Jesus von Nazareth

(Seine Entwickelung aus Eintragungen in der Akasha-Chronik heraus dargestellt). Zuerst hatte die nächste Umgebung des jungen Jesus von Nazareth eine große, gewaltige Meinung bekommen von ihm, eben durch jenes Ereignis im Tempel, durch jene gewaltigen Antworten, die er den Schriftgelehrten gegeben hatte. Die nächste Umgebung sah sozusagen den kommenden Schriftgelehrten selber in ihm, sie sah heranwachsen in ihm denjenigen, der eine hohe, besondere Stufe der Schriftgelehrsamkeit erreichen werde. Mit großen, ungeheuren Hoffnungen trug sich die Umgebung des Jesus. Man fing sozusagen an, jedes Wort von ihm aufzufangen. Dabei aber wurde er, trotzdem man förmlich danach jagte, jedes Wort aufzufangen, nach und nach immer schweigsamer und schweigsamer. Er wurde so schweigsam, daß es seiner Umgebung im höchsten Grade oftmals unsympathisch war. Er aber kämpfte in seinem Inneren, kämpfte einen gewaltigen Kampf, einen Kampf, der ungefähr in dieser seiner Innerlichkeit hineinfiel zwischen das 12. und 18. Jahr seines Lebens. Es war wirklich etwas in seiner Seele wie ein Aufgehen innerlich liegender Weisheitsschätze, etwas, wie wenn aufgeleuchtet hätte in der Form der jüdischen Gelehrsamkeit die Sonne des einstigen Zarathustra-Weisheitslichtes. Zunächst äußerte sich das so, als ob dieser Knabe in der feinsten Weise alles, was die zahlreichen Schriftgelehrten, die in das Haus kamen, sprachen, mit größter Aufmerksamkeit aufnehmen sollte und wie durch eine ganz besondere Geistesgabe überall Antwort zu geben wüßte. So überraschte er auch noch anfangs zu Hause in Nazareth diejenigen, die als Schriftgelehrte da erschienen und ihn wie ein Wunderkind anstaunten. Dann aber wurde er immer schweigsamer und schweigsamer und hörte nur noch schweigend dem zu, was die anderen sprachen. Dabei gingen ihm aber immer große Ideen, Sittensprüche, namentlich bedeutsame, moralische Impulse in jenen Jahren in der eigenen Seele auf. Während er so schweigsam zuhörte, machte doch einen gewissen Eindruck, was er von den im Hause sich versammelnden Schriftgelehrten hörte, aber einen Eindruck, der ihm oftmals in der Seele Bitterkeit verursachte, weil er das Gefühl hatte – wohlgemerkt schon in jenen jungen Jahren –, daß vieles Unsichere, leicht zum Irrtum Neigende stecken müsse in dem, was da jene Schriftgelehrten sprachen von den alten Traditionen, von den alten Schriften, die in dem Alten Testamente vereinigt sind. Ganz besonders aber bedrückte es in einer gewissen Weise seine Seele, wenn er hörte, daß in alten Zeiten der Geist über die Propheten gekommen sei, daß Gott selber inspirierend gesprochen hätte zu den alten Propheten, und daß jetzt die Inspiration von dem nachgeborenen Geschlechte gewichen sei. Es sagten jene Schriftgelehrten oftmals: Ja, jener hohe Geist, jener gewaltige Geist, der zum Beispiel über den Elias gekommen ist, der spricht nicht mehr, was noch immer spricht was auch noch mancher von den Schriftgelehrten zu vernehmen glaubte als Inspiration aus den geistigen Höhen –, was doch noch immer spricht, das ist eine schwächere Stimme zwar, aber eine Stimme, die manche doch noch zu vernehmen glauben als etwas, was der Geist Jahves selber gibt. – Die Bath-Kol – hebr. «Tochter der Stimme», im griechisch-jüdischen Schrifttum «Himmelsstimme», nach dem Talmud eine Art göttlicher Offenbarung, welche neben der Prophetie den zweiten Rang einnahm. [1] – nannte man jene eigentümliche, inspirierende Stimme der Eingebung, zwar eine schwächere Stimme der Eingebung, eine Stimme minderer Art als der Geist, der die alten Propheten inspirierte, aber doch noch etwas Ähnliches stellte diese Stimme dar. [2] Während in dem Hause des Jesus von Nazareth die dort versammelten Schriftgelehrten von dieser inspirierenden Stimme der Bath-Kol sprachen, und der junge Jesus das alles hörte, fühlte und empfing er in sich selber die Inspiration durch die Bath-Kol. Durch die Befruchtung dieser (Jesus)-Seele mit dem Ich des Zarathustra war in der Tat Jesus von Nazareth fähig, rasch alles aufzunehmen, was die anderen um ihn herum wußten. Aber gerade dieser Umstand der Inspiration durch die Bath-Kol wirkte auf den Jesus, als er 16, 17 Jahre alt war und er oftmals diese offenbarende Stimme der Bath-Kol fühlte, so, daß er in bittere, schwere innere Seelenkämpfe dadurch geführt wurde, denn ihm offenbarte die Bath-Kol – und das glaubte er alles sicher zu vernehmen –, daß nicht mehr fern wäre der Zeitpunkt, daß im Fortgang der alten Strömung des Alten Testamentes dieser Geist nicht mehr sprechen würde zu den alten jüdischen Lehrern, wie er früher zu ihnen gesprochen hat. – Das war ein furchtbarer Augenblick, ein furchtbarer Eindruck, den die Seele des jungen Jesus empfing, als die Bath-Kol ihm selber zu offenbaren schien, daß sie nicht Fortsetzer sein könne des alten Offenbarertums. So glaubte Jesus in seinem 16., 17. Jahre, daß ihm aller Boden unter den Füßen entzogen wäre, und er hatte manche Tage, wo er sich sagen mußte: Alle Seelenkräfte, mit denen ich glaubte begnadet zu sein, sie bringen mich nur dazu, zu begreifen, wie in der Substanz der Evolution des Judentums kein Vermögen mehr besteht, heraufzureichen zu den Offenbarungen des Gottesgeistes. [3]

Es lebte also in der Seele des Jesus diese althebräische Welt. Alles das namentlich lebte in ihm, was heruntergekommen war an Nachrichten über das Verhältnis des hebräischen Volkes zu seinem Gotte, was gewöhnlich als die Verkündigung des Gottes des hebräischen Volkes an Moses aufgefaßt wird. Wenn wir skizzenhaft sprechen, können wir also sagen: Ein reicher Schatz aus der heiligen Lehre dessen, was im hebräischen Volke war, lebte in Jesus; und mit diesem Schatze, mit diesem Wissen lebte er, das Gewerbe seines Vaters treibend, in Nazareth, hingegeben dem, was er so wußte, es in seiner Seele verarbeitend. [4]

Was einem dabei besonders auffällt, wenn man den Blick Akasha-Chronik-mäßig auf diese Stelle der Menschheitsentwickelung hinrichtet, das ist das, daß innerhalb der ganzen Familie und innerhalb der ganzen Umgebung in Nazareth dieser Knabe in verhältnismäßiger Jugend mit dieser seiner inneren Offenbarung, die über alles hinausging, was dazumal andere wissen konnten, allein und einsam war. Auch die Stief- oder Ziehmutter verstand ihn in jener Zeit sehr schlecht, die anderen erst recht nicht. Solche Dinge als Mann zu ertragen, ist schwierig; solche Dinge zwischen dem 12. und 18. Jahre zu erleben, ist etwas Ungeheures. [5] Ganz mit sich allein war der Knabe mit diesen Erlebnissen, die sozusagen das Leid der geschichtlichen Menschheitsentwickelung in einer solchen Konzentration darstellten.

