Essäer

Sie waren Leute, welche eine Art Geheimdienst und Geheimlehre pflegten an bestimmten Orten Palästinas. Es war ein strenger Orden. Derjenige, der dem Orden beitreten wollte, mußte mindestens ein Jahr, zumeist aber mehrere Jahre strenge Probe durchmachen. Er mußte zeigen durch seine Aufführung, durch seine Gesittung, durch seinen Dienst gegenüber den höchsten geistigen Mächten, durch seinen Sinn für Gerechtigkeit, Menschengleichheit, durch seinen Sinn des Nichtachtens äußerer menschlicher Güter und dergleichen, daß er würdig war, eingeweiht zu werden. Wenn er dann aufgenommen wurde in den Orden, dann gab es verschiedene Grade, durch die man aufstieg zu jenem Essäerleben, das bestimmt war, mit einer gewissen Aus- und Absonderung von der übrigen Menschheit, in einer strengen klösterlichen Zucht und durch gewisse Reinheitsbestrebungen, durch die man alles Unwürdige körperlicher und seelischer Art beseitigen wollte, sich der geistigen Welt zu nähern. Das drückt sich schon in mancherlei symbolischen Gesetzen des Essäerordens aus. Die Entzifferung der Akasha-Chronik hat gezeigt, daß der Name Essäer kommt von oder jedenfalls zusammenhängt mit dem hebräischen Wort «Essin» oder «Assin». Und das bedeutet so etwas wie Schaufel, Schäufelchen, weil die Essäer als einziges symbolisches Zeichen stets eine kleine Schaufel als Abzeichen trugen, was sich in manchen Ordensgemeinschaften bis heute erhalten hat. In gewissen symbolischen Gepflogenheiten drückte sich auch das aus, was die Essäer wollten: daß sie keine Münzen bei sich tragen durften, daß sie nicht durch ein Tor gehen durften, das bemalt war oder in dessen Nähe Bilder waren. Und weil der Essäerorden in der damaligen Zeit in einer gewissen Weise auch äußerlich anerkannt war, hatte man in Jerusalem besondere Tore, unbemalte Tore gemacht, so daß auch sie in die Stadt gehen konnten. Denn wenn der Essäer an ein bemaltes Tor kam, mußte er immer wieder umkehren.

Im Orden selbst gab es alte Urkunden und Traditionen, über deren Inhalt die Mitglieder des Ordens streng schwiegen. Sie durften lehren, aber nur, was sie innerhalb des Ordens gelernt hatten. Jeder, der in den Orden eintrat, mußte sein Vermögen dem Orden abgeben. Die Zahl der Essäer war damals zur Zeit des Jesus von Nazareth eine sehr große, etwa 4–5000. Keiner wurde aufgenommen, der nicht alles schenkte, was den Essäern Gemeingut wurde. Der Essäer durfte mit dem Gute des Ordens alle bedürftigen und belasteten Leute unterstützen, nur diejenigen nicht, die seiner eigenen Familie angehörten. [1]

Sie pflegten das Leben der Seele dadurch, daß sie sich widmeten einem reinen Leben, einem Leben in Hingabe an die Weisheit, aber auch einem wohltätigen Leben in Liebe. Sie zogen in der Welt herum, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Ein Teil ihrer Lehre war die Heilung der Kranken. Heilend wirkten sie überall nach der Art der damaligen Zeit. Es galt diesen Essäern als Ideal die Seele zu vervollkommnen, um sie wieder zu einem Zusammenhang mit der geistigen Welt zu führen. Der Essäer versuchte alles, was man nennen kann luziferische und ahrimanische Verlockungen, von sich fernzuhalten.

