Christus Leben
► Szene auf dem Ölberg

Versetzen wir uns einmal in aller Demut – denn so muß es sein – in die Seele des Christus Jesus, der bis zuletzt versucht, das Band, das gewoben war zu den Seelen der Apostel hin, aufrechtzuerhalten; versetzen wir uns, so gut wir es dürfen, in die Seele des Christus für den weiteren Verlauf des Geschehens. Da mochte sich wohl diese Seele die weltgeschichtliche Frage stellen: Kann ich es bewirken, daß sich die Seelen wenigstens der auserlesensten Jünger zu der Höhe erheben, um mit mir alles zu erleben, was bis zum Mysterium von Golgatha hin zu geschehen hat? Vor dieser Frage steht die Christus-Seele selber. Es ist ein grandioser Augenblick, wo Petrus, Jakobus und Johannes herausgeführt werden nach dem Ölberge und der Christus Jesus bei sich selber nachschauen will, ob er sie halten kann, die Auserwähltesten. Und auf dem Weg dahin wird er ängstlich. Zu glauben, daß der Christus ängstlich geworden ist vor dem Tode, daß er das Blut auf dem Ölberge geschwitzt hat wegen des herannahenden Ereignisses von Golgatha, hieße wenig Verständnis sich erwerben für das Mysterium von Golgatha. Er bebt zunächst davor: Werden die, welche ich da mitnehme, diesen Augenblick überstehen, in dem es sich entscheiden soll, ob sie mit mir in ihrer Seele gehen wollen, ob sie mit mir erleben wollen alles bis zum Kreuz? Daß ihr Bewußtseinszustand so wach bleibt, daß sie alles miterleben bis zum Kreuz, das soll sich entscheiden. Das ist der «Kelch», der sich ihm naht. Und er läßt sie allein, daß sie «wach» bleiben können, das heißt in einem Bewußtseinszustande, in welchem sie mit ihm erleben können, was er erleben soll. Dann geht er und betet: «Vater, laß diesen Kelch an mir vorübergehen, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.» Das heißt: Laß mich nicht noch erfahren, daß ich ganz allein stehe als der Menschensohn, sondern daß die anderen mitgehen. Und er kommt zurück, und sie schlafen. Sie haben nicht jenen Bewußtseinszustand erhalten können. Der Kelch war nicht vorübergegangen! Er war zur einsamen, auch zur seeleneinsamen Vollbringung der Tat bestimmt. [1]

Der Christus ist überall verbunden mit einer weithingehenden, wirksamen Aura. Diese war dadurch da, daß er mit den Menschen, die er auserwählt hatte, in den Seelen verbunden war, und sie war solange da, als er mit ihnen verbunden war. Der Kelch war nicht vorübergegangen. Die auserwählten Menschen hatten kein Verständnis gezeigt. Da zog sich allmählich die Aura von dem Menschen Jesus von Nazareth zurück, und immer fremder wurden einander der Christus und der Menschensohn. Immer mehr allein war der Jesus von Nazareth gegen das Ende des Lebens, und immer loser war der Christus mit ihm verknüpft. Während das kosmische Element, das bis zu dem Momente da war, der uns als das Blutschwitzen auf Gethsemane dargestellt wird, während der Christus bis zu diesem Momente voll mit dem Jesus von Nazareth verbunden war, wird jetzt durch das Unverständnis der Menschen dieser Zusammenhang gelockert. [2]

Und während früher der kosmische Christus im Tempel wirkte und die Händler heraustrieb, die gewaltigsten Lehren verbreitete und nichts geschah, konnten jetzt die Häscher heran, als der Jesus von Nazareth nur noch in einem losen Zusammenhange mit dem Christus stand. Das Kosmische sehen wir zwar noch vorhanden, aber immer weniger und weniger an den Menschensohn gebunden. Und weil das dreifache Verständnis (der Jünger, der Juden, der Römer) nicht da sein konnte, was hatten die Menschen deshalb zuletzt? Was konnten sie fangen, was verurteilen und was ans Kreuz schlagen? Den Menschensohn. Und je mehr sie das taten, desto mehr zog sich das kosmische Element, das als ein junger Impuls in das Erdenleben eintrat, zurück. Und es blieb denen, die das Urteil sprachen und das Gericht vollzogen, der Menschensohn, den nur umschwebte, was als junges kosmisches Element auf die Erde herunter kommen sollte. [3]

