Michael

Das alte hebräische Wort Michael sollte eigentlich mit dem Wort Gottschauer übersetzt werden; Gottverkünder würde ganz dasselbe bedeuten wie Gabriel; Gottwoller ganz dasselbe bedeutet wie Raphael. Während wir in der physischen Welt wirken durch unsere drei Seelenkräfte (Denken, Fühlen und Wollen), wirken die Wesen der höheren Hierarchien durch Wesenheiten selber. Indem wir wirken durch Vorstellen, Fühlen, Wollen, wirkt ein Gott durch Michael, Gabriel und Raphael. Und das bedeutet für einen Gott dasselbe: Ich wirke durch Michael, Gabriel, Raphael, – was für unsere Seele bedeutet: Ich wirke durch Denken, Fühlen und Wollen. [1]

Das althebräische Volk verehrte als den höchsten Gott den JahveGott. Aber dieser Jahve gehörte für sie zu der Ordnung der «Offenbarungen». Das war eine erhabene Wesenheit, die sie als ihren Gott anerkannten. Aber sie sagten: Derjenige, der uns lenkt und leitet im Auftrage als der eigentliche Erzbote (griechisch: archangelos) des Jahve, das ist «Michael», einer der Erzengel – er heißt zu deutsch «der vor Gott steht». Im Althebräischen nannte man ihn auch das «Antlitz Gottes», weil der Angehörige des alten Bundes, wenn er zu Gott aufblickte, empfand, daß Michael vor Gott stand und sein Wesen ausdrückte, wie das menschliche Antlitz das Menschenwesen ausdrückt. Man nannte ihn daher wörtlich das Antlitz Gottes. [2] Diejenigen, die aus der jüdischen Priesterschaft mit vollem Bewußtsein zu Jahve schauten, waren sich bewußt, daß sie nicht unmittelbar mit ihrem Menschenerkennen herandringen konnten zu Jahve. Aber diese Priesterschaft war sich klar darüber, daß sich der Mensch dem Jahve durch Michael nähern könne, sie nannte Michael das Antlitz des Jahve. So wie wir einen Menschen kennenlernen, wenn wir in sein Antlitz blicken, wie wir aus der Milde seines Antlitzes einen Schluß auf die Milde der Seele, aus der Art, wie er uns anschaut, auf seinen Charakter ziehen, so wollte die alttestamentliche Priesterschaft aus dem, was sich in die Seele hereinschlich an atavistischen Hellschauungen in Träumen, von dem Antlitz des Jahve, von dem Michael schließen auf Jahve, den zu erreichen der Menschheit doch nicht möglich war. Was wäre denn aus dem alttestamentlichen Judenvolk geworden, wenn es, statt sich dem Jahve durch Michael zu nähern, hätte unmittelbar an Jahve herandringen wollen? Es wäre aus ihm geworden ein intolerantes, volksegoistisches Volk, ein Volk, das nur an sich hätte denken können. Denn Jahve ist der Gott, der mit allem Natürlichen zusammenhängt und im äußeren geschichtlichen Menschenwerden prägt er sein Wesen aus in dem Generationenzusammenhang der Menschen, wie er sich im Volkswesen ausspricht. Nur dadurch, daß dazumal das althebräische Volk durch Michael dem Jahve sich nähern wollte, hat es sich davor bewahrt, so volksegoistisch zu werden, daß dann nicht einmal der Christus Jesus aus der Mitte dieses Volkes hätte hervorgehen können. [3]