Nun entwickelte sich in dem Jesus etwas, was man, ich möchte sagen, in seinen Rudimenten da und dort im Leben schon beobachten kann, was man sich nur unendlich vergrößert denken muß in bezug auf das Jesus-Leben. Schmerz, Leid, die aus ähnlichen Quellen heraus erlebt werden wie diejenigen, die jetzt geschildert worden sind, verwandeln sich in der Seele, verwandeln sich so, daß der, der solche Schmerzen und dieses Leid wie selbstverständlich verwandelt in Wohlwollen, in Liebe, aber nicht bloß in Gefühle des Wohlwollens und Gefühle der Liebe, sondern in die Kraft, in eine ungeheure Kraft der Liebe, in die Möglichkeit, diese Liebe geistig-seelisch darzuleben. Trotzdem seine Geschwister, seine nächste Umgebung ihn anfeindeten, weil sie ihn nicht verstehen konnten und ihn als einen betrachteten, der nicht recht bei sich ist, so war doch das nicht abzuleugnen – denn es zeigte sich dazumal für das äußere physische Auge, es zeigt sich jetzt für den Akasha-Chronik-mäßigen Blick –, daß, wo dieser Jesus hinkam, mit irgend jemand sprach, wenn man ihn auch nicht verstehen konnte, man aber wenigstens einging auf das, was er sagte, daß da etwas wie ein tatsächliches Überfließen eines gewissen Etwas von des Jesus Seele in die andere Seele vorhanden war. Wie das Hinübergehen eines Fluidums des Wohlwollens, der Liebe war es, was ausströmte. Das war das verwandelte Leid, der verwandelte Schmerz. Wie ein wohltuender Liebeshauch kam er heran an diejenigen, die mit dem Jesus in Berührung kamen. [6]

Wir können drei Epochen in der Entwickelung dieses Jesus von Nazareth unterscheiden. Die erste vom 12. bis zum 18. Lebensjahr. Die zweite vom 18. bis zum 24. Lebensjahr. Die dritte etwa vom 24. bis zum 30. Lebensjahr. Der junge Jesus wurde äußerlich eingeführt in das Handwerk seines Vaters, eine Art Schreiner- oder Zimmermannshandwerk. Dabei aber entwickelte er sich merkwürdigerweise mit unendlicher Vollkommenheit des geistigen Lebens in seiner Seele. Wie in rückläufiger Entwickelung machte Jesus von Nazareth in sich selbst alles dasjenige wieder durch, was das jüdische Volk durchgemacht hatte, und er arbeitete sich hinauf bis zu dem Punkte, daß seine Seele verspürte: Die große Bath-Kol spricht wieder zu mir. Unmittelbar aus der geistigen Welt vernehme ich die Stimme, die einmal die Propheten empfangen haben. Und wie es bei solch innerer Entwickelung geht, so war es auch bei Jesus: diese innere Entwickelung war verbunden mit dem tiefsten seelischen Schmerz und Leid. Die höchsten Erkenntnisse erwirbt man sich nicht ohne Schmerz und Leid. Namentlich war es eines, das sich wie ein furchtbarer Schmerz ablagerte in der Seele des Jesus, als er sich sagte: Einmal hat gesprochen die große Bath-Kol die wunderbarsten Offenbarungen zu dem jüdischen Volk. Heute ist das jüdische Volk da, aber wenn die große Bath-Kol heute zu ihm sprechen würde, es wäre niemand da, sie zu hören. Die Schriften verstehen sie, die lebendige Schrift aber verstehen sie nicht mehr. – Einsam war er in sich; eine ungeheure Traurigkeit kam über seine Seele, über dasjenige, was aus seinem Volk geworden war in der herabgehenden Entwickelung der Menschheit. [7]

Dann kam die Zeit, wo hinausgeschickt werden sollte in die Welt Jesus von Nazareth. Er wanderte, indem er sein Handwerk da und dort betrieb, in den verschiedensten Gegenden umher, sowohl in Palästina als auch außerhalb Palästinas, in heidnischen Gegenden. Das, was der Schmerz in seiner Seele verrichtet hatte, das hatte sich umgewandelt in etwas wie Liebe, die man unmittelbar in seiner Gegenwart von ihm ausströmen fühlte. Wenn er so am Abend, nachdem er die Arbeit verrichtet hatte, bei den Menschen war, die er besuchte, mit ihnen zusammensaß, so fühlten sie, wie eine Atmosphäre von Liebe mit seinen Worten, aber auch durch seine bloße Anwesenheit, auf sie überging. Das Liebedurchtränkte, was er mit ihnen sprechen konnte, das machte den tiefsten Eindruck auf die Leute, und wenn er weggegangen war, anderswo zu arbeiten, so blieb bei den Leuten, die er verlassen hatte, etwas wie die allerlebendigste Erinnerung an ihn zurück. Oftmals kam es vor, daß Jesus von Nazareth schon drei oder vier Wochen weg war, da hatten die Leute, die er vor drei bis vier Wochen verlassen hatte, die gemeinsame Vision, daß er wiederum zu ihnen hereinträte und mit ihnen sprach – die Vision sprach mit ihnen. So tief war der Eindruck, daß er im Grunde genommen bei ihnen geblieben war. So drückte sich das, was Jesus von Nazareth war, in Hundert und Aberhundert von Seelen ein, da er herumwanderte in seinem 18. bis 24. Jahr. [8]

Wie gesagt, es war eine Vision in bezug auf das Subjektive; in bezug auf das Objektive war es die ungeheure Wirkung der Liebe, die er in der geschilderten Weise geäußert hatte, und die sich so äußerte, daß der Ort seiner Erscheinung in gewisser Weise nicht mehr an den äußeren physischen Raum gebunden war, an die äußeren physischen Raumverhältnisse des menschlichen physischen Leibes gebunden war. Es wirkt ungeheuer stark zum Verständnis der Jesus-Gestalt, dieses immer wieder und wiederum zu sehen, wie er unauslöschlich bei denjenigen ist, bei denen er einmal eingekehrt war, wie er gewissermaßen geistig bei ihnen blieb und wiederum zu ihnen zurückkehrte. Unter denen er einmal war, die verloren ihn nicht wiederum aus ihren Herzen heraus. [9]