In Markus (Kapitel 8, Vers 27uf) finden wir eine vollständig unverständliche Stelle – Christus Jesus fragt seine Jünger: «Was glauben die Leute, was jetzt geschieht?» Nicht wahr, diese Frage darf man auch so stellen; denn den Leuten kam es vor allen Dingen darauf an, wovon die Wirkungen ausgehen, (bei den sogenannten Wundern, zum Beispiel der vorangehenden Brotvermehrung) die jetzt geschehen. Darauf antworten die Jünger: «Die Leute meinen, es gehe» – wenn wir einen trivialen Ausdruck gebrauchen wollen «Johannes der Täufer um, oder es gehe der Elias um oder ein anderer der Propheten; und dadurch, daß dies geschieht, geschähen die Wirkungen, die eben beobachtet worden sind.» – «Aber wovon glaubt ihr», so fragt der Christus Jesus, «daß die Dinge herkommen?» Da sagt Petrus: «Sie kommen davon her, daß du der Christus bist.» Stellen wir uns vor Augen, was Petrus damit eigentlich gesagt hat. Diejenigen, welche die großen Menschheitsführer waren in der vorhergehenden Zeit, das waren die Initiierten, die bis zum letzten Akt der Initiation in den heiligen Mysterien geführt worden waren. Es waren die, welche bis an die Pforte des Todes herangetreten waren, die in die Elemente untergetaucht waren, drei Tage außerhalb ihres Leibes verweilt hatten, während dieser dreier Tage aber in den übersinnlichen Welten waren, danach wieder auferweckt wurden und nun Kundschafter, Botschafter waren von den übersinnlichen Welten. Petrus sagt nun: «Du bist der Christus», das heißt: Du bist ein Führer, der nicht so durch die Mysterien gegangen ist, der aus dem Kosmos gekommen ist und jetzt Menschheitsführer ist. Es war etwas Ungeheures, was Petrus damit aussprach. Man mußte ihm sagen: Das ist etwas, was man nicht unter die Menge bringen darf; das ist etwas, wovon die heiligsten, ältesten Gesetze sagen, daß es Mysterium bleiben muß.

Nun ist aber der ganze Sinn der weiteren Menschheitsentwickelung der, daß mit dem Mysterium von Golgatha das, was sich sonst nur in den Tiefen der Mysterien abgespielt hatte, hinausgestellt worden ist auf den Plan der Weltgeschichte. Mit anderen Worten: Was als heiliges Gesetz gegolten hat, daß man schweigen müsse über dieses Mysterium, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo das durchbrochen werden muß. Jetzt aber müssen die Mysterien durch das Mysterium von Golgatha offenbar werden. Ein Entschluß in der Seele des Christus, der größte welthistorische Entschluß ist es, da er sich vornimmt: was bis jetzt immer nach Menschengesetz hat verschwiegen werden müssen, das muß jetzt gezeigt werden vor aller Augen, vor der Weltgeschichte.

Denken wir uns einen Augenblick welthistorischen Nachdenkens in dem Christus, einen Augenblick welthistorischen Besinnens: Ich blicke hin auf die ganze Menschheitsentwickelung. Sie verbietet mir durch ihre Gesetze, zu sprechen über den Tod und die Auferstehung, die Auferweckung, über das heilige Mysterium der Initiation. – Nein. Ich bin ja von den Göttern heruntergeschickt auf die Erde, um es offenbar zu machen. Ich darf mich nicht nach dem richten, was die Menschen sagen; ich muß mich nach dem richten, was die Götter sagen. Der Entschluß, die Mysterien offenbar zu machen, bereitet sich in diesem Augenblick vor. Und abwerfen von seiner Seele muß der Christus die Unentschlossenheit – Weiche von mir, Unentschlossenheit, und wachse in mir, Entschluß, dasjenige hinzustellen vor die ganze Menschheit, was bisher in den Tiefen der Mysterien gewesen war! – Zu seinem eigenen Entschluß, als er zurückzuweisen hat, was ihn unentschlossen machen kann, sagt der Christus: «Weiche von mir!» und nimmt sich vor in diesem Moment, dasjenige auszuführen, wozu er von seinem Gotte auf die Erde heruntergeschickt worden ist. Wir haben es an dieser Stelle zu tun mit dem welthistorisch größten Monolog, der jemals in der ganzen Erdenevolution stattgefunden hat. Kein Wunder, daß der Monolog des Gottes nicht von vornherein für Menschenintellekt verständlich ist, daß wir tief schürfen müssen, wenn wir uns nur einigermaßen würdig machen wollen, um diesen Monolog des Gottes zu verstehen. [4]