Fortwährend wird nicht nur das Blut aus dem übrigen Organismus heraufgesendet in das Haupt, sondern fortwährend steigen auch auf in das Blut jene seelisch-geistigen Gedankengebilde, aus denen die Welt gewoben ist, aus denen auch unser Organismus gewoben ist. Diese seelisch-geistigen Gedankengebilde, die nimmt der Mensch heute in seinem normalen Zustande noch nicht wahr, aber es ist das Zeitalter eingetreten, in dem der Mensch beginnen muß dasjenige wahrzunehmen, was aus seinem eigenen Wesen aufsteigt an Gedankengebilden. Und das große, gewaltige Geheimnis liegt vor, daß der Mensch sein Haupt entwickelt hat in einer langen Entwickelungsreihe, daß dann hinzugekommen ist dasjenige, was sein übriger Organismus ist, daß das Haupt bereits eine rückläufige Entwickelung angetreten hat, daß aber dasjenige, was der Mensch als sein Göttliches empfinden kann, durch den übrigen Organismus zu ihm sprechen muß, nicht durch das Haupt; durch das Haupt sprachen zu Menschen zunächst nur die luziferischen Wesenheiten. Und wir können sagen: Dem Menschen wurde zu seinem Haupte hinzuerschaffen der übrige Organismus, damit zu ihm sprechen können seine Götter. Gott blies dem Menschen den lebendigen Odem ein und er ward eine lebendige Seele. – Hier (im Alten Testament) wird richtig erkannt, daß durch eine Nicht-Hauptestätigkeit zu dem Menschen der göttliche Impuls kam. Bei den Lehrern des alten hebräischen Volkes finden wir überall das Bewußtsein, daß ihr Gott zu ihnen gesprochen hat nicht durch die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen, nicht durch das gewöhnliche Denken, nicht durch alles dasjenige also, wofür das Haupt der Vermittler ist, sondern daß ihr Gott zu ihnen gesprochen hat durch Träume – worunter sie nicht gewöhnliche Träume, sondern von Wirklichkeit durchtränkte Träume verstanden –, was da Gott zu ihnen gesprochen hat durch solche hellseherischen Momente wie zu Moses aus dem Dornbusch und ähnlichem. Und wenn man die Eingeweihten dieser alten Zeit gefragt hat, wie sie sich vorstellen, daß die göttlichen Rufe zu ihnen kommen, dann haben sie gesagt: Zu uns spricht der Herr, dessen Name unaussprechlich ist, aber er spricht durch sein Antlitz zu uns. – Und das Antlitz ihres Gottes nannten sie den Michael. Ihren Gott empfanden sie als den unbekannt hinter den Erscheinungen auch des Hellsehers bleibenden. Aber dieser Michael sprach nur dann, wenn die Menschen sich versetzen konnten in einen anderen Zustand, als der gewöhnliche Bewußtseinszustand war, wenn die Menschen sich versetzen konnten in einen Zustand einer gewissen Hellsichtigkeit, durch den dasjenige ins Bewußtsein hereintrat, was sonst nur am Menschen schafft und lebt entweder vom Einschlafen bis zum Aufwachen, oder aber durch den unterbewußt bleibenden Willen, der eigentlich auch schläft, auch dann, wenn wir tagwachend sind. Und so nannte man in der alten hebräischen Geheimlehre die Jahve-Offenbarung die Offenbarung der Nacht. [4]

Je weiter man (als Geistesforscher) in die übersinnlichen Welten eindringt, desto mehr durchdringen sich die Wesenheiten dort, sie sind nicht mehr voneinander abgegrenzt, so daß es schwer ist, sie voneinander zu unterscheiden. Vor allem darf man die Evolution nicht außer acht lassen, wenn man den Namen Jahve in Betracht zieht, namentlich wenn man ihn mit dem Namen des Christus in Verbindung bringt, (denn) Christus offenbarte sich durch Jahve, soweit er das konnte vor dem Mysterium von Golgatha. Wenn man einen Vergleich zwischen Jahve und Christus ziehen will, so ist es gut, das Sonnenlicht und das Mondenlicht als Bild zu gebrauchen. Christus ist dem Sonnenlicht gleich, Jahve ist wie das reflektierte Christus-Licht. [5]