Teilweise veranlaßt durch sein Handwerk, teilweise durch andere Umstände, machte Jesus viele Reisen. Auf diesen Reisen lernte er mannigfache Gegenden Palästinas kennen, und auch wohl manche Orte außerhalb Palästinas. Nun verbreitete sich in jener Zeit – das kann man ganz genau sehen, wenn man die Akasha-Chronik hellseherisch durchdringt über die Gegenden Vorderasiens, ja sogar auch des südlichen Europas, ein asiatischer Kultus, der aus mancherlei anderen Kulten zusammengemischt war, der aber namentlich den Mithraskultus darstellte (siehe: Mithras-Mysterien). An vielen Orten der verschiedensten Gegenden waren Tempel für den Mithrasdienst. An manchen Orten hatte er mehr Ähnlichkeit mit dem Attisdienst, aber im wesentlichen war es Mithrasdienst, Tempel, Kultstätten waren es, in denen man überall die Mithrasopfer und Attisopfer verrichtete. Es war gewissermaßen ein altes Heidentum, aber in einer gewissen Art durchdrungen von den Gebräuchen, Zeremonien des Mithras- oder Attisdienstes. Wie sehr sich das verbreitete auch über die italienische Halbinsel, geht zum Beispiel daraus hervor, daß die Peterskirche in Rom an derselben Stelle steht, wo einstmals eine solche Kultstätte war (sie wurde vor einigen Jahren ausgegraben). Ja, man muß auch das für manche Katholiken lästerliche Wort ausprechen: Der Zeremoniendienst der Peterskirche und alles dessen, was sich davon ableitet, ist in bezug auf die äußere Form gar nicht unähnlich dem Kult des alten Attisdienstes, der verrichtet wurde in dem Tempel, der damals auf derselben Stelle stand, auf deren Stätte die Peterskirche steht. Und der Kultus der katholischen Kirche ist in vieler Beziehung nur eine Fortsetzung des alten Mithraskultus.

Was an solchen Kultstätten vorhanden war, das lernte Jesus von Nazareth kennen, als er begann herumzuwandern. Er lernte, wenn wir so sagen dürfen, auf diese Weise durch äußere, physische Anschauung die Seele der Heiden kennen. Und es war dazumal in seiner Seele wie auf eine natürliche Weise durch den gewaltigen Vorgang des Überganges des Zarathustra-Ich in seine Seele dasjenige in einem hohen Grade ausgebildet, was andere sich nur mühsam aneignen konnten, was aber bei ihm naturgemäß ausgebildet war: eine hohe hellseherische Kraft. Daher erlebte er, wenn er bei solchen Kulten zuschaute, etwas ganz anderes als die übrigen Zuschauer. Manches erschütternde Ereignis hat er dort erlebt. Wenn an manchen heidnischen Altären der Priester den Kult verrichtete und sich Jesus dann mit seinen hellseherischen Kräften das Opfer anschaute, er sah, wie durch die Opferhandlung mancherlei dämonische Wesen herangezogen wurden. Er machte auch die Entdeckung, daß manches Götzenbild, das da angebetet wurde, das Abbild war nicht von guten geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien, sondern von bösen, dämonischen Mächten. Ja, er machte weiter die Entdeckung, daß diese bösen, dämonischen Mächte vielfach übergingen in die Glaubenden, in die Bekenner, die an solchen Kultushandlungen teilnahmen. Aus leicht begreiflichen Gründen sind diese Dinge nicht in die vier Evangelien übergegangen. [10]

Diese Wanderungen dauerten fort bis ins 24. Jahr hinein. Es waren immer Bitternisse, die er in seiner Seele empfand, wenn er also das Walten sah der Dämonen, der gleichsam von Luzifer und Ahriman hervorgebrachten Dämonen, und sah, wie das Heidentum es in vieler Beziehung sogar so weit gebracht hatte, die Dämonen für Götter hinzunehmen, ja sogar in den Götzenabbildungen Bilder zu haben wilder dämonischer Mächte, die angezogen wurden von diesen Bildern, von diesen Kultushandlungen, und in die betenden Menschen übergingen, die betenden Menschen, die in gutem Glauben daran teilnahmen, von sich besessen machten.

Es waren bittere Erfahrungen, die Jesus von Nazareth so machen mußte. Und diese Erfahrungen kamen zum Abschluß etwa im 24. Lebensjahre. Ich muß, da ich ja dieses Erlebnis des Jesus von Nazareth auch zu erzählen habe, sagen, daß ich heute noch nicht in der Lage bin anzugeben, an welchem Orte seiner Reisen sich dieses Ereignis zugetragen hat. Die Szene selbst in einem hohen Grade richtig zu entziffern war mir möglich. Es scheint mir aber, daß diese Szene sich zugetragen hat bei einer Wanderung des Jesus außerhalb Palästinas. An einen Ort also kam Jesus von Nazareth, im 24. Jahre seines Lebens, wo eine heidnische Kultstätte war, an der einer bestimmten Gottheit geopfert wurde. Ringsherum aber war nur trauriges, von allerlei furchtbaren seelischen und bis ins Körperliche gehenden Krankheiten behaftetes Volk. Von den Priestern war die Kultstätte längst verlassen worden. Und Jesus hörte das Volk jammern: Die Priester haben uns verlassen, die Segnungen des Opfers kommen nicht auf uns hernieder und wir sind aussätzig und krank, wir sind mühselig und beladen, weil uns die Priester verlassen haben. – Jesus sah mit tiefem Schmerze diese armen Menschen; es jammerte ihn dieses bedrückte Volk und eine unendliche Liebe zu diesen Bedrückten flammte in seiner Seele auf. Es muß von dieser unendlichen Liebe, die auflebte in seiner Seele, das Volk ringsherum etwas gemerkt haben. Und nun entstand, man möchte sagen wie auf einen Schlag, in den Herzen der meisten dieses Volkes etwas, was darin zum Ausdruck kam, daß die Leute sagten, erkennend den Ausdruck der unendlichen Liebe auf dem Antlitz des Jesus: Du bist der neue uns gesandte Priester. – Sie drängten ihn zum Opferaltar hin, sie stellten ihn auf den heidnischen Altar. Und er stand auf dem heidnischen Altar, und sie erwarteten, ja sie verlangten von ihm, daß er die Opfer verrichte, damit der Segen ihres Gottes wieder über sie komme. Und während das geschah, da fiel er wie tot hin, seine Seele wurde wie entrückt, und das Volk sah das Furchtbare, daß derselbe, den es für den neuen, vom Himmel gesandten Priester gehalten hatte, wie tot hingefallen war. Die entrückte Seele des Jesus aber, sie fühlte sich erhoben in die geistigen Reiche, sie fühlte sich wie hineinversetzt in den Bereich des Sonnendaseins. [11]