Der Essäerorden, dessen erhabene Lehrer in Nazareth auch dem einen Jesusknaben, den wir den Jesus des Lukas-Evangelium (siehe: Jesus nathanischer) nennen, den Extrakt aller Weisheit, wie ihn gerade diese Wesenheit brauchte, lehrten, hatte zwei besonders wichtige Regeln, die uns zeigen können, wie weit gerade unsere heutige Zeit von dem Spirituellen entfernt ist. Die eine Regel lautete: Vor Sonnenaufgang und nachdem die Sonne untergegangen ist, soll kein Essäer von weltlichen Dingen reden. Und für diejenigen, die in höhere Grade aufgestiegen waren, wurde diese wichtige Essäerregel dadurch verstärkt, daß auch nicht Gedanken weltlicher Art den Schüler beschäftigen sollten in der angegebenen Zeit. Eine zweite wichtige Unterweisung war: Bevor die Sonne heraufkommt, soll jeder Essäer bitten, daß dieses geschehen möge und daß die Kraft der Sonne über der Menschheit an jedem Tage leuchte. – Diese Regeln geben uns Kunde, wie bedeutsam wir mit unserer Wesenheit zusammenhängen mit den Geschehnissen der geistigen Welt, aus welcher wir am Morgen auftauchen und in die wir untertauchen, wenn wir des Abends einschlafen. [2]

In dem ganzen System der Essäer-Vervollkommnungslehre spielte das eine große Rolle, daß nichts von Legendenhaftem, Mythischem oder Religiösem im Bilde dargestellt werden durfte. Das Luziferische der Bildimpulse wollte der Essäer dadurch fliehen. [3]

Ihren Hauptsitz hatten sie am Toten Meere. Aber sie hatten überall einzelne Niederlassungen in den Gegenden Vorderasiens. [4] Eine Niederlassung war auch in Nazareth. Durch Übungen der Seele kam man zu einer gewissen Heilkraft, die ungeheuer wohltätig wirkte. [5]

Die eigentlichen Essäer-Gemeinden waren dem tieferen Lehrgehalt nach – davon können Sie sich auch durch die äußere Geschichte überzeugen – verhältnismäßig bald verschwunden, nachdem das Christus-Ereignis sich auf der Erde abgespielt hatte. Daher wird es nicht gar so unglaublich erscheinen, wenn ich sage, daß im Grunde die Therapeuten- und Essäer-Gemeinden wesentlich dazu eingerichtet waren, um aus den geistigen Regionen, aus den Sphären der Bodhisattvas dasjenige heruntergelangen zu lassen, was man brauchte, um das große, bedeutsame Ereignis der Christus-Erscheinung zu begreifen. Die wichtigsten Lehren, die der Menschheit zugekommen sind, um das Christus-Ereignis zu begreifen, stammten aus den Therapeuten- und Essäer-Gemeinden. So war gewissermaßen Jesus, der Sohn des Pandira, Jeschua ben Pandira, dazu ausersehen, sich von dem Bodhisattva, der der Maitreya Buddha werden wird, und der hineinwirkte in die Essäer-Gemeinden, inspirieren zu lassen zu solchen Lehren, welche das Mysterium des Christus verständlich machen konnten. [6]

