Mithras-Mysterien

Der altindische Mensch bediente sich seines Ätherleibes, wenn er sich zu den höchsten Erkenntnissen emporschwingen wollte. Der Perser konnte das nicht mehr; er konnte sich aber des Empfindungsleibes bedienen. Weil er nicht mehr mit dem Ätherleib schauen konnte, so verhüllte sich die höchste Einheit vor ihm. Mit dem Empfindungsleib konnte er in gewisser Weise astralisch sehen. Das war bei vielen Mitgliedern des persischen Volkes noch der Fall: astralisch zu sehen den Ahura Mazdao und seine Diener, weil man sich des Empfindungsleibes noch bedienen konnte. Nun ist der Empfindungsleib gebunden an die Empfindungsseele. In dem Augenblick, wo also der Angehörige des altpersischen Volkes sich des Empfindungsleibes bediente, war sozusagen die Empfindungsseele dabei; aber er war noch nicht dahin gelangt, sich dieser zu bedienen, denn sie war noch nicht ausgebildet, sie mußte erst ausgebildet werden. Diese Empfindungsseele mußte er erst hinnehmen so, wie sie damals war. Daher mußte er empfinden: Wenn der Empfindungsleib, der jetzt schon ausgebildet ist, sich erhebt zu Ahura Mazdao, dann ist die Empfindungsseele dabei. Die ist aber in einer gewissen Gefahr, und sie wird, wenn sie ihre Empfindungen offenbart, sie geradeso in den Empfindungsleib hineinschicken; sie wird dasjenige, was von alten luziferischen Verführungen da ist, zwar nicht als solche äußern, denn dazu hat sie noch keine Fähigkeiten, aber sie wird ihre Wirkungen in den Empfindungsleib hineinschicken. – So nahm man im alten Persien Hereinwirkungen der Empfindungsseele auf den Empfindungsleib wahr, die gleichsam ein von der Außenwelt hereinleuchtendes Spiegelbild dessen darstellten, was in der Empfindungsseele von alten Zeiten her wirkte. Das ist, von innen gesehen dasjenige, was man die Wirkungen Ahrimans, die Wirkungen des Mephistopheles nennt. Es gab nur eines, welches schützte vor den Anfechtungen der Ahrimangestalt, und das trat zu Tage: wenn man durch die Einweihung der Menschheit voraneilte, wenn man die Empfindungsseele ausbildete. Wenn man diese ausbildete und reinigte (siehe: Katharsis), und so der Menschheit vorausschritt, dann ging man den Weg nach innen, einen Weg, der zu etwas anderem führte als zu Ahura Mazdao; dann ging man den Weg zu den lichtvollen Luziferreichen. Und dasjenige, was da die Menschenseele durchdrang auf dem Wege nach innen, das nannte man später den Gott Mithras. Daher sind die persischen Mysterien, die das Innenleben pflegten, die Mithras-Mysterien. So haben wir auf der einen Seite den Gott Mithras, wenn der Mensch den Weg nach innen ging; und dasjenige, was er auf dem Wege nach außen antraf, waren die Reiche des Ahura Mazdao. [1]

Wenn man nur weit genug zurückgeht, etwa in das 5. vorchristliche Jahrtausend, so waren die Menschen so (tierähnlicher, aber) daß sie tierische Leiber mehr als Instrumente benützten, denn daß sie sich in ihnen drinnenfühlten. Will man jene Menschen genau charakterisieren, so müßte man sagen: Wenn diese Menschen wach waren, so gingen sie allerdings wie die Tiere mit einem instinktiven Seelenleben herum, aber es schien hinein in dieses instinktive Seelenleben etwas wie Träume aus ihrem Schlafzustand, wie Wachträume. Und in diesen Wachträumen erkannten sie, wie sie heruntergestiegen waren, um die Tierleiber nur zu benützen. Dasjenige, was da wirklich innere menschliche Seelenverfassung war, das ging dann über als Kultusanschauung, als Kultushandlung in den Mithrasdienst, wo wir sehen, daß das Hauptsymbolum der Mithrasgott ist, der auf einem Stier reitet, oben der Sternenhimmel, dem er angehört, unten das Irdische, dem der Stier angehört. Dieses Symbolum ist eigentlich für diese alten Menschen kein Symbolum gewesen, sondern es ist die Anschauung der Wirklichkeit gewesen. Der Mensch fühlte seine Seelenverfassung so, daß er sich sagte: Bin ich nachts außerhalb meines Leibes, so gehöre ich dem an, was die Kräfte des Kosmos, des Sternenhimmels sind, wache ich des Morgens auf, so bediene ich mich des tierischen Instinktes in einem tierischen Leibe.