Es gibt viele Wesenheiten (wie Michael), welche dem gleichen Range angehören. Aber diese besondere Wesenheit, die esoterisch unter dem Namen Michael bekannt ist, ist so erhaben über ihre Gefährten, wie die Sonne erhaben ist über die Planeten, über Venus, Merkur, Jupiter und so weiter. Und so können wir sagen, daß Jahve sich durch Michael, einen der Archangeloi, offenbarte. Die Erkenntnis dessen, was wir als Jahve beschrieben haben, war nicht bloß auf die alten Hebräer beschränkt, sie war viel weiter verbreitet. Und wenn man die letzten 5 Jahrhunderte vor der christlichen Ära untersucht, so findet man, daß während dieser ganzen Zeit eine Offenbarung durch Michael stattfand. Wir können diese Offenbarung in einer anderen Form in Plato, Sokrates, Aristoteles entdecken, in der griechischen Philosophie, sogar in den alten griechischen Tragödien während der 5 Jahrhunderte vor dem Ereignis von Golgatha. Wenn wir uns mit Hilfe der okkulten Erkenntnisse bemühen, hineinzuleuchten in dasjenige, was tatsächlich sich ereignete, so können wir sagen, daß Christus-Jahve die Wesenheit ist, welche die Menschheit durch ihre ganze Evolution hindurch begleitet hat. Aber während der Epochen, die einander folgen, offenbart sich Christus-Jahve immer durch verschiedene Wesenheiten desselben Ranges wie Michael. Er wählt sozusagen immer ein anderes Antlitz, mit welchem er sich der Menschheit zuwendet. Und je nachdem der eine oder der andere aus der Hierarchie der Archangeloi gewählt wird, um der Vermittler zu sein zwischen Christus-Jahve und der Menschheit, werden dem Menschen sehr verschiedene Ideen und Auffassungen, Impulse des Fühlens, Impulse des Wollens und so weiter offenbart. Wir können die ganze Zeit, welche sozusagen das Mysterium von Golgatha umgibt, als die Zeit des Michael beschreiben, und wir können Michael als den Sendboten des Jahve betrachten. Die führende Kultur der Menschheit trug sozusagen den Stempel des Michael. Durch seine Eigenschaften, seine Kraft, goß er in die Menschheit dasjenige, was ihr in jenem Zeitpunkte gegeben werden sollte. Und dann kamen andere Wesenheiten, die gleichfalls von den spirituellen Welten aus die Inspiratoren der Menschheit waren, andere Wesenheiten vom Range der Archangeloi. Wie schon erwähnt wurde, war Michael der Größte, der Mächtigste, der Bedeutendste, so daß eine solche Epoche, wie die des Michael, stets die bedeutungsvollste oder eine der bedeutungsvollsten ist, die in der Evolution der Menschheit vorkommen kann. Denn die Epochen der verschiedenen Archangeloi wiederholen sich. Und die Tatsache ist von größter Wichtigkeit, daß jede solche Wesenheit von der Hierarchie der Archangeloi dem Zeitalter den Grundcharakter gibt. Sie sind hauptsächlich die Führer der verschiedenen Nationen, aber weil sie die Führer bestimmter Epochen werden und weil sie die Führer verflossener Zeitalter waren, so sind sie in einem gewissen Sinne auch die Führer der ganzen Menschheit geworden. [6]

