Hellsehen

Hellsehen ist nur: von geistigem Licht durchdrungenes Schlafen, bewußtes Schlafen, wenn wir so definieren dürfen. Es müßte also günstig sein für die hellseherischen Zustände, wenn man von allen Gemütsbewegungen frei ist, und ungünstig, wenn man von solchen erfüllt ist. [1]

In dem Nichthellseher sowohl wie in dem Hellseher leben dieselben Dinge, dieselben geistigen Impulse. Diese sind auch in der Seele des Nichthellsehers vorhanden. Der Hellseher unterscheidet sich von dem Nichthellseher nur dadurch, daß er sieht, während der andere sie nicht sieht. Der eine trägt sie in sich und sieht sie, der andere trägt sie auch in sich und sieht sie nicht – Wer glauben würde, daß der Hellseher etwas in sich hat, was der andere nicht in sich hat, der würde sich einem großen Irrtum hingeben. Es ist also so, daß in der Tat in den Seelen der Menschen der Erde all die Dinge leben, die der Hellseher durch sein Hellsehen eben wahrnimmt. [2] Die Fähigkeit des Hellsehens besteht nun darin: von außen sehen zu lernen, was wir im gewöhnlichen Leben von innen fühlen. Alsdann übertragen sich Empfindungen, Leidenschaften und Gedanken in lebendige und sichtbare Formen. Es ist das, was die Aura rings um die physische Hülle bildet, eine Lichtform. [3]

Nur dadurch gelangt der Mensch zum Schauen in die geistige Welt, daß er alles, was er in seinen astralischen Leib hineingearbeitet hat mit Lernen, durch ein gewisses Fühlen und Empfinden über das Gelernte so stark in sich erlebt, daß nicht nur sein astralischer Leib, sondern auch der dichtere ätherische Leib davon beeinflußt wird. [4]

Es ist ja auch noch ein natürliches Hellsehen (siehe: Atavismus) vorhanden, und dieses ist zwar unsicher, ist mannigfachen Irrtümern unterworfen, aber es kann lange vorhanden sein, ohne daß man den hellsichtigen Blick für die allgemeinen Verhältnisse hat, die in der Geisteswissenschaft geschildert werden, die dem geschulten Hellseher leichter (wahrzunehmen) sind. [5] Jeder der sehend werden will, muß drei Tugenden ausbilden, die er notwendig braucht. Erstens: Selbstvertrauen, er muß seiner selbst sicher sein. Zweitens: Selbsterkenntnis, er darf niemals davor zurückschrecken, seine Fehler zu sehen, und Drittens: Geistesgegenwart. Denn es trifft ihn manches auf dem astralen Plane, was zwar immer um uns herum ist, aber es ist etwas anderes, dies auch zu sehen. Deshalb müssen vor allen Dingen diese Eigenschaften ausgebildet werden, und es ist eigentlich ein Unfug, wenn durch irgendwelche Schulen oder Gesellschaften Menschen, ohne in dieser Weise geführt zu werden, zu Hellsehern gemacht werden. [6] Der, welcher Hellseher werden will, wird nie sagen, daß er nur das aufnehmen will, was er vorher geprüft hat, sondern er muß vollständig frei werden von allem Eigensüchtigen und muß alles erwarten von dem, was aus der Welt an ihn herantritt, und was man nicht anders bezeichnen kann als mit dem Worte «Gnade». Er erwartet alles von der Gnade, die erleuchtet. Denn wie erwirbt man hellseherische Erkenntnis? Nur dadurch, daß man alles ausschalten kann, was man jemals gelernt hat. Gewöhnlich denkt der Mensch: Ich habe mein eigenes Urteil. Er müßte sich aber sagen: Das besteht nur daraus, daß du auffrischst, was deine Vorfahren gedacht haben, oder was deine Triebe anregen und so weiter. Leer muß die Seele werden und ruhig warten können auf das, was sich aus der raum- und zeitfreien, ding- und tatsachenfreien, verborgenen, geheimen Welt an die Seele heranbegeben kann. Und nie dürfen wir glauben, daß wir an uns heranreißen können, was hellseherische Erkenntnis ist, sondern nur, daß wir in uns eine Stimmung reifen lassen, durch die wir entgegennehmen, was sich uns darbietet als Offenbarung oder Erleuchtung. So daß wir nie anders als von der Gnade, die an uns herantritt und uns etwas gibt, das erwarten können, was an uns herantreten soll. [7]

