Mysterien

Wenn man von Mysterien und Mysterienwesen sprach, so sagte man, daß durch dasjenige, was in den Mysterien getrieben wird, ein Allerwichtigstes für die Menschheit auf der Erde vorhanden, sei. Man dachte sich alles Bedeutungsvolle im menschlichen Leben ausstrahlend von den Mysterien. Man sagte sich gewissermaßen: Gäbe es nicht Mysterien unter den Menschen, so könnten die Menschen auf der Erde gar nicht dasjenige sein, was die Götter mit ihnen gewollt haben! Man sah also durchaus mit einem Gefühl der höchsten Verehrung, der intimsten Achtung zu den Mysterien hin, und man sah zu gleicher Zeit zu den Mysterien hin mit einem Gefühl der Dankbarkeit, indem man sich bewußt war: sie geben einem das, was es möglich macht, auf der Erde das zu sein, was die Götter aus den Menschen machen wollen. [1] Wenn also in übersinnlichen Welten von den Mysterien gesprochen wurde – ich darf mich dieser Ausdrücke bedienen, obwohl sie natürlich nur in figürlicher Weise die Art bezeichnen, wie von den übersinnlichen Welten herunter gedacht und wie gewirkt wird in die sinnlichen –, wenn also in den übersinnlichen Welten gesprochen wurde von den Mysterien, da klang ungefähr die Rede so: In den Mysterien errichten die Menschen Stätten, wo wir Götter die opfernden Menschen finden können, die uns verstehen im Opfer. Denn in der Tat, das war allgemeines Bewußtsein der alten Welt, derer, die da wußten in der alten Welt, daß sich in den Mysterienstätten Götter und Menschen begegneten, und daß alles dasjenige, was die Welt trägt und hält, abhängt von dem, was sich abspielt in den Mysterien zwischen den Göttern und zwischen den Menschen. [2]

Man hat ja durchaus nicht sich das Leben leicht gemacht dadurch, daß man in die geistige Welt eintritt, sondern man lernt erst da die Unermeßbarkeit der Welt und die Unermeßbarkeit der Erkenntnis kennen. Und darum ist auch in Bezug auf das Geheimnis keine Herabminderung oder Erniedrigung des Geheimnisses da, sondern es ist eigentlich durchaus eine Erhöhung des Geheimnisses da. Das wenigstens zeigt die Erfahrung. [3]

Die erste nachatlantische Kulturperiode, die altindische, mußte in ihrem Schoße die urpersische vorbereiten, die urpersische wiederum die ägyptisch-chaldäische und so weiter. Und diejenigen Stätten, in welchen immer dasjenige vorbereitet wurde, was für die nächste Kulturperiode das bedeutsame Äußere war, das waren die Mysterienstätten. Das waren diejenigen Vereinigungen von Menschen, in denen anderes gepflegt worden ist, als die äußere Welt pflegt. [4] In den alten Mysterienschulen war es überall so, daß man, um die Menschen zu guten Menschen zu machen und sie für die tiefsten, intimsten, ergreifendsten Gefühle empfänglich zu machen, auf den gemeinsamen Ursprung hinwies, auf das Hervorgehen aller Menschen aus der gemeinsamen göttlichen Quelle. Und es war leicht, dies in der Seele anzuschlagen. Aber es wurde immer schwieriger und schwieriger. Immer kälter wurden die Gefühle der Menschheit gegenüber diesem gemeinsamen Ursprung. Das mußte geschehen, da die Menschheit durch einen gewissen Punkt der Entwickelung durchgehen mußte. Geradeso wie der Ursprung ein gemeinsamer ist und alle Menschenseelen aus einem gemeinsamen Urgrund entstanden sind, werden sich alle Menschenseelen in einem gemeinsamen Ziel zusammenfinden. Im Okkultismus ist dieses mit dem Namen Christus gegeben. Das Gefühl für das gemeinsame Menschenziel geht aus von dem Kreuz auf Golgatha. So verbinden sich Vergangenheit und Zukunft. Das ist das Ziel der Zukunftsentwickelung der Menschheit. Ob die Menschen diesen gemeinsamen Namen des Christus beibehalten werden, darauf kommt es nicht an, sondern darauf, daß alle Menschen begreifen lernen, daß dasselbe Gefühl, welches die Menschen ursprünglich von ihrem gemeinsamen Ursprung hatten, in ein Gefühl einer gemeinsamen Erdenzukunft umgewandelt werde. Die Erdentwickelung ist geteilt in diese zwei Hälften. [5] In den alten Mysterien und Mysterien-schulen war es noch wie eine Selbstverständlichkeit, daß derjenige, der das Wissen erlangen durfte, dieses Wissen auch heilig gehalten hat. Denn das war ja doch mit einer der Hauptgründe, warum man nicht jeden zugelassen hat in die Mysterien. Die, welche in die Mysterien zugelassen werden sollten, mußten Garantie dafür bieten, daß sie das Wissen wirklich heilig halten, es als einen Götterdienst auffassen. Das war auch durch ein atavistisches Hellfühlen noch vorhanden. Jetzt muß es sich die Menschheit wieder erwerben.

Das Wissen aber, das nicht in den göttlichen Dienst gestellt wird, das wird von Ahriman ergriffen, das geht in Ahrimans Dienst über und bildet Ahrimans Macht, der es durch seine geistigen Diener dem Weltenprozesse einfügt und dadurch dem Weltenprozesse mehr Hindernisse einfügt – denn Ahriman ist ja zugleich der Gott der Hindernisse –, als gerechterweise da sein dürfen, da sein müssen. [6]

Zitate:

[1]  GA 221, Seite 62   (Ausgabe 1966, 142 Seiten)
[2]  GA 260, Seite 225   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[3]  GA 343, Seite 106f   (Ausgabe 1993, 674 Seiten)
[4]  GA 159, Seite 301   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[5]  GA 125, Seite 200f   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[6]  GA 170, Seite 103f   (Ausgabe 1964, 276 Seiten)

Quellen:

GA 125:  Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1910)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 170:  Das Rätsel des Menschen. Die geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte (1916)
GA 221:  Erdenwissen und Himmelserkenntnis (1923)
GA 260:  Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft (1923/1924)
GA 343:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921)