Michael inspirierte die Menschheit mehrere Jahrhunderte hindurch, ungefähr 500 Jahre vor dem Mysterium von Golgatha, wie schon in den alten Mysterien von Plato und so weiter angegeben wurde. Bald jedoch, nachdem das Mysterium von Golgatha stattgefunden und Christus sich mit der Evolution der Erde vereinigt hatte, hörte der unmittelbare Einfluß des Michael auf. Die anderen Archangeloi, die Gefährten des Michael, konnten die Menschheit nicht in der Weise inspirieren, um das Mysterium von Golgatha verständlich zu machen. Dies erklärt die abweichenden Interpretationen der verschiedenen christlichen Lehren. In diesen Lehren wurde viel durch die Gefährten des Michael inspiriert. Diese Lehren wurden nicht von Michael selbst inspiriert, sondern stehen in demselben Verhältnis zu seinen Inspirationen wie die Planeten zu der mächtigen Sonne. [7] Michael selbst ist durch eine Entwickelung hindurchgegangen. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dürfen wir Michael wieder als Führer ansehen. [8] Jetzt erst in unserer Zeit ist wieder ein solcher Einfluß da, eine direkte Inspiration von Michael; sie wurde seit dem 16. Jahrhundert vorbereitet. In jener Zeit war es der Archangelos, der Michael am nächsten stand, welcher der Menschheit die Inspiration gab, die zu der Vervollkommnung der Naturwissenschaft in unserer modernen Zeit führte. Die Naturwissenschaft der heutigen Zeit rührt nicht von der Inspiration des Michael her, sondern von einem seiner Gefährten, Gabriel. Diese wissenschaftliche Inspiration neigt dazu, eine Wissenschaft, eine Anschauung zu schaffen, die nur für die materielle Welt Verständnis gibt und mit dem physischen Gehirn zusammenhängt. Innerhalb der letzten paar Jahrzehnte hat Michael den Platz dieses Inspirators der Wissenschaft wieder eingenommen, und in den nächsten Jahrhunderten wird Michael der Welt etwas geben, was in einem spirituellen Sinne ebenso wichtig – ja noch wichtiger, weil noch spiritueller –, unermesslich viel wichtiger ist als die materielle Wissenschaft, die von Stufe zu Stufe fortgeschritten ist seit dem 16. Jahrhundert. Geradeso wie sein Archangeloi-gefährte ehemals der Welt die Wissenschaft schenkte, so wird Michael uns in der Zukunft spirituelle Erkenntnis geben, an deren erstem Anfang wir uns jetzt befinden. Genauso wie Michael geschickt wurde als der Sendbote des Jahve, der Spiegelung des Christus, 500 Jahre vor dem Mysterium von Golgatha, um jener Ära ihren Stempel zu geben, so ist jetzt für unsere Zeit Michael der Sendbote des Christus selbst geworden. Genauso wie in den alten hebräischen Zeiten die alten hebräischen Eingeweihten sich an Michael wenden konnten als an die äußere Offenbarung des Jahve oder Jehova, so sind wir jetzt in der Lage, uns an Michael zu wenden, um von ihm während der nächsten paar Jahrhunderte zunehmende spirituelle Offenbarung zu empfangen, welche uns immer mehr und mehr das Mysterium von Golgatha enthüllen wird. Das, was vor 2000 Jahren stattfand, aber was der Welt nur durch die verschiedenen christlichen Sekten bekanntgemacht werden konnte, und dessen Tiefen erst im 20. Jahrhundert enthüllt werden können, wenn statt der Wissenschaft spirituelle Erkenntnis, die Gabe des Michael, sich geltend machen wird, das ist es, was unsere Herzen mit unermeßlich tiefen Gefühlen erfüllen sollte gegenüber dem Spirituellen in unserer Zeit. Wir werden erfahren können, daß in den letzten paar Jahrzehnten (gesagt 1913) ein Tor sich geöffnet hat, durch welches uns Verständnis kommen kann. [9]

Bis zum Jahre 1879 war aus den geistigen Welten heraus wirkend Gabriel. Seit dem Jahre 1879 war es jener Geist den wir Michael nennen. Er ist in einer gewissen Weise der stärkste der einander stets ablösenden führenden Geister der Zeiten. Die anderen waren vorzugsweise geistig im Geistigen wirksam. Michael hat die Stärke, den Geist durchzupressen bis in die physische Welt hinein. Man möchte vergleichsweise sagen: Was das Gold unter den Metallen ist, das ist Michael unter den Geistern, die der Hierarchie der Archangeloi angehören. Wie alle anderen Metalle vorzugsweise auf den Ätherleib wirken, das Gold aber zugleich auf unseren physischen Leib wirkt als Arzneimittel, so wirken alle anderen führenden Geister in die Seele hinein. Michael dagegen ist der, welcher zugleich auf den physischen Verstand, auf die physische Vernunft wirken kann. (Beispielsweise) mußte er sich, weil er im 15. Jahrhundert nicht der eigentliche führende Geist war, bei der Jungfrau von Orléans den Weg suchen (als Inspirator) ohne den menschlichen Verstand, ohne menschliches Begreifen, ohne menschliches Vorstellungsvermögen, einen gewissermaßen ganz inneren Weg durch die intimsten menschlichen Seelenkräfte. Der Christus hat ja durch seinen michaelischen Geist auf die Jungfrau von Orléans gewirkt; aber durch alles andere konnte er eher wirken als durch die Verstandes- und Vernunftkräfte. [10]