Dann kam, man möchte sagen, in einer gewissen Weise eine Zeit der Dämmerung über die menschheitliche Entwickelung. Es war ein etwas dumpferes, stumpfes Menschheitsleben, in dem die kosmischen Träume mehr zurückgingen, in dem das instinktive Leben die Oberhand gewann. Bewahrt wurde dasjenige, was früher menschliche Seelenverfassung war, durch die Mysterien, hauptsächlich durch die asiatischen Mysterien. In den Mysterien wirkten die geistigen Welten durch die wirksamen Zeremonien herein. Und von da aus wurden dann die Menschen wiederum erleuchtet. [2]

Die Mithras-Mysterien bauten auf der Grundanschauung auf, daß die menschliche Gemeinschaft, oder daß die einzelnen menschlichen Gemeinschaften, zum Beispiel Völkergemeinschaften, nicht bloß aus den einzelnen Atomen, die man Menschen nennen kann, bestehen, sondern daß in den Gemeinschaften ein Gruppengeist, ein Gemeinsamkeitsgeist, der aber übersinnliches Dasein hat, lebt und leben muß, wenn die Dinge überhaupt in der Realität wurzeln sollen. Eine Gemeinschaft drückte aus für diese alten Leute die äußere Ausgestaltung, ich möchte sagen die «Inkarnation», wenn ich den Ausdruck dabei gebrauchen darf, für den wirklich vorhandenen gemeinsamen Geist. Und leben mit diesem Geiste, mitmachen die Gedanken dieses Gruppengeistes, das war die Absicht derjenigen, die in diese Mysterien aufgenommen wurden. Nicht vereinzelter Mensch bleiben draußen mit seinen eigenen eigensinnigen, egoistischen Gedanken und Empfindungen und Willensimpulsen, sondern so leben, daß die Gedanken des Gruppengeistes in einen hineinspielen, das war die Absicht. Und gerade in den Mithras-Mysterien sagte man sich: Erreicht werden kann das nicht, wenn man eine menschliche größere Gemeinschaft nur ansieht als dasjenige, was gegenwärtig da ist. Durch das, was gegenwärtig da ist, wird eigentlich im wesentlichen dasjenige getrübt, was im Gemeinsamkeitsgeiste lebt. Zu dem Gegenwärtigen – sagte man sich – gehören die Verstorbenen hinzu, und man lebt umso besser, um so richtiger in der Gegenwart, je mehr man auch mit denen leben kann, welche längst verstorben sind. Ja, je länger die Betreffenden verstorben waren, desto besser fand man es, mit ihrem Geiste zu leben. Am besten fand man es, mit dem Geiste des Urvaters eines Stammes, einer Volksgemeinschaft, eines Geschlechtes leben zu können, indem man sich mit seiner Seele in Verbindung setzte. Denn man setzte voraus von seiner Seele, daß sie ja ihre Weiterentwickelung erlangt, wenn sie durch die Pforte des Todes geschritten ist, und daß sie Besseres weiß über das, was hier auf der Erde zu geschehen hat, als diejenigen, die unmittelbar auf dieser Erde im gegenwärtigen Leibe leben.