Aber jetzt zeigte sich ihm, wie in lebhaften Imaginationen, das ganze Rätsel vom Herabstiege auch der heidnischen Geistepoche. Er konnte jetzt unmittelbar wahrnehmen, was in die Geheimnisse der heidnischen Mysterien eingeflossen war, was in den heidnischen Mysterien gelebt hatte: daß die Kräfte hoher göttlicher Wesenheiten auf die Opferaltäre herabgeflossen waren. Jetzt aber strömten statt der Kräfte der guten Geister allerlei Dämonen, Sendboten des Luzifer und Ahriman, auf die heiligen Altäre herab. Nicht so innerlich durch Erleuchtung wie beim Judentum, sondern wie in äußeren Visionen, nahm er den Verfall des heidnischen Geisteslebens wahr. Es ist noch etwas anderes, sozusagen die Dinge theoretisch kennenzulernen, als zu schauen, wie auf einen Opferaltar, auf den einstmals göttlich-geistige Kräfte herabgeflossen waren, jetzt Dämonen herabstiegen, die abnorme Seelenzustände, Krankheiten und so weiter bewirken. Jesus hatte, während er so wie entrückt war in die geistige Welt, den Eindruck von alledem, was einstmals die Uroffenbarungen zu den Heiden gesprochen hatten. Und so wie er die Geheimnisse vernommen hatte, die den alten Propheten verkündet worden waren und die jetzt nicht einmal mehr wie ein Schatten in der jüdischen Kultur lebten, so konnte er jetzt durch geistige Inspiration hören, in welcher Art diese Geheimnisse den Heiden verkündet worden waren. [12]

Er schaute am Altare und unter der Volksmenge, die um ihn herum sich immer zahlreicher versammelte, das, was man Dämonen nennen kann, und er erkannte, was diese Dämonen zu bedeuten hatten. Er erkannte, wie allmählich die heidnischen Opfer übergegangen waren in etwas, was solche Dämonen magisch herbeizog. Und so waren, als Jesus an den Altar gekommen war, nicht nur die Menschen herbeigekommen, sondern auch die Dämonen, die sich bei den früheren Opferhandlungen an dem Altar versammelt hatten. Denn dieses erkannte er: daß zwar solche heidnischen Opferhandlungen abstammten von dem, was in den alten Heidenzeiten und an guten Kultstätten den wahren Göttern, soweit sie für die Heidenzeit erkennbar waren, an Opfertaten verrichtet werden konnten, daß aber diese Opfer nach und nach in Verfall gekommen waren. Es waren die Geheimnisse ausgeartet, und statt daß die Opfer zu den Göttern strömten, zogen diese Opfer und das, was an Gedanken in den Priestern lebte, Dämonen herbei, luziferische und ahrimanische Gewalten, die er jetzt wiederum um sich sah, nachdem er in den anderen Bewußtseinszustand versetzt war. Und als die um ihn herum Versammelten gesehen hatten, wie er in diesen anderen Bewußtseinszustand versetzt war und deshalb hinfiel, da ergriffen sie die Flucht. Die Dämonen aber blieben. Auf eine noch eindringlichere Art als der Verfall der alten hebräischen Lehre war so vor die Seele des Jesus von Nazareth der Verfall der heidnischen Mysterien getreten. Stellen Sie sich diese Seelenerlebnisse vor, diese Art zu erfahren, was aus der Wirkung der alten Götter und dem Verkehr der Menschen mit den alten Göttern geworden war; stellen Sie sich die Empfindung vor, die auf diese Weise erzeugt wird: Die Menschheit muß dürsten nach Neuem, denn sie wird elend in ihren Seelen, wenn nichts Neues kommt! [13]

Und jetzt hörte seine Seele, wie aus den Sphären des Sonnendaseins heraus-klingend, Worte, wie diese Seele sie früher durch die Bath-Kol oftmals vernommen hatte. Aber jetzt war die Bath-Kol verwandelt, zu etwas völlig anderem geworden. Die Stimme kam ihm auch von ganz anderer Richtung her. Es vernahm Jesus von Nazareth die Worte:

Amen
Es walten die Übel
Zeugen sich lösender Ichheit
Von andern erschuldete Selbstheitschuld
Erlebet im täglichen Brote
In dem nicht waltet der Himmel Wille
Da der Mensch sich schied von Eurem Reich
Und vergaß Euren Namen
Ihr Väter in den Himmeln.

Nicht anders als so kann ich in die deutsche Sprache übersetzen dasjenige, was wie die verwandelte Stimme der Bath-Kol dazumal von Jesus von Nazareth vernommen worden ist. Es waren diese Worte, welche die Seele des Jesus zurückbrachte, als sie aus der Betäubung wieder erwachte, durch die sie sich entrückt fühlte. Und als Jesus wieder zu sich gekommen war, und die Augen rings herum richtete auf die Menge der Mühseligen und Beladenen, die ihn auf den Altar erhoben hatten, da war diese entflohen. Und als er den hellsichtigen Blick in die Ferne schweifen ließ, konnte er ihn nur richten auf eine Schar von dämonischen Gestalten, von dämonischen Wesen, die alle mit diesen Leuten verbunden waren. Kennenlernen mußte diese Seele die Abgründe der Menschennatur schon in so jungen Jahren. Wie es aber immer so ist, daß man gewisse Stufen der höheren Erkenntnis nur dadurch erreicht, indem man die Abgründe des Lebens kennenlernt, so war es in einer gewissen Weise auch bei Jesus von Nazareth, daß er an einer Stelle, die ich auch nicht weiß – um sein 24. Lebensjahr herum dadurch, daß er so unendlich tief in die menschlichen Seelen hineingeschaut, in Seelen, in die wie hineinkonzentriert war aller Seelenjammer der Menschheit der damaligen Zeit, auch besonders vertieft worden war in der Weisheit, die allerdings wie glühendes Eisen die Seele durchzieht, aber auch die Seele so hellsichtig macht, daß sie durchschauen kann die lichten Geistesweiten. Und dadurch, daß er die umgewandelte Stimme der Bath-Kol vernommen hatte, war er auch wie umgewandelt. So war er in verhältnismäßig jungen Jahren behaftet mit dem ruhigen, eindringlichen Geistesleseblick. Jesus konnte so in die Geheimnisse des Lebens schauen wie bisher niemand auf der Erde, weil niemand vorher so wie er betrachten konnte, bis zu welchem Grade menschliches Elend sich steigern kann. So war Jesus von Nazareth nicht nur ausgestattet mit dem Blick, mit dem Wissen des Weisen, sondern in gewisser Weise durch das Leben ein Eingeweihter geworden. Das lernten kennen Leute, die in jener Zeit zusammengetreten waren in einen gewissen Orden, der ja der Welt bekannt ist als der Essäerorden. [14]