Aber alles, was in der Seele des Christus vorging, spielte sich gleichsam noch einmal ab wie in einer Art von Spiegelbild in den Seelen der Jünger, aber in zwölf Teile geteilt, so daß jeder der Zwölf einen Teil dessen wie im Spiegelbilde erlebte, was in der Seele des Christus Jesus vorging, aber jeder der Zwölf etwas anderes. In einem gewissen Spiegelbilde geht dieser Monolog auch vor in der Seele des Petrus. Aber indem die Seele des Petrus fühlt, daß sein Meister der Christus ist, ist das so auszulegen, daß Petrus eine Weile heraufgehoben ist zu einem Erleben im höheren Ich und überwältigt wird von dem, was er auf diese Weise erlebt, und sozusagen wieder zurückfällt. Aber dennoch war es ihm möglich hindurchzudringen zu der Erkenntnis, die sich mit anderer Absicht, mit anderem Ziel in der Seele des Christus abspielt. Und weil er dazu fähig war, deshalb jene Übertragung der Schlüsselmacht (siehe: Menschensohn). [5]

Was muß nun heranwachsen im Innern des Menschen, wenn das Innere immer mächtiger wird, und wenn der Mensch die hellseherische, höhere Kraft entwickelt? Seine Anlagen müssen so heranwachsen, daß er aufnehmen kann die Kräfte des Geistselbst, Manas, Lebensgeistes, Buddhi und Geistesmenschen, Atma. Wann es aber eintreten wird, daß jene Kraft von oben in ihn hereinleuchten wird, das hängt ab von dem Karma des Einzelnen. Nur die höchsten Initiierten wissen das. Ist irgendeine Individualität reif, hineinzuwachsen in die geistige Welt, so kommt auch für sie die Stunde des Hineinwachsens, sie kommt so, daß es sich der Mensch nicht versieht, sie kommt wie der Dieb in der Nacht. Die alten – und in gewisser Beziehung auch die neueren Mysterien hatten drei Stufen für die makrokosmische Einweihung. Die erste Stufe war die, wo der Mensch so hineinwuchs, daß er alles wahrnahm, was man durch das Geistselbst (Manas) wahrnehmen kann. Da ist er nicht nur ein Mensch im neuen Sinne, sondern da ist er zu dem hinaufgewachsen, was man im Sinne der Hierarchien die «Angeloi-Natur nennt». Die nächste Stufe ist dann die, wo der Lebensgeist (Buddhi) entsprechend erwacht. Einen Menschen auf dieser Stufe nannte man einen Sonnenhelden oder auch einen Sohn des Vaters. Und denjenigen, in den das Atma hineinragte, nannte man in den alten Mysterien den «Vater». Das waren die drei Stufen des zu Initiierenden: Angeloi, Sohn oder Sonnenheld und Vater. Nur die höchsten Initiierten haben ein Urteil darüber, wann im Menschen die Initiation erwachen kann. Daher sagte der Christus: Die Initiation wird kommen, wenn ihr auf den Wegen weiterschreitet, die ich euch jetzt geführt habe. Ihr werdet aufsteigen in die Reiche der Himmel, aber die Stunde ist weder bekannt den Angeloi, die mit dem Geistselbst initiiert sind, noch dem Sohn, dem mit dem Lebensgeist initiierten, sondern nur den höchsten Eingeweihten, die mit dem Vater initiiert sind. [6]

