Schrift okkulte

Diese Schrift ist nicht wie die unsrige ein äußerliches Abbild, das willkürlich in einzelnen Buchstaben und Gliedern festgesetzt ist, sondern sie ist herausgeboren aus den geistigen Naturgesetzen selbst. [1] Die okkulte Schrift stellt die Strömungen dar, welche die Welt durchfließen. [2] Die kosmischen Kräfte, die in der Welt wirken, offenbaren sich durch bestimmte Strömungen und Zusammenstellungen von Farben und Tönen. Diese okkulte Schrift ist in ihrer Struktur in die Welt hineingeschrieben. [3] Diese Zeichen sind das Gegenbild von astralen Vorgängen. Diese Zeichensprache, die als okkulte Schrift gelernt wird, ist nichts anderes als die Wiedergabe der Gesetze höherer Welten. [4]

Wenn Sie Ihr Gemüt schulen, um die okkulten Schriftzeichen zu verstehen, werden Sie durch die okkulte Schrift Ihren Willen stählen. Sie lernen die Wege kennen, welche die der Natur zugrundeliegenden geistigen Wesenheiten beschreiten. Ein schwacher Nachklang davon sind symbolische Schriftzeichen, wie das Pentagramm oder das Hexagramm. [5] Dieselbe Kraft, die als Urkraft im Willen des Menschen lebt, lebt auch in der ganzen äußeren Welt. Lernen wir unseren Willen schulen, dann lebt in uns Weltenwille, dann wird unser Wille eins werden mit dem Willen, der die Natur durchströmt. Das lernt der Mensch durch die selbstlose Hingabe an die okkulten Schriftzeichen. [6] Wer die okkulte Schrift kennt, kann die betreffenden Zeichen als Gedankenform hervorrufen; er hat dann in gewissen Fällen Macht über Andere. [7]

Ursprünglich werden nämlich alle Regeln und Lehren der Geistes-wissenschaft in einer sinnbildlichen Zeichensprache gegeben. Und wer ihre ganze Bedeutung und Tragweite kennenlernen will, der muß erst diese sinnbildliche Sprache sich zum Verständnis bringen. [8] Die okkulte Schrift offenbart sich der Seele, wenn diese die geistige Wahrnehmung erlangt hat. Denn diese Schrift steht in der geistigen Welt immer geschrieben. Man lernt sie nicht so, wie man eine künstliche Schrift lesen lernt. Man wächst vielmehr in sachgemäßer Weise der hellsichtigen Erkenntnis entgegen, und während dieses Wachsens entwickelt sich wie eine seelische Fähigkeit die Kraft, welche die vorhandenen Geschehnisse und Wesenheiten der geistigen Welt wie die Charaktere einer Schrift zu entziffern sich gedrängt fühlt. Die Zeichen entsprechen den Kräften, welche in der Welt wirksam sind. Von dem höheren Wissen in unmittelbarer Gestalt kann der Eingeweihte nur in der erwähnten Zeichensprache etwas mitteilen. [9]

Innerhalb der elementarischen Welt erinnert noch manches in den Vorgängen und Dingen, welche die hellsichtig gewordene Seele in dieser elementarischen Welt (siehe: Astralplan) um sich hat, an Eigenschaften, an Kräfte, an allerlei in der Sinneswelt. Wenn aber die Seele in die geistige Welt hinaufsteigt, dann treten ihr die Eigenschaften, die Merkmale der Vorgänge und Wesenheiten in einer ganz anderen Art entgegen, als dieses in der Sinneswelt der Fall ist. In einem viel erhöhteren Maße muß die Seele für die geistige Welt gewissermaßen sich abgewöhnen, mit den Fähigkeiten und mit dem Anschauungsvermögen, die für die Sinneswelt taugen, auskommen zu wollen. Und zu dem Beunruhigendsten gehört es ja für die menschliche Seele, gegenüberzustehen einer Welt, an die sie ganz und gar nicht gewöhnt ist, die für sie notwendig macht, daß sie alles gleichsam hinter sich läßt, was sie bisher hat erfahren, beobachten können. [10]

Das Verhältnis der Seele zu der gesamten Bilderwelt des Geistgebietes läßt sich vergleichen mit einem Lesen; und das, was man an Bildern vor sich hat, ist im Grunde genommen eine kosmische Schrift, und man hat die richtige Seelenverfassung dazu, wenn man sich so stellt, daß man fühlt, man habe in den Bildern eine kosmische Schrift vor sich, und die Bilder vermitteln, bedeuten einem dasjenige, was die Realität der geistigen Welt ist, vor welche eigentlich diese ganze Bilderwelt hingewoben ist. Daher muß man im echten, wahren Sinne sprechen von einem Lesen der kosmischen Schrift im Geistgebiete. So lesen lernen, wie man für diese (heutigen) Willkürzeichen lesen lernt, braucht man nicht gegenüber der kosmischen Schrift, die sich wie ein mächtiges Tableau als Ausdruck des Geisterlandes für die hellsichtig gewordene Seele darstellt. Sondern man soll eigentlich nur das, was sich da darstellt an Bildszenerie, unbefangen und mit empfänglicher Seele hinnehmen, denn das, was man daran erlebt, das ist schon das Lesen. Diese Bilder strömen sozusagen ihren Sinn von selber aus. Daher kann es leicht vorkommen, daß eine Art von Kommentieren, von Interpretieren der Bilder der geistigen Welt in abstrakten Vorstellungen eher ein Hindernis ist für das unmittelbare Hingelenktwerden der Seele zu dem, was hinter der okkulten Schrift steht, als daß es einen unterstützen könnte in diesem Lesen. Durch die Hingabe der Seele an diese Bilder ergibt sich das Verständnis, das gesucht werden sollte für die Welt des Geisterlandes. Wir erfahren durch das, was man längst kennt (ein typisches Beispiel ist die ganz normale Schrift), unter Umständen etwas, wovon wir uns nichts haben träumen lassen. So ist es auch mit den Bilderszenerien, die dem hellsichtigen Bewußtsein ringsum geoffenbart werden. Sie sind in gewisser Beziehung zusammengestellt aus Reminiszenzen der Sinneswelt; aber wie sie sich darbieten als kosmische Schrift, stellen sie dasjenige dar, was der Mensch nicht innerhalb der Sinneswelt und auch nicht innerhalb der elementarischen Welt erfahren kann. (Daher) soll immer wieder betont werden, daß dieses Sich-Verhalten zur geistigen Welt verglichen werden muß mit einem Lesen, nicht mit einem unmittelbaren Anschauen. [11]