Alle Wesen sind in einer sich steigernden Entwickelung, und wir leben in dem Zeitalter, wo Michael, der Oberste von der Natur der Archangeloi, übergeht in die Natur der Archai. Er wird allmählich übergehen in eine leitende Stellung, wird eine leitende Wesenheit, wird Zeitgeist, leitende Wesenheit für die ganze Menschheit. Das ist das Bedeutsame, das ist das ungeheuer Wichtige unseres Zeitalters, daß wir begreifen, daß das, was in allen vorhergehenden Epochen noch nicht da war, für die ganze Menschheit nicht da war, nun sein kann, werden muß ein Gut für die ganze Menschheit. Was bisher bei einzelnen Völkern auftrat – spirituelle Vertiefung –, kann nun etwas sein für die gesamte Menschheit. [11]

Im November 1879 jenseits der Sphäre der sinnlichen Welt, im Übersinnlichen, hat sich dasjenige abgespielt, was man so ausdrücken kann: Michael hat sich die Kraft erobert, wenn die Menschen ihm entgegenkommen mit all dem, was in ihren Seelen lebt, diese so zu durchdringen mit seiner Kraft, daß sie die alte materialistische Verstandeskraft, die bis dahin in der Menschheit groß geworden ist, umwandeln können in spirituelle Verstandeskraft, in geistige Verstandeskraft. Seit dem November 1879 ist Michael wieder aufgetreten, und er kann rege gemacht werden im menschlichen Seelenleben, wenn man die Wege zu ihm sucht. Und diese Wege sind heute die Wege der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Aber gerade seit jener Zeit, da Michael auf diese Weise in ein Verhältnis zu den menschlichen Seelen eingetreten ist, um wiederum ihr unmittelbarer Inspirator durch drei Jahrhunderte zu werden, hat am allerstärksten auch die dämonische Gegenkraft eingesetzt, nachdem sie sich vorher vorbereitet hatte. [12]