Als der Jesus von Nazareth von dieser Wanderung nach Hause kam, war es ungefähr um die Zeit – so stellt es uns die spirituelle Forschung vor –, in welcher der Vater des Jesus von Nazareth gestorben war. In den folgenden Jahren dann, so vom 24. Jahre bis zu der Zeit, die gekennzeichnet wird als die der Johannestaufe im Jordan, machte der Jesus von Nazareth Bekanntschaft mit dem, was man die Essäerlehre und die Essäergemeinschaft nennen kann. Die Essäer waren eine Gemeinschaft, die ihren Sitz in einem Tale Palästinas aufgeschlagen hatte. Der Zentralsitz war einsam gelegen. Aber die Essäer hatten überall Niederlassungen; auch in Nazareth war etwas wie eine Art Niederlassung. [15]

In Nazareth gab es durch Schenkung eine Niederlassung des Essäerordens, und dadurch war gerade in den Gesichtskreis des Jesus von Nazareth dasjenige gekommen, was der Essäerorden war. In dem Zentrum des Ordens bekam man Kunde von der tiefen Weisheit, die sich in der beschriebenen Art in der Seele des Jesus von Nazareth gesenkt hatte, und gerade unter den Bedeutendsten, Weisesten der Essäer entstand eine gewisse Stimmung. Es hatte sich unter ihnen herausgebildet eine gewisse prophetische Anschauung: Wenn die Welt ihren richtigen Fortgang nehmen sollte, dann müsse eine besonders weise Seele erstehen, die wie eine Art Messias wirken müsse. Deshalb hatten sie Umschau gehalten, wo besonders weise Seelen wären. Und sie waren tief berührt, als sie Kunde erhielten von jener tiefen Weisheit, die in der Seele des Jesus entstanden war.

Daher war es kein Wunder, daß die Essäer, ohne daß Jesus von Nazareth die Erprobung der niederen Grade durchzumachen hatte, ihn aufnahmen wie einen Externisten in ihre Gemeinschaft – ich will nicht sagen in den Orden selber – und daß in einer gewissen Weise zutraulich, offenherzig wurden selbst die weisesten Essäer in bezug auf ihre Geheimnisse gegenüber diesem weisen, jungen Menschen. In der Tat hörte in diesem Essäerorden der junge Jesus viel, viel Tieferes über die Geheimnisse, die vom Hebräertum bewahrt worden waren, als von den Schriftgelehrten im Hause seines Vaters. Manches auch hörte er, was er schon selber früher durch die Bath-Kol wie durch eine Erleuchtung in seiner Seele aufglänzend vernommen hatte. Und er lernte kennen in seinem Verkehr mit den Essäern fast alles, was der Essäerorden zu geben hatte. Denn was ihm nicht durch Worte mitgeteilt wurde, das stellte sich ihm dar durch allerlei hellsichtige Impressionen. Wichtige hellsichtige Impressionen hatte Jesus entweder innerhalb der Gemeinschaft der Essäer selber oder einige Zeit darauf in Nazareth zu Hause, wo er in einem mehr beschaulichen Leben auf sich wirken ließ, was in seiner Seele sich hereindrängte aus Kräften, die ihm gekommen waren, von denen die Essäer nichts ahnten, die aber als Folge der mit den Essäer geführten bedeutsamen Gespräche in seiner Seele erlebt wurden. [16]

Jesus durfte sogar an der Zentralstätte der Essäer, soweit das überhaupt nur irgend möglich war innerhalb der strengen Regeln des Essäerordens, die Räumlichkeiten, die heiligsten, einsamsten Räumlichkeiten betreten, durfte Gespräche mit den Essäern pflegen, die sie sonst nur untereinander pflegten. Er konnte sich dabei einweihen in das, was tiefste Ordensregeln der Essäer waren. So lernte er erkennen, wie der einzelne Essäer fühlte und strebte und lebte, und er lernte vor allem empfinden was als äußerste Möglichkeit für eine Seele seiner Zeit bestand, um durch Vervollkommnung wieder heranzudringen zu der uralt heiligen Offenbarung. [17]

Eines von diesen Erlebnissen, von den inneren Impressionen muß besonders hervorgehoben werden, weil es hineinleuchten kann in den ganzen geistigen Gang der Menschheitsentwickelung. Es war eine gewaltige, bedeutsame Vision, die wie eine Art Entrückung Jesus von Nazareth hatte, in der ihm Buddha wie in unmittelbarer Gegenwart erschien. Ja, der Buddha erschien dem Jesus als Folge des Ideenaustausches mit den Essäern. In diesem bedeutsamen Geistgespräch erfuhr Jesus von dem Buddha, daß dieser etwa sagte: Wenn meine Lehre so, wie ich sie gelehrt habe, völlig in Erfüllung gehen würde, dann müßten alle Menschen den Essäern gleich werden. Das aber kann nicht sein. Das war der Irrtum in meiner Lehre. Auch die Essäer können sich nur weiter fortbringen, indem sie sich aussondern von der übrigen Menschheit; für sie müssen übrige Menschenseelen da sein.

Ein anderes Erlebnis war dieses, daß Jesus die Bekanntschaft machte mit einem auch noch jüngeren Manne, mit einem fast gleichaltrigen Manne, der nahegetreten war, allerdings in einer ganz anderen Weise als Jesus, dem Essäerorden, der aber trotzdem auch nicht ganz Essäer geworden ist. Es war der, man möchte sagen, wie ein Laienbruder innerhalb der Essäergemeinschaft lebende (kommende) Johannes der Täufer. Er trug sich wie die Essäer, denn diese trugen im Winter Kleider von Kamelhaar. Aber er hatte niemals die Lehre des Judentums vollständig in sich auswechseln können mit der Lehre der Essäer. Da aber die Lehre der Essäer, das ganze Leben der Essäer auf ihn einen großen Eindruck machte, lebte er als Laienbruder das Essäerleben, ließ sich anregen, ließ sich allmählich inspirieren und kam nach und nach zu dem, was ja von Johannes dem Täufer in den Evangelien erzählt ist. Viele Gespräche fanden statt zwischen Jesus und Johannes. Da geschah es eines Tages, daß Jesus von Nazareth, während er mit Johannes sprach, wie verschwunden vor sich sah die physische Leiblichkeit des (künftigen) Täufers und die Vision des Elias hatte. Das war das zweite wichtige Seelenerlebnis innerhalb der Gemeinschaft des Essäerordens (siehe auch: Johannes der Täufer). [18]