Es sagte sich ein Essäer der damaligen Zeit: Was eigentlich das hebräische Volk bilden konnte, wodurch es der Träger der Christus-Mission werden konnte, das wurde zuerst in der Anlage bewirkt durch jenes geheimnisvolle Wesen, das man nur finden kann, wenn man durch die ganze Generationenfolge hinaufsteigt bis zu Abraham, wo es gleichsam hineingeschlüpft ist in die innere Organisation des Abraham, um dann durch das Blut hindurch als eine Art von Volksgeist im hebräischen Volke zu wirken. Deshalb sagte der Essäer: Wenn der Mensch zu diesem eigentlich inspirierenden oder inaugurierenden Geist des hebräischen Volkes hinaufsteigen will und ihn in seiner Reinheit erkennen will, so muß er als Essäer oder Therapeut eine gewisse Entwickelung durchmachen. Das geistige Wesen, das der Mensch in sich trägt, und (auch) alle die geistigen Wesenheiten, die mitwirken an dem Menschheitswerden, sind in ihrer Reinheit nur in der geistigen Welt zu schauen; wie sie in uns selbst wohnen, sind sie verunreinigt durch die Kräfte der physisch-sinnlichen Welt. Nun hatte nach Anschauung der Essäer – und das ist natürlich auf einem gewissen Gebiet der Erkenntnis absolut richtig – ein jeder Mensch, der damals lebte, alles das in sich, was in vorausgegangenen Zeiten in die menschliche Seele hineingekommen war an Verunreinigungen. Alle Reinigungen seelischer Art, alle Exerzitien des Essäers waren darauf berechnet, die Seele frei zu bekommen von den durch die Generationen herunter vererbten Einflüssen und vererbten Merkmalen. Nun ist es ein geisteswissenschaftliches Gesetz, daß der Einfluß der Vererbung erst wirklich aufhört, wenn man durch 42 Stufen hindurch in der Ahnenreihe aufsteigt. Deshalb mußte jeder Essäer schwere innere Exerzitien, schwere mystische Wege durchmachen; die führten ihn durch 42 Stufen dazu, seine Seele zu reinigen. [7] Sie wissen, daß das Leben zwischen zwei Inkarnationen ebenso der Veränderung unterworfen ist, wie das geschichtliche Leben im Physischen. Die Verdunkelung des menschlichen Bewußtseins war natürlich nur nach und nach eingetreten, wie alles nur nach und nach in der Entwicklung geschieht. Diese Geister des Mammon (oder Ahriman) hatten nur allmählich ihren Einfluß geltend machen können und es war jedesmal der Sohn weniger hellsichtig als der Vater, der Großvater noch hellsichtiger und so weiter. Starb nun ein Mensch mit ganz verdunkeltem Bewußtsein für das Göttliche, so nahm er diese Verdunkelung mit hinüber und mußte sich ganz allmählich aus dieser Wolke herausarbeiten und zwar dadurch daß er sozusagen, um bildlich zu sprechen, von Hand zu Hand ging, die Reihe seiner Vorfahren hinauf, bis zu dem Urahn, der noch das volle alte Hellsehen gehabt hatte. Dadurch zerteilte sich allmählich für ihn die Wolke. Das nahm natürlich viel Zeit in Anspruch, und es konnte geschehen, daß ein solcher Mensch seinen Urahn nicht mehr antraf, weil dieser inzwischen wieder inkarniert war, und so mußte er unreif zu einer neuen Inkarnation zurückkehren. Diesen Weg nannte man den «Väterweg» oder «Pitriyana» in der östlichen Weisheit. [8]

Aber die Essäer kannten noch etwas anderes. Sie wußten: Ebenso wie der Mensch durch 42 Stufen, welche die Entsprechungen sind der 42 Generationen, hinaufsteigen muß, um zu diesem göttlichen Wesen zu kommen, so muß dieses göttliche Wesen, wenn es bis in das menschliche Blut hinunterdringen will, durch 42 Stufen hinuntersteigen, muß also den umgekehrten Weg machen. [9]

Im Grunde ist es bei den Essäern ein Hineinsteigen in den physischen Leib und Ätherleib gewesen. Das war nun das Wesentliche, daß sie alle Kräfte, die aus den 42 Generationen herrührten, wahrnehmen lernten. [10] f

Zitate:

[1]  GA 148, Seite 66f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[2]  GA 266/3, Seite 25f   (Ausgabe 1998, 545 Seiten)
[3]  GA 148, Seite 128f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[4]  GA 148, Seite 233   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[5]  GA 148, Seite 253   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[6]  GA 123, Seite 98   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[7]  GA 123, Seite 100f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[8]  GA 266/1, Seite 481   (Ausgabe 1995, 622 Seiten)
[9]  GA 123, Seite 102   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[10]  GA 123, Seite 107   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)

Quellen:

GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 266/1:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band I (1904-1909)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913-1923)