Der Hellseher erlangt wie das Medium, in Tieftrance, ein (eben-)solches Saturnbewußtsein; aber er behält dazu auch sein helles Tagesbewußtsein (siehe: Bewußtseinsstufen), welches der Mensch auf dem Saturn noch nicht hatte, und welches das Medium während des Trancezustandes verliert. Ein solcher Hellseher ist also zwar nicht im Saturnbewußtsein selbst; aber er kann sich eine Vorstellung davon bilden. [8] Wie die Dinge zusammengesetzt sind, von denen der visionäre Hellseher erzählt, das ist nicht auf dem physischen Plan vorhanden, aber die Elemente (als Bildbausteine) dazu sind auf dem physischen Plan vorhanden. Die Bilder sind durchaus aus Elementen des physischen Planes zusammengesetzt. Das ist nicht unberechtigt. Aber Sie können daraus doch entnehmen, daß ein solches Bild einen Erdenrest hat. Was Sie da in Formen, in Bildern, die dem physischen Plan entnommen sind, an Ihren Schauungen haben, das gehört nicht der geistigen Welt an, das ist nur Verbildlichung der geistigen Welt mit Mitteln der physischen Welt. (Der) heutige (Hellseher) muß bis zu einem Punkte gehen, daß er zwar zuerst zu seiner Vorentwickelung seine Bildhaftigkeit hat, daß er aber nicht stehenbleiben darf dabei, sondern vorrücken muß bis zu dem Punkte, wo auch der letzte Erdenrest von dem, was geschaut wird, abgeworfen wird. Wenn er das wegläßt, was hinaufgetragen worden ist an Sinnbildlichkeit, dann besteht die Gefahr, daß er nichts mehr sieht. Was einen dann bewahrt, die Sache ganz zu verlieren, wenn man wirklich in die geistige Welt kommt, das ist der Same, der aus dem Denken aufgehen kann. Die Gedanken geben dann die Substanz her, das, was da ist, in der geistigen Welt zu ergreifen. Dadurch erhalten wir die Fähigkeit, wirklich in der geistigen Welt zu leben, daß wir das ergreifen in unserer sinnlichen Welt, was nicht mehr von Elementen der Sinnlichkeit durchsetzt ist und doch hier auf dem physischen Plane ist. Das sind einzig und allein die Gedanken. [9] Nehmen wir an, jemand habe ganz bedeutende Visionen, die dem astralischen Plane angehören. Diese seien meinetwillen ganz Wirklichkeit – sie können es ja auch beim nichtdenkenden visionären Hellseher sein –, aber nun tut sich zwischen ihm und demjenigen, was dem physischen Plan zugrunde liegt, ein Abgrund auf. Hinter dem physischen Plan ist aber die eigentliche geistige Welt. Der physische Plan ist Maya. Diesen physischen Plan, den schafft derjenige, der visionärer Hellseher ist, nicht weg; der verschwindet erst für den, der ihn mit den Mitteln des Gedankens fortschafft. Da erst dringen Sie hinter den physischen Plan, so daß Sie das erst mit dem denkerischen Hellsehen verstehen. Und diese Unmöglichkeit, den physischen Plan zu durchdringen, beruht darauf, daß das Gehirn nicht dazu fähig ist, sich auszuschalten. Wenn Sie gelernt haben, richtig zu denken, so brauchen Sie zum Denken Ihr Gehirn nicht unmittelbar. Wo der Gedanke rein wird, da ist das Gehirn nicht beteiligt. Bloß bei der Versinnbildlichung ist es beteiligt. Wenn Sie sich einen Kreidekreis vorstellen, so geschieht dies nur durch das Gehirn; wenn Sie sich aber einen reinen, sinnlichkeitsfreien Kreis denken, so ist der Kreis selber das Aktive, was das Gehirn erst formt. Dann aber, wenn der Mensch visionäres Hellsehen hat, so bleibt er in seinem Ätherleib und kommt gar nicht bis zum physischen Gehirn. Man kann das ganze Leben lang in visionärer Hellseherei leben. Dadurch wird das Gehirn nicht anders, dadurch wird der Ätherleib ausgearbeitet, aber nicht das Gehirn. Dadurch aber wiederum können Sie niemals diesen Abgrund durchdringen, niemals können Sie Maya wirklich durchdringen. Das können Sie nur, wenn Sie es mit den Gedanken durchdringen. [10]

Wer verschmäht, denkerisch vorzugehen, der entwickelt Fähigkeiten, die sozusagen ihr Objekt nicht ergreifen, die nicht wirklich in die geistige Welt hineingreifen. Und die Folge ist, daß ein Mißverhältnis entsteht: es ist nicht angemessen sein Gehirn seinen hellseherischen Fähigkeiten. Das Gehirn ist grob, denn der Betreffende hat sich nicht Mühe gegeben, es durch Denken zu veredeln. Es bildet sich etwas, was ihm ein Hindernis ist, mit seinen Visionen an die geistige Wirklichkeit heranzukommen. Er entfernt sich von der Wirklichkeit, statt sich ihr zu nähern. Dann ist jede Möglichkeit, zu entscheiden über die geistige Welt, ausgeschlossen. Ein solcher Mensch wird gewiß viel sehen können, aber niemals ist bei ihm eine Garantie vorhanden, daß das der Wirklichkeit entspricht. Entscheiden könnte nur derjenige, der unterscheiden kann zwischen bloßer Vision und Wirklichkeit. Aber Unterscheidungsvermögen kann man sich nur erarbeiten durch Arbeiten auf dem physischen Plan. So schwebt man immer ohne Untergrund, wenn man die etwas mühsam zu erringende denkerische Arbeit verschmäht. Es kann sehr leicht entstehen, daß Menschen dadurch, daß sie visionäres Hellsehen entwickeln, sich einen Damm aufrichten gegen die wirkliche Welt und dann in ihren Träumen leben. [11]