Da gab es aber noch andere Erlebnisse. Schon seit längerer Zeit hatte Jesus etwas besonderes beobachten können: Wenn er an Orte kam, wo Essäertore waren, wo bildlose Tore waren, da konnte Jesus von Nazareth durch solche Tore nicht schreiten, ohne wiederum eine bittere Erfahrung zu machen. Er sah diese bildlosen Tore, aber für ihn waren geistige Bilder an diesen Toren. Und allmählich hatte sich ihm das Gefühl, der Eindruck in der Seele befestigt, daß die Abneigung der Essäer gegen die Torbilder etwas zu tun haben müsse mit dem Herbeizaubern solcher geistiger Wesenheiten, wie er sie an den Toren erschaute, daß Bilder an den Toren, Abbilder von Luzifer und Ahriman seien. So hatte Jesus durchs Leben getragen die beiden Bilder von Luzifer und Ahriman, die er oftmals gesehen hatte an den Toren der Essäer. Es hatte zunächst nichts anderes bewirkt, als daß ihm bewußt wurde, daß ein Geheimnis walte zwischen diesen geistigen Wesenheiten und den Essäern. Und die Wirkung, die das auf seine Seele ausübte, trug sich hinein in die Verständigung mit den Essäern; man konnte sich seit diesen Erlebnissen in der Seele des Jesus von Nazareth nicht mehr so gut gegenseitig verstehen. Denn es lebte in seiner Seele etwas, von dem er nicht sprechen konnte gegenüber den Essäern, weil sich jedesmal etwas wie in der Rede verschlug, denn immer stellte sich dazwischen, was er an Essäertoren erlebt hatte. Eines Tages, als nach einer besonders wichtigen, bedeutsamen Unterredung, in der vieles Höchste, Geistige zur Sprache gekommen war, Jesus von Nazareth das Tor des Hauptgebäudes der Essäer verließ, da traf er, indem er durch das Tor ging, auf die Gestalten, von denen er wußte, daß sie Luzifer und Ahriman waren. Und er sah fliehen Luzifer und Ahriman von dem Tore des Essäerklosters. Mit tiefer elementarer Gewalt drängte sich herauf in seine Seele die Frage: Wohin fliehen diese, wohin fliehen Luzifer und Ahriman? – Denn er wußte, die Heiligkeit des Klosters der Essäer hatte sie zum Fliehen gebracht. Da brannte in seiner Seele die Frage. Wohin fliehen Luzifer und Ahriman? [19]

In dem ganzen System der Essäervervollkommnung spielte das eine gewisse Rolle, daß der Essäer durch kein Tor gehen durfte, an dem ein Bildnis angebracht war, denn es war so, daß nichts von Legendenhaftem, Mythischem oder Religiösem im Bilde dargestellt werden durfte. Das Luziferische der Bildimpulse wollte der Essäer dadurch fliehen. Es ging ihm auf ein auf seine Seele ungeheuer bedrückend wirkender Zusammenhang: Wohin fliehen denn Luzifer und Ahriman, sagte er sich, wenn sie von den Toren der Essäer wegfliehen? Sie fliehen dahin, wo die Seelen der anderen Menschen sind! Dazu also hatte es die Menschheit gebracht, daß eine Gemeinschaft sich aussondern muß, wenn sie den Zusammenhang mit der göttlich-geistigen Welt finden will. Und weil sie sich so aussondert, daß sie sich in ihrem ganzen sozialen Zusammenhalt nur entwickeln kann, indem sie die anderen Menschen von sich ausschließt, verurteilt sie die anderen Menschen, gerade um so tiefer in das hineinzusinken, was sie, diese Essäergemeinschaft, floh. Dadurch, daß die Gemeinschaft der Essäer stieg, mußten die anderen um so mehr fallen! Dadurch, daß der Essäer ein Leben führte, welches Luzifer und Ahriman nicht mit ihm in Berührung kommen ließ, konnten Ahriman und Luzifer gerade versuchend und verlockend zu den anderen Menschen hinkommen. So leben wir in einer Zeit – das trat bitter vor seine Seele –, in welcher jene, die den Zusammenhang mit dem Göttlich-Geistigen suchen, in enger Gemeinschaft und auf Kosten der anderen Menschen dieses tun müssen. So leben wir in einer Zeit, in welcher der Schrei der Sehnsucht ist nach einem solchen Zusammenhange mit der göttlich-geistigen Welt, der allen Menschen werden kann. [20]

Was man aus der Betrachtung der Akasha-Chronik auf diesem Gebiete gewinnt, das ist die Erkenntnis, daß hier durch innere seelische Erfahrung etwas erlitten worden ist, was von keiner anderen Seele auf der Erde jemals hat erlitten werden können. Je höher das Geistig-Seelische steht, desto mehr kann es leiden unter geistig-seelischen Eindrücken. [21] Die Zarathustra-Wesenheit litt in diesen Jahren unter dem Erleben dessen, daß die alten Offenbarungen unmöglich geworden sind für dasjenige, was die Menschenseele in der neueren Zeit braucht. Das war zunächst das unendliche Leiden, das mit keinem Leiden der Erde zu vergleichen ist. [22]

Es war der Jesus von Nazareth nach und nach durch die charakterisierten Erlebnisse allerdings umgewandelt worden, so daß unendliche Weisheit sich in seinem Antlitz ausprägte. Aber er war auch, wie das ja immer, wenn auch in geringerem Grade der Fall ist, wenn die Weisheit in einer Menschenseele zunimmt, zu einer gewissen inneren Traurigkeit gekommen. Die Weisheit hatte ihm zunächst die Frucht gebracht, daß der Blick, den er wenden konnte in seine menschliche Umgebung, ihn eigentlich recht traurig machte. Er mußte daran denken, wie er in den ersten Zeiten nach seinem 12. Jahre gewissermaßen nur den unendlichen Reichtum dieser Zarathustra-Seele in sich gefühlt hatte. Er wußte ja am Ende der Zwanzigerjahre noch nicht, daß er der wiederverkörperte Zarathustra war; aber er wußte, daß ein großer, gewaltiger Umschwung in seiner Seele in seinem 12. Jahre vor sich gegangen war. Und jetzt hatte er oftmals das Gefühl: Ach, wie war es doch anders mit mir vor diesem Umschwung in meinem 12. Jahre! – Er fühlte, wenn er jetzt zurückdachte an diese Zeit, wie unendlich warm es dazumal in seinem Gemüte war. Er war ja als (nathanischer Jesus-)Knabe ganz weltentrückt gewesen. Da hatte er zwar gehabt die lebhafteste Empfindung für alles, was aus der Natur heraus zum Menschen spricht, für alle Herrlichkeit und Größe der Natur, aber er hatte wenig Anlage für dasjenige, was menschliche Weisheit, menschliches Wissen sich angeeignet hatte. Und dann war es so, wie wenn nach diesem Moment im Tempel zu Jerusalem in seinem 12. Jahre dies alles aus seiner Seele herausgestürmt und dafür alle Weisheit hineingeströmt wäre. [23]

