Ich der Erde zu übersehen, es zu vergessen, nicht mehr achtend auf es hinzuschauen. Liebe ist das Aufgehen des eigenen Wesens in dem anderen. Das muß so stark sein, daß man des eigenen Ichs, wie es im irdischen Leibe lebt, nicht mehr achtet. Dann tritt der Widerspruch auf, daß man gerade durch Selbstlosigkeit, durch höchste Liebefähigkeit an das eigene wahre Ich herandringt, das in der Ferne der Zeiten dann uns entgegenleuchtet. Man muß schon sein Erden-Ich verlieren, um sein wirkliches wahres Ich in der Anschauung zu bekommen. Und derjenige, der nicht diese Hingabe entwickeln würde, der kann eben an dieses wahre Ich nicht herankommen. Und geradeso, wie man da sein Ich wiederfindet, von dem man eigentlich nur einen Abglanz hier im irdischen Leben hat, so findet man für die ganze Welt der irdischen Umgebung deren wahre Geistgestalt. Man muß auch diese irdische Welt verlieren für diese Erkenntnis, um deren wahre Ursprungswelt zugleich mit unserem wahren Ich zu finden. [7]

Zitate:

[1]  GA 145, Seite 149   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[2]  GA 34, Seite 351   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)
[3]  GA 156, Seite 22f   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)
[4]  GA 234, Seite 161   (Ausgabe 1994, 168 Seiten)
[5]  GA 175, Seite 57f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[6]  GA 84, Seite 139ff   (Ausgabe 1961, 291 Seiten)
[7]  GA 84, Seite 141f   (Ausgabe 1961, 291 Seiten)

Quellen:

GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 84:  Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie? (1923/1924)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 156:  Okkultes Lesen und okkultes Hören (1914)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 234:  Anthroposophie – Eine Zusammenfassung nach einundzwanzig Jahren. Zugleich eine Anleitung zu ihrer Vertretung vor der Welt (1924)