Diejenige Macht, welche das menschliche Haupt aus der Tierheit heraus zu seiner jetzigen Gestalt geführt hat, ist eine luziferische Macht. Und diejenige Macht, die der Mensch als göttliche empfinden soll, die muß aus dem Nachtzustand des übrigen Organismus in das menschliche Haupt heraufströmen. So lag dasjenige, was der Mensch wissen konnte in den vorchristlichen Zeiten. Dadurch, daß die Christus-Wesenheit gewohnt hat in einem Menschenleib, der durch den Tod gegangen ist, dadurch hat sich innerhalb der Erdentwickelung etwas wie ein Ruck vollzogen. Die Möglichkeit hat sich zunächst herausgebildet, daß der Mensch nach und nach fähig werde, seine schöpferischen göttlichen Mächte auch während des Tages, während des gewöhnlichen Wachens, das heißt im gewöhnlichen Bewußtseinszustande, zu erkennen. Darüber herrscht heute nur noch Irrtum aus dem Grunde, weil die seit dem Mysterium von Golgatha verflossene Zeit noch nicht hingereicht hat, den Menschen dazu zu führen, auch im Tagwachen nun hineinzuschauen in diejenige Welt, in die hineinschauen konnten die Propheten des Alten Testamentes in den Zeiten, die sie empfanden als durchdrungen von Offenbarungen ihres Regierers der Nacht, des Jahve, und seines Antlitzes des Michael. Es bedurfte einer Durchgangszeit. Aber mit dem Ablauf des 19. Jahrhunderts – die ganze orientalische Weisheit weist hin, aber von einem völlig anderen Gesichtspunkte, auf die Wichtigkeit dieses Ablaufes des 19. Jahrhunderts (siehe dazu: Kali Yuga) – ist die Zeit eingetreten, wo die Menschen erkennen müssen: Jetzt ist in ihnen die Fähigkeit latent, jetzt ist in ihnen die Fähigkeit zum Aufwecken reif, durch die Tagesoffenbarung hindurch zu sehen dasjenige, was früher nur in der Nachtoffenbarung durch Michael vermittelt worden ist. Michael soll werden aus einem Nachtgeist ein Taggeist. Für ihn bedeutet das Mysterium von Golgatha die Umwandlung aus einem Nachtgeist in einen Taggeist. [13] Wie Michael gewissermaßen der Statthalter Jahves in früheren Zeiten war, wird er sein durch jene Funktionen, die er 1879 übertragen erhalten hat, der Statthalter des Christus, des Christus-Impulses, der darauf hinausläuft, an die Stelle der bloß natürlichen Blutsbande geistige Bande unter den Menschen zu schaffen. Denn nur durch geistige Zusammengehörigkeitsbande wird in das Niedergehende, das ganz naturgemäß ist, Fortschreitendes hineinkommen. [14] Michael hat eine Erhebung in eine höhere Stufe, vom Volksgeist zum Zeitgeist durchgemacht dadurch, daß er vom Sendboten Jahves zum Sendboten des Christus geworden ist. Er ist dasselbe Wesen, das den Ton angegeben hat zur Vorbereitung des Mysteriums von Golgatha, und jetzt in unserer Zeit den Ton angibt für das Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Michael steigt auf aus dem Range der Archangeloi zum Range der Archai. Der Platz wird ausgefüllt durch eine andere Wesenheit, die nachkommt. [15] Im Beginn der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, da schickte sich der Archangelos Michael an, nach und nach aus einem bloßen Archangelos ein Zeitgeist (also einer der Archai) zu werden, eine solche Entwickelung zu erlangen, daß er eingreifen könne in das Leben der Menschen nicht nur vom Standpunkte des Überirdischen, sondern unmittelbar vom Standpunkte des Irdischen aus. Vorzubereiten hatte sich der Archangelos Michael, auf die Erde selbst herabzusteigen, gewissermaßen nachzuleben den großen Vorgang des Christus Jesus selber, nachzuleben diesen großen Vorgang: hier auf der Erde seinen Ausgangspunkt zu nehmen und weiter zu wirken vom Gesichtspunkte der Erde aus. Dazu war notwendig, daß von den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der siebziger Jahre eine Vorbereitung gepflogen wurde von seiten dieses geistigen Wesens aus. Und so kann man denn beobachten, daß diese Jahre einen bedeutungsvollen Kampf im Überirdischen darstellen, aber in demjenigen überirdischen Gebiet, das unmittelbar an das irdische Gebiet angrenzt. Die geistigen Wesenheiten, die von diesem, zum Zeitgeist werdenden Archangelos Michael bekämpft werden mußten, sie haben immer eingegriffen in das Leben, in die Evolution der Menschheit. Sie haben nämlich in den letzten Jahrtausenden vor der Mitte des 19. Jahrhunderts die Aufgabe gehabt, die Menschen von der geistigen Welt aus zu differenzieren. Diejenigen geistigen Wesenheiten, welche unmittelbar Anhänger der Archangeloi sind, haben das Bestreben, die Menschen in einem gewissen Sinne zur Gruppenseele der Menschheit zurückzuführen, Einheit auszugießen über die ganze Menschheit. Dies würde nicht gegangen sein, wenn sie allein gewirkt hätten auf die Menschheit, diese würde gewissermaßen in einem Ununterscheidbaren verschwommen sein, würde nur eine Art vorstellen, wie im Grunde die tierische Art nur eine ist, nur auf einer etwas höheren Stufe. Diese geistigen Wesenheiten, die das michaelische Prinzip zu bekämpfen hatte, sind die, welche die Aufgabe hatten, Differenzierung in die Menschheit hineinzubringen, das einheitliche Menschengeschlecht zu spalten in Rassen, in Völker, in alle diejenigen Unterschiede, welche mit dem Blute, mit den Nerven, dem Temperament zusammenhängen. Man kann sie ahrimanische Wesenheiten nennen, aber man muß sich darüber klar sein, daß im gesamten Gang der Menschheitsentwickelung dieses ahrimanische Prinzip notwendig war. [16]