So war alles Bestreben in diesen Mysterien, solche Verrichtungen, solche Kulte anzustellen, die den Zögling in Verbindung bringen konnten mit den Geistern, die mehr oder weniger lange, ja sehr lange durch des Todes Pforte gegangen waren. Eine erste Stufe, die durchzumachen hatten diejenigen, die zu diesen Mysterien zugezogen waren, bezeichnete man gewöhnlich mit einem Ausdruck, der aus dem Vogelgeschlecht entnommen war: die «Raben» sagte man zum Beispiel: Ein Rabe (corbus) war ein, sagen wir, im ersten Grade Eingeweihter. Dasjenige, was man in ihm durch die besonderen Mysterienkulte, durch stark wirkende Symbole und namentlich durch künstlerisch-dramatische Veranstaltungen erreichte, bestand darin, daß der Betreffende nun wissen lernte nicht nur, was man durch seine Augen sieht in der Umgebung, oder was man von den gegenwärtigen Menschen erfährt, sondern was die Toten denken. Er bekam gewissermaßen eine Art Erinnerungsvermögen an die Toten und die Fähigkeit, dieses Erinnerungsvermögen auszubilden. Ein solcher Rabe hatte eine Pflicht, es wurde ihm streng zur Pflicht gemacht, nicht zu schlafen, indem er in der Gegenwart lebte, sondern die Gegenwart mit offenen, klaren Augen zu betrachten, sich bekanntzumachen mit den menschlichen Bedürfnissen, sich bekanntzumachen mit den Naturerscheinungen. Die Aufgabe bestand darin, daß er so viel als möglich versuchte, in die verschiedenen Lebenslagen der äußeren Welt hineinzukommen, um recht, recht viel zu erleben, recht viel mitzuleiden und sich mitzufreuen mit den Ereignissen, mit den Vorgängen der Gegenwart. Einen Stumpfling gegenüber den Ereignissen der Gegenwart konnte man nicht brauchen. Denn das, was er innerhalb des Mysteriums zunächst zu leisten hatte, bestand darin, daß er die Erfahrungen, die er draußen machte, in den Mysterien reproduzierte, in den Mysterien vorbrachte. Dadurch wurden sie zu Mitteilungen für die Verstorbenen, für diejenigen, deren Rat man suchte. Gerade die Erstgraduierten waren dazu besonders geeignet, aus dem Grunde, weil sie doch alle Empfindungen, alle Sympathien und Antipathien hatten, mit denen sich so recht hineinleben läßt in die äußere Welt, während die höher Graduierten sie mehr oder weniger abgestreift hatten. Das war also ihre besondere Aufgabe, daß die Raben die Vermittelung zwischen der Außenwelt und den längst Verstorbenen übernahmen. Das hat sich ja in der Sage forterhalten. Wenn die Sage behauptet, daß Friedrich Barbarossa, der längst Verstorbene, in seinem Berge von Raben unterrichtet wird, oder daß Karl der Große im Salzburger Untersberg unterrichtet wird von Raben, um ihm zu übermitteln dasjenige, was draußen vorgeht, so sind das Nachklänge an die alten Mysterien, gerade an die Mithras-Mysterien. War einer reif für den zweiten Grad (nymphus, die Bienenpuppe), dann wurde er im eigentlichen Sinne ein «Okkulter»; Geheimschüler würden wir es heute nennen. Dadurch wurde er dann fähig, nicht nur das Äußerliche in die Mysterien hineinzutragen, sondern auch nun zu hören die Mitteilungen von seiten der Verstorbenen, über gewissermaßen die Impulse, welche die übersinnliche Welt, diese konkrete übersinnliche Welt, in der die Verstorbenen sind, für die Außenwelt zu geben hatte. Und erst, wenn er dadurch gewissermaßen eingegliedert war in das ganze geistige Leben, das vom Übersinnlichen her mit dem Äußeren, Sinnlichen in Zusammenhang steht, dann wurde er für den dritten Grad (miles, der Soldat) reif befunden, und es war ihm die Möglichkeit gegeben, in der äußeren Welt nun auch anzuwenden dasjenige, was er an Impulsen in den Mysterien drinnen erhalten hatte. Er wurde nun ausersehen, gewissermaßen ein «Kämpfer» zu werden für dasjenige, was aus der übersinnlichen Welt für die sinnliche geoffenbart werden muß. [3]

Sie können nun fragen: war es nicht eine tiefe Ungerechtigkeit, die ganze Masse des Volkes gewissermaßen in Unwissenheit zu lassen über die wichtigsten Dinge und nur Einzelne einzuweihen? Da man mit einem Gruppengeist, mit einer Gruppenseele rechnete, genügte es eben, wenn die Einzelnen für die ganze Gruppe der Menschen wirkten. (Aber) deshalb war es nur möglich, so zu handeln in der Zeit, in der die Gruppenbeseelung, das unegoistische Sich-Drinnenfühlen in der Gruppe ganz lebendig war.