Wie der einzelne zu Initiierende, wenn er die (makrokosmische) Initiation durchmacht, bewußt hineinwächst in den Makrokosmos und Stück für Stück von ihm kennenlernt, so schreitet der Christus gleichsam den Makrokosmos ab, zeigt überall die Kräfte, die da spielen und hereinströmen, und überträgt sie auf die Jünger. Stellen wir uns so recht die Szene vor: Ein Mensch schläft ein. Dann liegen im Bette physischer Leib und Ätherleib, während von ihm astralischer Leib und Ich ausgegossen sind in den Kosmos, und die Kräfte des Kosmos in diese Glieder eindringen. Träte nun der Christus da zu ihm, so würde er die Wesenheit sein, die ihm bewußt diese Kräfte heranzieht und beleuchtet. So ist es aber gerade mit der Szene, die uns dargestellt wird: Die Jünger fahren hin in der letzten Nachtwache; da sehen sie, daß das, was sie erst für ein Gespenst angesehen haben, der Christus ist, der die Kraft des Makrokosmos in sie einfließen läßt. Und die nächsten Szenen des Matthäus-Evangeliums stellen nichts anderes dar, als wie der Christus die Jünger hinausführt Schritt für Schritt die Wege, die der zu Initiierende geht. Wenn die hellseherischen Kräfte heranwachsen, so lernt man erkennen, wie eigentlich zum Beispiel der Zusammenhang in den fortschreitenden Wachstumsverhältnissen der Pflanze ist. Der materialistische Sinn wird denken, daß irgend etwas von dem verfaulenden Samenkorn übergeht in die neue Pflanze. Aber so ist es nicht. Tatsächlich wird in bezug auf das Materielle die ganze alte Pflanze zerstört. Es geschieht ein Sprung in bezug auf das Materielle. Es geschieht tatsächlich eine Neubildung. Es muß der zu Initiierende beim Hinausschreiten in den Kosmos auf einer Stufe die Kräfte kennenlernen, die diese Sprünge bewirken. [7] Wir erhalten diese Figur: Zwei sich ineinanderschlingende Spiralen, in der Mitte ein kleiner Sprung: Das (astrologische) Zeichen des «Krebses», das uns symbolisieren soll das Entstehen irgendeines neuen Sprosses innerhalb irgendeiner Evolution (für das Bild siehe auch: Schrift okkulte). Nun gab es noch ein anderes Zeichen in der Darstellung dieser Verhältnisse. So sonderbar es Ihnen erscheinen mag, es war so gebildet, daß man einen Esel und sein Füllen abbildete. Und in der Tat wird sogar das Sternbild des Krebses in alten Abbildungen sehr häufig so dargestellt. Christus gebraucht das Bild des Esels und seines Füllens; das heißt, er führt die Jünger an das Verstehen dessen hin, was im geistigen Leben entspricht dem Sternbild des Krebses. Christus führt die Jünger hinein in die Verhältnisse der spirituellen Welt und ihnen in den physischen Verhältnissen Abbilder schafft für die makrokosmische Welt. Da führt er sie hinauf bis zu der Stelle, wo die Kräfte des Initiierten wieder nutzbar werden für die Menschheit. Da steht er auf der Höhe, die nur angedeutet werden kann, indem er sagt: Er steht in der Sonnenhöhe, in dem Zeichen des Krebses! Kein Wunder daher, wenn das Matthäus-Evangelium an dieser Stelle darauf aufmerksam macht, daß das Christusleben für seine Erdenzeit auf seiner Höhe angekommen ist, und mächtig darauf hinweist mit den Worten: «Hosianna in der Höhe!» Und die nachfolgende Passah-Geschichte ist dann nichts anderes als das jetzt real-lebendige Einfließen dessen, was zuerst einfließen sollte in die Jünger als eine Lehre, und dann magisch einfließen soll in die Menschheit durch die Kräfte, die vom Mysterium von Golgatha ausgegangen sind. Daß die Jünger zu dieser Initiation heranreifen, daß sie Menschheits-Initiierte werden, das mußte der Christus seinen Schülern sagen. Er konnte sie noch darauf aufmerksam machen, daß man zur selbständigen Initiation nur heranwachsen kann, indem man in Geduld und Ausdauer das Innere reifen läßt. [8]

Zitate:

[1]  GA 139, Seite 171f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[2]  GA 139, Seite 175   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[3]  GA 139, Seite 176   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[4]  GA 139, Seite 126ff   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[5]  GA 139, Seite 130f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[6]  GA 123, Seite 228f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[7]  GA 123, Seite 223ff   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[8]  GA 123, Seite 225uf   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)

Quellen:

GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)