Er fühlte, in dem Menschlichen auf Erden hatte er gelebt seit seinem 12. Jahre. Und jetzt mußte er oftmals zurückdenken, wie er war vor diesem zwölften Jahre, wo er gleichsam sich mit den göttlichen Urgründen des Daseins verbunden fühlte, wo alles in ihm elementar und ursprünglich war, wo alles aus einem aufsprudelnden Leben, aus einem warmen, liebenden Gemüte kam und ihn innig zusammenschloß mit anderen Menschenseelen, während er jetzt vereinsamt und allein und schweigsam geworden war. Alle diese Gefühle waren es, die zustande brachten, daß ein ganz bestimmtes Gespräch stattgefunden hat zwischen ihm und der Persönlichkeit, die ihm Mutter geworden war. Seinen inneren Zwiespalt hatte er bisher auch dieser Mutter verschwiegen, so daß sie nur das Schöne und Große gesehen hatte. Sie hatte nur gesehen, wie er immer weiser und weiser wurde, wie er immer tiefer eindrang in die ganze Menschheitsevolution. Deshalb war von demjenigen, was wie eine Art Generalbeichte mit diesem Gespräch stattfand, vieles neu für sie, aber sie nahm es auf mit innigem, warmen Herzen. Es war in ihr wie ein unmittelbares Verstehen für seine Traurigkeit, seine Gefühlsstimmung, dessen, daß er sich zurücksehnte zu dem, was er in sich hatte vor seinem 12. Jahre. Deshalb suchte sie ihn zu erheben und zu trösten. Sie erinnerte ihn an all das, was ihr durch ihn bekanntgeworden war von der Wiedererneuerung der großen Lehren, Weisheitssprüchen und Gesetzesschätze des Judentums. Es wurde ihm aber nur immer schwerer ums Herz, wenn er so die Mutter sprechen hörte, so schätzend das, was er innerlich doch eigentlich als überwunden fühlte. Und endlich erwiderte er: Ja, das mag alles sein. Aber ob durch mich oder durch einen anderen heute erneuert werden können all die alten, herrlichen Weisheitsschätze des Judentums, was hätte das alles für eine Bedeutung für die Menschheit? Es ist im Grunde doch alles bedeutungslos, was in solcher Art zutage tritt. Selbst wenn Elias heute käme – so sagte Jesus von Nazareth – und unserer Menschheit verkünden wollte dasjenige, was er als Bestes erfahren hat in den Himmelsweiten: es sind ja nicht die Menschen da, die Ohren hätten zu hören die Weisheit des Elias, der älteren Propheten, auch des Moses, ja bis Abraham hinauf. Alles, was diese Propheten verkündeten, wäre heute zu künden unmöglich. Ihre Worte würden ungehört im Winde verhallen! Und so ist ja alles, was ich in meiner Seele halte, wertlos. So sprach Jesus und er wies darauf hin, wie vor kurzem erst eines wahrhaft großen Lehrers Worte im Grunde genommen verklungen seien, ohne eine große Wirkung zu hinterlassen. Jesus wußte, wie wenig die innigen Worte, die der alte Hillel (75–4 n. Chr.) gesprochen hatte, Eingang gefunden hatten in die Herzen und Seelen. [24]

Als Jesus von Nazareth solches erlebte, konnte er erfahren wie seine Stief- oder Ziehmutter immer mehr und mehr Verständnis faßte für sein inneres Leben. Namentlich seit dem Tode des Vaters war dies der Fall. Und während in früheren Jahren Jesus ganz allein und einsam in der Familie war, entwickelte sich in dieser Zeit so manches Gespräch mit der Mutter, in dem Jesus von Nazareth sprechen konnte von dem, was er in seiner einsamen Seele erlebte. Und es kam zu (diesem) großen entscheidenden Gespräch im 30. Jahre seines Lebens. [25] So kam es im Verlaufe dieses Gesprächs, daß es klar vor Jesus’ Seele stand, an welchem Punkte die Menschheitsentwickelung angelangt war. Jetzt dämmerte in ihm auf ein immer deutlicheres Bewußtsein, daß die Zarathustra-Seele in ihm war. So fühlte er, wie er als Zarathustra die damalige Menschheitsentwickelung mitgemacht hatte. [26]

Viel sprach er mit seiner Mutter über die Größe und Glorie des alten Heidentums, von dem, was in den alten Mysterien der Völker lebte; wie zusammengeflossen waren die einzelnen Mysteriendienste Vorderasiens und Südeuropas in diesem Mithrasdienst. Aber zugleich trug er in seiner Seele die furchtbare Empfindung: wie sich nach und nach dieser Dienst gewandelt hatte und gekommen war unter dämonische Gewalten, die er selber erlebt hatte ungefähr in seinem 24. Lebensjahre. Und da erschien ihm auch die alte Zarathustra-Lehre wie etwas, wofür die Menschen der heutigen Zeit nicht mehr empfänglich sind. Und unter diesem Eindruck sprach er zu seiner Mutter das zweite bedeutsame Wort: Wenn auch erneuert würden die alten Mysterien und Kulte, und alles das hineinflösse, was einstmals groß war in den Mysterien des Heidentums, es sind, dies zu vernehmen, die Menschen nicht mehr da! All das ist nutzlos. Und dann sprach er von dem, was er im Kreise der Essäer in sich aufgenommen hatte.

Er wußte jetzt: Weder auf Juden- noch auf Heidenweise noch auf Essäerweise war der allgemeinen Menschheit der Zusammenhang mit der göttlich-geistigen Welt zu bringen. Dies Wort schlug furchtbar ein in die Seele der liebenden Mutter. Er war während dieses ganzen Gespräches vereinigt mit ihr, wie eins mit ihr. Die ganze Seele, das ganze Ich des Jesus von Nazareth lag in diesen Worten. [27]