Und dann, wenn man eine Zeitlang also gewissermaßen ein Kämpfer war für die übersinnliche Welt, dann wurde man für geeignet befunden, innerhalb der großen Gruppe kleinere Gruppen selber zu begründen, kleinere Gemeinschaften, wie sie sich ja als notwendig ergeben innerhalb großer Gruppen. Um eine solche Vereinigung zu begründen, mußte man in den Mithras-Mysterien, wie man sagte, ein «Löwe» (leo) sein, denn das war der vierte Grad der Einweihung. Man mußte in sich selbst befestigt haben das Leben in den übersinnlichen Welten durch den Zusammenhang mit jenen Impulsen, welche nicht nur unter den Lebenden waren, sondern welche die Lebenden mit den Toten verbanden.

Von diesem vierten Grad stieg man dann auf dazu, eine schon vorhandene Gruppe, der auch die Toten angehörten, eine Volksgemeinschaft führen zu dürfen. Wenn man ins 8., 10. Jahrhundert vor dem Mysterium von Golgatha zurückgeht, da wäre es niemandem eingefallen zu beanspruchen, daß man wählen sollte denjenigen, der irgend etwas zu tun hat, sondern da mußte derjenige, der irgend etwas mit der Gemeinschaft zu tun hatte, eben eingeweiht sein bis zum 5. Grad (perses, Perser). Und dann ging es weiter bis zu jenen Erkenntnissen, welche das Sonnen-Mysterium selber in die menschliche Seele hineinlegte (Grad des Heliodromus, des Sonnenläufers); und dann bis zum 7. Grad (pater, Vater). Nun liegt es aber in der selbstverständlich notwendigen Entwickelung des Menschengeschlechtes, daß die Gruppenseelenhaftigkeit allmählich zurückgetreten ist. Das ist es ja, was wesentlich gleichzeitig mit der Tatsache des Mysteriums von Golgatha war: daß die Menschenseelen von ihrem Ich bewußt ergriffen worden sind. Zur Zeit des Mysteriums von Golgatha war eine Krisis auf diesem Gebiete. Man konnte nicht mehr die Voraussetzung machen, daß gewissermaßen der Einzelne die Kraft habe, die ganze Gemeinschaft wirklich mit sich zu reißen, seine Empfindungen, seine Impulse unegoistisch auf die ganze Gemeinschaft zu übertragen. [4]

Das Christentum hat dasjenige, was es hat brauchen können, in seine Traditionen, in seine Dogmen, aber namentlich in seinen Kult hineingenommen, und dann den Ursprung dieser Kulte verwischt. Die Dinge waren da, die Dinge traten den Leuten noch vor die Augen, aber die Leute sollten nicht wissen, an welche Urweisheit die Dinge anknüpfen. [5]