Nichts kann so sehr die Lügenhaftigkeit züchten als ein gewisses bloß visionäres Hellsehen, das nicht am Gedanken sich aufrankt und kontrolliert wird. Und auf der anderen Seite wird ein solches Hellsehen wiederum eine andere Eigenschaft noch züchten, nämlich eine gewisse Überhebung, einen gewissen Hochmut, der bis zum Größenwahn führen kann. Und er ist um so gefährlicher, weil er nicht bemerkt wird. Die Gefahr ist sehr groß, daß man sich deshalb für etwas Besseres hält, weil man diese oder jene Dinge sieht, die der andere nicht sieht. Und gewöhnlich weiß man dann gar nicht, wie tief das, was hart an Größenwahn grenzt, wie tief das eigentlich in der Seele sitzt. Es verbirgt sich in gewisser Weise und namentlich hinter dem, daß man nun mit unbedingter Sicherheit auf seine Visionen schwört und keine Einrede duldet, so daß man es erleben kann, daß die Leute das törichteste Zeug glauben, wenn es ihnen nur vom astralischen Plan aus gesagt wird. [12]

Eine jede für die heutige Zeit richtige Esoterik muß alle Methoden verbannen, welche aus den niederen Leibern in das Ich heraufpumpen die Kräfte, die zur höheren Erkenntnis führen sollen; denn dadurch sind wir gesund, daß diese Kräfte unten bleiben. Die Kräfte zur Entwickelung der hellseherischen Fähigkeiten sind unmittelbar in der Gegend unseres Kehlkopfes lokalisiert. Es sind das im höchsten Sinne moralische Fähigkeiten, die auch in der Buddha-Lehre als der achtgliedrige Pfad dargestellt werden. Bis zu einem gewissen Grade sind sie moralische; im weiteren führen sie den Menschen hinauf zu einer Durchmoralisierung auch unserer Erkenntnis, zu einer Imprägnierung derselben mit dem, was sonst bloß in unserer Moral ist. [13]

Immer mehr und mehr gehen wir aber den Zeiten entgegen, in welchen zuerst das reife Urteil vorhanden sein muß, und sich dann erst aus dem reifen Urteil heraus wieder das Hellsehen entwickeln muß. Wenn also heute jemand auftritt, der, ohne daß er ernste Übungen gemacht hat, ohne daß er, sagen wir, entsprechend in die Geisteswissenschaft eingedrungen ist – denn die Geisteswissenschaft kann selbst, wenn man richtig in sie eindringt, die beste Übung sein, um das alte Hellsehen herauszubringen –, wenn ein solcher gewisse psychische Fähigkeiten, ein gewisses Hellsehen oder anderes zeigt, so deutet das darauf hin, daß er nicht etwa in der Entwickelung voraus ist vor den anderen, sondern daß er zurückgeblieben ist. Man muß noch nicht den Standpunkt des hellen Denkens erreicht haben, wenn man heute atavistische Fähigkeiten in der Seele entwickelt.

Und am meisten geht man fehl, wenn man sich imponieren läßt durch solche atavistischen hellseherischen Fähigkeiten. Wenn man sich zu dem Glauben verleiten läßt, daß eine solche Persönlichkeit eine besonders entwickelte Seele vorstellt, so geht man immer fehl. Denn daß diese Seele solche Fähigkeiten zeigt, das bedeutet, daß sie besondere Dinge noch nicht durchgemacht hat, die während der Zeit des Hellsehens durchgemacht werden mußten. Deshalb holt sie es heute nach. Das Groteskeste ist, wenn innerhalb der geisteswissenschaftlichen Strömung der Glaube auftritt, daß jemand, der ein gewisses Hellsehen hat, ohne in die Geisteswissenschaft eingedrungen zu sein, früher etwas Bedeutenderes gewesen sein muß. Er ist sicher etwas Unbedeutenderes als der, welcher ein gesundes Urteil über die Dinge hat. [14]

Zitate:

[1]  GA 143, Seite 32   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[2]  GA 155, Seite 43   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[3]  GA 94, Seite 67   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[4]  GA 112, Seite 110   (Ausgabe 1959, 292 Seiten)
[5]  GA 140, Seite 343   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)
[6]  GA 98, Seite 25   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[7]  GA 132, Seite 29   (Ausgabe 1979, 102 Seiten)
[8]  GA 11, Seite 146   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[9]  GA 117, Seite 84f   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[10]  GA 117, Seite 91f   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[11]  GA 117, Seite 92f   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[12]  GA 117, Seite 94   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[13]  GA 143, Seite 58   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[14]  GA 154, Seite 24f   (Ausgabe 1973, 142 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 112:  Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, besonders zu dem Lukas-Evangelium (1909)
GA 117:  Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien (1909)
GA 132:  Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen (1911)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 154:  Wie erwirbt man sich Verständnis für die geistige Welt?. Das Einfließen geistiger Impulse aus der Welt der Verstorbenen (1914)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)