Es war in einer eigentümlichen Art, wie er das erzählte. Denn nicht nur gingen seine Worte hinüber zur Mutter, sondern die Worte flossen zum Herzen der Mutter hinüber wie lebendige Wesen. Es ist wirklich so, wie wenn alles, was in der Seele des Jesus von Nazareth lebte, während dieses Gespräches in die Seele der Mutter hinübergegangen wäre. Und es war auch für ihn so, denn Merkwürdiges enthüllt uns geheimnisvoll hier der Blick in die Akasha-Chronik. Der Jesus erzählte so, daß seine Worte, indem sie sich ihm entrangen und indem sie hinüberzogen in Herz und Seele der Mutter, immer ein Stück seines eigenen Ichs mit hinübernahmen. Man könnte sagen: Auf den Flügeln seiner Worte ging sein eigenes Ich wie hinüber zur Mutter, aber ohne daß es als solches eigentliches Ich in die Mutter hinüberging, die sich nur durch diese Worte wie belebt fühlte. Denn das Merkwürdige geschah jetzt, daß durch die Wirkung dieses Gespräches die Seele jener Mutter, welche die leibliche Mutter des nathanischen Jesus war, aus der geistigen Welt herunterkam und sich mit der Seele der Stief- oder Ziehmutter verband. Es war wie eine Art Wiedergeburt zur Jungfräulichkeit, was hier stattgefunden hat, (sodaß) jetzt weiterhin die Stiefmutter eigentlich nur als Hülle derjenigen Mutter herumwandelt, welche die Zeit von Jesu 12. bis 30. Jahre in der geistigen Welt zugebracht hat. [28] Der ganze furchtbare Schmerz, das furchtbare Leid des Jesus, das aus seiner Seele sich losrang, ergoß sich hinein in die Seele der Mutter und sie fühlte sich wie eins mit ihm. Jesus aber fühlte, als ob alles, was seit seinem 12. Jahre in ihm lebte, fortgegangen wäre während dieses Gespräches. Je mehr er davon sprach, desto mehr wurde die Mutter voll von all der Weisheit, die in ihm lebte. Und alle die Erlebnisse, die seit seinem 12. Jahre in ihm gelebt hatten, sie lebten jetzt auf in der Seele der liebenden Mutter! Aber von ihm waren sie wie hingeschwunden. Wie verwandelt war auch er seit jenem Gespräche, so verwandelt, daß die Brüder oder Stiefbrüder und die anderen Verwandten, die in seiner Umgebung waren, die Meinung bekamen, er hätte den Verstand verloren. Man sah ihn als einen Verlorenen an. Er ging in der Tat auch tagelang wie traumhaft im Hause umher. Das Zarathustra-Ich war eben dabei, diesen Leib des Jesus von Nazareth zu verlassen und in die geistige Welt überzugehen. Und ein letzter Entschluß entwand sich ihm: Wie durch einen inneren Drang, wie durch eine innere Notwendigkeit getrieben, bewegte er sich nach einigen Tagen wie mechanisch aus dem Hause fort, zu dem ihm schon bekannten Johannes dem Täufer hin, um von ihm die Taufe zu erlangen. Und dann fand jenes Ereignis statt in der Johannes-Taufe im Jordan: das Christus-Wesen senkte sich hinab in seinen Leib. Jesus war jetzt durchdrungen von dem Christus-Wesen. Seit jenem Gespräche mit seiner Mutter war gewichen das Ich des Zarathustra und dasjenige, was vorher gewesen war, was er (als nathanischer Jesus) vorher gewesen war, das war wiederum da, nur gewachsen, noch größer geworden. Und hinein in diesen Leib, der jetzt in sich trug die unendliche Tiefe des Gemütes, das Gefühl des Offenseins für unendliche Weiten, senkte sich der Christus. Die Mutter aber hatte auch ein neues Ich, das sich in sie hineinversenkt hatte, erlangt; sie war eine neue Persönlichkeit geworden. Es stellt sich dem Geistesforscher folgendes dar: In demselben Augenblicke, als diese Taufe im Jordan geschah, fühlte auch die Mutter etwas wie das Ende ihrer Verwandlung. Sie fühlte sich seitdem wie jene junge Mutter, die einstmals den Lukas-Jesusknaben geboren hatte. [29] Bei der Johannestaufe senkte sich wieder das Unsterbliche der ursprünglichen Mutter des nathanischen Jesus herab und verwandelte diejenige Mutter, die in dem Hause des nathanischen Joseph aufgenommen war, und machte sie wieder jungfräulich; so daß die Seele jener Mutter, die der Jesus verloren hatte, ihm bei der JohannesTaufe wiedergegeben wird. Diese Mutter, die ihm geblieben ist, birgt also in sich die Seele seiner ursprünglichen Mutter, die in der Bibel die «gebenedeite Maria» genannt wird (Lukas 1, 28). [30] (Fortsetzung siehe: Christus Leben).

Es ist nötig, ungeheure Kräfte zu haben, um seine Leiber so zu läutern, daß man sie lebensfähig verlassen kann. [31] Zarthustra selber inkarnierte sich bald nach dem Verlassen der drei Hüllen des Jesus von Nazareth; sein Ich verband sich mit dem Ätherleib des salomonischen Jesus, der bei dessen Tode von der Mutter des nathanischen Jesus mit hineingenommen worden war in die geistige Welt. [32]

Das Ich des Jesus von Nazareth hat ja die drei Hüllen bei der Johannestaufe verlassen; aber es ist doch ein Abbild dieses Ichs gleich einem Siegelabdruck verblieben in den drei Hüllen. Von diesen drei Leibern nimmt die Christus-Wesenheit Besitz, aber auch von noch etwas, das wie ein Abdruck des Jesus-Ichs zurückbleibt. So etwas wie eine Ich-Kopie des Jesus wird einverwoben vom 12., 13. und 14. Jahrhundert ab in solche Menschen, die nun zu sprechen beginnen von einem «inneren Christus». Meister Eckhart, Tauler, sie sprechen dann aus ihrer eigenen Erfahrung heraus wie (aus) einem Ich-Abdruck von Jesus von Nazareth. [33] (Siehe: Meister Jesus).

Zitate:

[1]  GA 152, Seite 171   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[2]  GA 148, Seite 57f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[3]  GA 148, Seite 59f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[4]  GA 148, Seite 122   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[5]  GA 148, Seite 223f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[6]  GA 148, Seite 225f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[7]  GA 152, Seite 140f   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[8]  GA 152, Seite 141f   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[9]  GA 148, Seite 227   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[10]  GA 148, Seite 60ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[11]  GA 148, Seite 62ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[12]  GA 148, Seite 291f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[13]  GA 148, Seite 125f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[14]  GA 148, Seite 64ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[15]  GA 148, Seite 127   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[16]  GA 148, Seite 68f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[17]  GA 148, Seite 129   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[18]  GA 148, Seite 69f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[19]  GA 148, Seite 70f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[20]  GA 148, Seite 129ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[21]  GA 148, Seite 132ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[22]  GA 148, Seite 134   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[23]  GA 148, Seite 74f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[24]  GA 148, Seite 76f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[25]  GA 152, Seite 145   (Ausgabe 1980, 176 Seiten)
[26]  GA 148, Seite 239   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[27]  GA 148, Seite 81ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[28]  GA 148, Seite 145f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[29]  GA 148, Seite 83ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[30]  GA 114, Seite 121   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[31]  GA 106, Seite 134   (Ausgabe 1978, 180 Seiten)
[32]  GA 264, Seite 231   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[33]  GA 104a, Seite 102f   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)

Quellen:

GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 106:  Ägyptische Mythen und Mysterien im Verhältnis zu den wirkenden Geisteskräften der Gegenwart (1908)
GA 114:  Das Lukas-Evangelium (1909)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 152:  Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)