Was man da nennt «Bekämpfung der Tieropfer» (durch das Christentum; Opfer), aus deren Eingeweiden, so wie gesagt wird, man allerlei Zukünfte voraussagte, das war allerdings eine dekadente Art des Opfers, aber es war nicht jenes Triviale, was sehr häufig in der Geschichte gemeint ist, wenn man von diesen Dingen redet, sondern es war – aber nur auf eine andere Art, als es heute geschieht (in der Naturwissenschaft) – eine tiefsinnige Wissenschaft. Was man durch die Tieropfer erreichen wollte, das war: Man wollte in diesen Tieropfern Anregung haben für etwas, was man in dieser Zeit nicht mehr direkt haben konnte, weil die Zeit des alten atavistischen Hellsehens vorbei war; man wollte in diesen Tieropfern Anregung haben innerhalb gewisser Kreise der Priester, innerhalb der heidnischen Priesterkreise, wieder zu beleben – es war das eine Art Mittel – die alten hellsichtigen Kräfte. Und namentlich wurde noch in einer besseren Art dieser Versuch gepflegt, durch die besondere Form des Opfers wieder zu beleben die alte hellsichtige Kraft, um zu den Urzeiten zu kommen, in den Mithras-Mysterien, und zwar da, ich möchte sagen, auf die geistigste Art in der damaligen Zeit. Wenn man die Mithras-Mysterien wirklich mit okkulten Mitteln studiert, so muß man sagen: Sie waren ein Mittel, durch allerlei Opferverrichtungen – die aber mehr waren, als was man heute Opferverrichtungen nennt, die tatsächlich etwas waren, was in viel intensiverer Weise in die Geheimnisse der Natur einführte als heute die Leichensektion, Leichenautopsie, die eigentlich gar nicht in die Geheimnisse einführt, sondern die nur zur Oberfläche führt –, sie waren ein Mittel, eine Einführung in die Geheimnisse der im Weltenall wirksamen Kräfte zu erreichen. Man findet, daß diese Mithras-Mysterien alle zurückgehen auf den 3. nachatlantischen Zeitraum, und dadurch waren sie eben dazumal (im ausgehenden Altertum) in der Dekadenz, weil sie in ihrer besseren Form für den 3. Zeitraum geeignet waren, wo sie etwas waren, was zwar auf eine gefahrvolle und geheimnisvolle Weise, aber doch eben tief einführte in tiefe Naturgeheimnisse; dadurch einführte, daß die Verrichtungen, die gepflogen wurden, etwas bewirkten. Also denken Sie: es wurden von den Priestern in Gegenwart der Schüler gewisse Verrichtungen gepflogen, die zusammenhingen mit dem Dekomponieren der Naturzusammenhänge, um dadurch zur Erkenntnis der Komposition der Naturvorgänge zu kommen. Und durch die Art, wie sie eben geschahen, wie da in diesen Verrichtungen das in den Organismen befindliche Wasser mit dem Feuer zusammenwirkte, und wie dieses Zusammenwirken Anregung wiederum bot für den, der bei der Opferung anwesend war, und dadurch eröffnete sich diesem ein ganz besonderer Weg für eine bis in die innersten Fasern des Menschen gehende Selbsterkenntnis und damit Welterkenntnis. [6] Sie finden überall als das äußere Symbolum des Mithraskultus den Stier, auf dem der Mensch reitet, ein Schwert stößt in den Hals des Stieres. Sie finden einen Skorpion, der den Stier beißt, oder die Schlange unten. Sie finden aber überall, wenn die Bilder vollständig sind, dieses Stierbild mit dem Menschen umgeben von dem Sternenhimmel, namentlich mit den Tierkreiszeichen.