Es hat sich da vollzogen, wenn auch auf einer anderen Stufe, dasjenige, was immer durch ein bedeutungsvolles Symbolum dargestellt wird. Das Symbolum bezieht sich ja auch auf andere Stufen der Entwickelung, denn die Dinge wiederholen sich auf den verschiedenen Stufen immer wieder, und was ich jetzt erzähle, ist nur eine Wiederholung auf einer bestimmten Stufe von einem Ereignis, das auf anderen Stufen stattgefunden hat. Es ist das, was dargestellt wird durch das Symbolum der Besiegung des Drachens durch den Erzengel Michael (siehe: Michael und der Drache). Diese Besiegung des Drachens durch den Erzengel Michael, die da bedeutet, daß aus dem Reiche, in dem der Erzengel Michael gebietet, die entgegenstrebenden Mächte ausgestoßen worden sind, die hat sich in einem gewissen Gebiete vom Anfang der vierziger Jahre (des 18. Jahrhunderts) ab vollzogen. Gewisse geistige Wesenheiten, die bis dahin ihre Aufgabe gehabt hatten in der geistigen Welt zur Differenzierung der Menschheit in Rassen und Völker, die sind – wenn ich es mit diesem Ausdruck bezeichnen darf – vom Himmel auf die Erde gestoßen worden. Diese selben geistigen Wesenheiten haben in dem an die irdische Welt angrenzenden Gebiete heute keine Macht mehr. Sie sind unter die Menschen gestoßen, sind mit alledem, was sie haben mitbringen können, unter die Menschen auf die Erde gestoßen. Und so haben wir seit dem Ende der siebziger Jahre ein Zweifaches. Wir haben auf der einen Seite für diejenigen, von denen man sagen könnte, daß sie guten Willens sind – wenn man den Ausdruck im bedingten Sinne versteht –, wir haben seit dem Jahre 1879 auf der Erde die Herrschaft des Zeitgeistes Michael, der einen befähigt, spiritualisierte Begriffe, ein spiritualisiertes Geistesleben zu bekommen. Und wir haben auf der Erde die widerstrebenden Geister, die einen dazu verführen, die Geistigkeit der Gegenwart abzuleugnen. Wenn man gegen den Materialismus der Gegenwart kämpft, so sollte man sich immer bewußt sein, daß man nicht kämpfen soll gegen das Gute unseres Zeitalters, sondern daß man kämpft gegen die Lüge unseres Zeitalters. Denn es sind im wesentlichen Lügengeister, welche vom Himmel auf die Erde gestoßen worden sind, jene Geister, welche vorläufig auch als Geister der Hindernisse verhindern, daß gerade in dem Erfassen des naturgemäßen Daseins das Spirituelle gesucht werde. [17]

Alles, was in der Weltenordnung geschieht, hat nämlich auch sein Gutes. Wir erobern uns dadurch, daß die ahrimanischen Mächte durch den Sieg des Michael in uns gefahren sind, wiederum ein Stück der menschlichen Freiheit. Alles hängt ja damit zusammen, in uns alle sind ja diese Scharen des Ahriman gefahren. Wir erobern uns ein Stück der menschlichen Freiheit, aber wir müssen uns dessen bewußt sein. Wir müssen gewissermaßen den ahrimanischen Mächten nicht die Oberhand über uns gestatten, müssen uns nicht verlieben in diese ahrimanischen Mächte. [18]

Zitate:

[1]  GA 272, Seite 203   (Ausgabe 1981, 336 Seiten)
[2]  GA 102, Seite 142f   (Ausgabe 1974, 238 Seiten)
[3]  GA 195, Seite 35f   (Ausgabe 1962, 91 Seiten)
[4]  GA 194, Seite 33ff   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[5]  GA 152, Seite 35f   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[6]  GA 152, Seite 36ff   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[7]  GA 152, Seite 42   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[8]  GA 152, Seite 38   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[9]  GA 152, Seite 42ff   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[10]  GA 157, Seite 104f   (Ausgabe 1981, 320 Seiten)
[11]  GA 152, Seite 60   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[12]  GA 195, Seite 35f   (Ausgabe 1962, 91 Seiten)
[13]  GA 194, Seite 37f   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[14]  GA 177, Seite 206   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)
[15]  GA 152, Seite 73f   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[16]  GA 174a, Seite 223ff   (Ausgabe 1982, 308 Seiten)
[17]  GA 174a, Seite 225ff   (Ausgabe 1982, 308 Seiten)
[18]  GA 177, Seite 153   (Ausgabe 1977, 262 Seiten)

Quellen:

GA 102:  Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen (1908)
GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)
GA 157:  Menschenschicksale und Völkerschicksale (1914/1915)
GA 174a:  Mitteleuropa zwischen Ost und West (1914-1918)
GA 177:  Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. Der Sturz der Geister der Finsternis (1917)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)
GA 195:  Weltsilvester und Neujahrsgedanken (1919/1920)
GA 272:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band I: Faust, der strebende Mensch (1910-1915)