Sonnenheld

Unter den Graden (der Mysterien) war einer der höchsten der, welcher der Seele die Möglichkeit gegeben hat, in hohe Gebiete des geistigen Daseins hineinzuschauen. Man nannte ihn den Grad des Sonnenhelden (Heliodromos) oder des Sonnenmenschen. Aus dem Grunde nannte man ihn so, weil eine solche Seele, welche in der eben charakterisierten Weise zu erschauende Zusammenhänge in der Welt sieht, in der Tat das innere Leben soweit gebracht haben muß, daß es nicht, wenn es sich in die höchsten Gebiete des Erkennens erhebt, der inneren Willkür ausgesetzt ist, der das gewöhnliche Seelenleben ausgesetzt ist, sondern solchen Impulsen, die mit innerlich erkannter und erlebter Notwendigkeit wirken, so daß man sich sagte: Weichst du von ihnen ab, so richtest du eine solche Unordnung an, wie die Sonne im Weltall anrichten würde, wenn sie auch nur eine Weile von ihrer Bahn abweichen würde. Weil man auf einer solchen Stufe des Erkennens zu einer derartigen Festigkeit des inneren Lebens gelangt sein mußte, nannte man in den alten Mysterien solche Erkenner Sonnenmenschen. Es lag darin der Zusammenhang, welcher besteht zwischen dem, was wir in die Welt hinaussenden, und dem, was daraus herauswächst –, so wie das, was wir als die «Gesetze des Kosmos» erleben, herausgewachsen ist aus sittlichen Impulsen von Wesen ferner, ferner Zeiten. [1]

Was lange Zeit hindurch geübt wird als Karma, das geht in Weisheit über. Weisheit ist die Tochter von Karma. Alles Karma findet seinen Ausgleich in Weisheit. Ein Weiser, der auf einer bestimmten Stufe angekommen ist, heißt ein Sonnenheld, weil sein Inneres rhythmisch geworden ist. Sein Leben ist ein Abbild der Sonne, die in rhythmischen Bahnen den Himmel durchwandert. [2] Je höher zivilisiert der Mensch ist, um so mehr ist der Naturrhythmus im Abnehmen. Wie das Licht zur Weihnachtszeit verschwindet, so ist der Rhythmus schließlich scheinbar ganz aus dem Leben des Menschen verschwunden. Dann aber soll der Mensch diesen Rhythmus aus eigener Initiative aus seinem Inneren heraus gebären. Er soll sein Leben aus eigenem Willen so gestalten, daß es in rhythmischen Grenzen abläuft. Fest und sicher wie der Lauf der Sonne sollen sich die Ereignisse seines Lebens abspielen in Regelmäßigkeit. Im Sonnenhelden fand man die Verkörperung eines solchen Lebensrhythmus. Durch die Kraft des in ihm geborenen höheren Menschen gewann er die Kraft, den Rhythmus seines Lebenslaufes selbst zu beherrschen. Dieser Sonnenheld war auch der Christus für die ersten zwei Jahrhunderte. Daher wurde sein Geburtsfest verlegt in die Zeit, in der seit Urzeiten begangen wurde das Geburtsfest des Sonnenhelden. Daher auch alles, was mit der Lebensgeschichte des Christus Jesus verknüpft wurde, daher auch die mitternächtliche Messe, welche die ersten Christen in Höhlen begingen in Erinnerung an das Sonnenfest. In dieser Messe leuchtet um Mitternacht aus dem Finsteren heraus ein Lichtermeer als Erinnerung an den Aufgang der Geistessonne in den Mysterien. Daher läßt die Erzählung den Jesus geboren werden in einem Stalle, als Erinnerung an die Steinhöhle, aus der heraus in den erwachsenden Ähren, den Sinnbildern des Lebens das Leben geboren wurde. [3]

Der 5. Grad der Mysterieneinweihung, der bei den Persern «Perser» hieß, bei jedem Stamm den Namen des betreffenden Stammes hatte, der stand noch drinnen in der Gruppe; der Sonnenheld, der 6. Grad, der mußte herausgewachsen sein aus dem Stammes-, aus dem Gruppenzusammenhang, mußte im Menschheits-zusammenhang drinnenstehen. Mit dem Mysterium des Sonnenhelden mußte derjenige durchdrungen sein, der drei Jahre König sein durfte in jener Zeit (vor Christus bei den nördlichen Germanen; siehe dazu: Hertha; Nerthus). [4]

Zitate:

[1]  GA 63, Seite 286f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[2]  GA 93a, Seite 30   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[3]  GA 96, Seite 195f   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[4]  GA 173, Seite 282   (Ausgabe 1966, 396 Seiten)

Quellen:

GA 63:  Geisteswissenschaft als Lebensgut (1913/1914)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 173:  Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit – Erster Teil (1916)