Derjenige, der dem Mithraskult dienen wollte, mußte besonders sein Empfindungsvermögen in einer feinen, intimen Weise ausbilden. [7] Dafür wurde der Mithrasschüler erzogen, in sich selbst den Jahreslauf durch die Herzorganisation wahrzunehmen, durch die Herzwissenschaft, die ihm den Gang der durch die Verdauung metamorphosierten Speise im Organismus überlieferte und der Aufnahme des Verdauten in das Blut. Und in dem, was da wahrgenommen wurde, zeigte sich eigentlich am Menschen, in der Bewegung des inneren Menschen, der ganze Lauf der äußeren Natur. Ach, was ist denn unsere abstrakte Wissenschaft, wenn wir noch so genau die Pflanzen und die Pflanzenzellen, die Tiere und die tierischen Gewebe beschreiben, was ist denn diese abstrakte Wissenschaft gegenüber dem, was einmal in einer mehr instinktiven Weise dadurch vorhanden war, daß sich der ganze Mensch zum Erkenntnisorgan machen konnte, daß er wie der Mithrasschüler sein Gefühlsvermögen als Erkenntnisorgan ausbilden konnte. Der Mensch trägt die tierische Natur in sich, und er trägt sie wahrhaftig in einer intensiveren Weise in sich, als man gewöhnlich meint. Und das, was durch ihre Herzwissenschaft die einstigen Mithrasschüler wahrgenommen haben, ließ sich nicht anders darstellen als durch den Stier. Und die Gewalten, die durch den Stoffwechsel-Gliedmaßenmenschen wirken und nur gezähmt werden durch den oberen Menschen, diese Gewalten werden durch alles dasjenige angegeben, was da als Skorpion, als die Schlange figuriert um den Stier herum. Und der eigentliche Mensch in seiner Krüppelhaftigkeit sitzt oben mit der primitiven Macht, indem er mit dem Michael-Schwerte in den Hals des Stieres hineinstößt. Aber was da zu besiegen ist, wie es sich darstellt im Jahreslaufe, das wußte eben nur der, der in dieser Beziehung geschult war. Und jetzt gewinnt dieses Symbolum erst an Bedeutung. Dann studierte der Mensch aber wirklich, wenn er durch sein Herz sich selber ansah, den Geist des Jahresganges der Sonne durch den Tierkreis. Daher war es ganz richtig – und die Erfahrungen macht man auf diese Weise, daß der Mensch als ein höheres Wesen auf seiner niederen Natur reitet – um den Menschen herum im Kreise angeordnet der Kosmos, denn das Geistige des Kosmos erfuhr man auf diese Weise. Der Mithraskult war dazu da, daß der alte Mithraspriester, indem er in den Jahreslauf eindringen konnte, seiner Gemeinde angeben konnte, was an jedem einzelnen Tage des Jahres zu tun war. So war der Mithraskult dazu da, vom Himmel zu erforschen, was auf der Erde zu geschehen hat. [8]

Auf dem dahineilenden Opferstier sieht man den Menschen sitzen, oben den Gang der großen Weltereignisse und unten den Gang der irdischen Ereignisse. Der Mensch stößt sein (Schwert) hinein in den Leib des verblutenden Opferstieres, der sein Leben hingibt, damit der Mensch dasjenige überwinden kann, was er überwinden muß. Was der Opferstier zu allen Zeiten den Menschen war, die das verstanden haben, was im Opferstier liegt, in dem Ausdruck der in sich selber zu vertiefenden Liebe, die verstehen etwas von der Schilderung der Eigenschaften der Liebe, die gegeben werden soll durch die Betrachtung des Lukas-Evangeliums. [9]

Wie sehr sich Mithras- und Attisdienst auch über die italienische Halbinsel verbreitete, geht zum Beispiel daraus hervor, daß die Peterskirche in Rom an derselben Stelle steht, wo einstmals eine solche Kultstätte war (sie wurde vor einigen Jahren ausgegraben). Ja, man muß auch das für manche Katholiken lästerliche Wort aussprechen: Der Zeremoniendienst der Peterskirche und alles dessen, was sich davon ableitet, ist in bezug auf die äußere Form gar nicht unähnlich dem Kult des alten Attisdienstes, der verrichtet wurde in dem Tempel, der damals auf derselben Stelle stand, auf deren Stätte die Peterskirche steht. Und der Kultus der katholischen Kirche ist in vieler Beziehung nur eine Fortsetzung des alten Mithraskultus. [10]

Zitate:

[1]  GA 113, Seite 165f   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[2]  GA 193, Seite 183f   (Ausgabe 1977, 208 Seiten)
[3]  GA 175, Seite 342ff   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[4]  GA 175, Seite 345f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[5]  GA 175, Seite 347   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[6]  GA 175, Seite 318ff   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[7]  GA 223, Seite 135   (Ausgabe 1980, 168 Seiten)
[8]  GA 223, Seite 137f   (Ausgabe 1980, 168 Seiten)
[9]  GA 117, Seite 29f   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[10]  GA 148, Seite 61   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)

Quellen:

GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 117:  Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien (1909)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 193:  Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. Luziferische Vergangenheit und ahrimanische Zukunft (1919)
GA 223:  Der Jahreskreislauf als Atmungsvorgang der Erde und die vier großen Festeszeiten. Die Anthroposophie und das menschliche Gemüt (1923)