Der große Unterschied zwischen Träumen, Halluzinationen und wirklicher Hellsichtigkeit besteht darin, daß man bei der Hellsichtigkeit überall das Bewußtsein hat, man ist sozusagen der okkulte Schreiber. Was man sieht, das wird aufgezeichnet als eine okkulte Schrift. Man schreibt das hin in die Welt, was einem ein Ausdruck, eine Offenbarung der Welt ist. Sie könnten natürlich sagen: Dann braucht man das nicht aufschreiben, denn das weiß man ja vorher. Warum soll man es aufschreiben? Das ist aber nicht wahr. Denn der, der dann schreibt, ist man nicht selber, sondern das ist die Wesenheit der nächststehenden höheren Hierarchie. Man gibt sich der Wesenheit der nächststehenden höheren Hierarchie (siehe: Angeloi) hin, und das ist die Kraft, die in einem waltet. Man schreibt ganz in einem inneren Seelenvorgange das auf, was durch einen waltet. Und indem man es dann anschaut, dieses Geschriebene in der okkulten Schrift, offenbart sich einem das, was zum Ausdruck kommen soll. [12] (Siehe dazu auch: Channelling).

Ebenso wie wir, wenn wir auf dem Papier die Zeichen, die das Wort «Haus» zusammensetzen, sehen, wie wir dann nicht unsere Aufmerksamkeit auf die Zeichen richten und nicht beschreiben die Formen der Buchstaben, sondern über die Form der Buchstaben, dadurch daß wir lesen können, zu der Vorstellung der Form des Hauses kommen, so eignen wir uns beim wirklichen Weg zum Hellsehen die Möglichkeit an, von der Gestalt zu dem wirklichen Wesen hinzugehen. Aus diesem Grunde spricht man im wahren Sinne des Wortes vom Lesen der okkulten Schrift, das heißt, vom innerlich lebendigen Hinausgehen über dasjenige, was die Vision ist zu dem, was die Vision (siehe: Vision und Halluzination) ausdrückt, aber real ausdrückt, wie die Schrift ausdrückt die Realitäten. [13]

Wenn der Mensch seine inneren Kräfte erstarkt, dann lernt er auch so innerlich zu leben, daß er im astralischen Leibe hellsichtig wird. Zu diesem Hellsichtigwerden im astralischen Leibe ist notwendig, daß man gewissermaßen immer eine deutliche Vorstellung hat von dem Sich-Gegenüberstellen der eigenen Wesenheit. So wie man im physischen Leben nicht gesund lebt, wenn man nicht voll bei seinem Bewußtsein ist, so lebt man gegenüber der Welt, die höher ist als die physische Welt, seelisch nicht gesund, wenn man sich nicht immer sieht. In der physischen Welt ist man selber, in der höheren geistigen Welt ist man so zu sich, wie man in der physischen Welt zu einem Gedanken ist, der ein vergangenes Erlebnis darstellt. Man verhält sich zu ihm wie zu einer Erinnerung. Wie man in der Sinneswelt sich zu einem Gedanken verhält, so weiß man in der geistigen Welt, daß man auf sich hinschaut, sich anschaut. Man muß immer sich dabei haben bei den Dingen, die man in der geistigen Welt erlebt. Wie der Schwerpunkt, um den sich alles gruppiert, ist die eigene Wesenheit. Wie man in der geistigen Welt hantiert, das merkt man an der eigenen Wesenheit. Man merkt: So ist man in der geistigen Welt. – Nehmen wir an, man ist in der geistigen Welt darinnen und man nimmt etwas Unrichtiges wahr, das heißt, man hantiert durch die okkulte Schrift unrichtig. Ja, wenn man durch die okkulte Schrift unrichtig hantiert und sich als den Schwerpunkt wahrnimmt, um den sich alles herumgruppiert, dann erlebt man an der eigenen Wesenheit: So schaust du aus, denn du hast etwas unrichtig gemacht; jetzt mußt du das verbessern! Man merkt an der Art und Weise, wie man wird, was man gemacht hat. So schauen Sie sich an, ob Sie sich richtig in der geistigen Welt verhalten. [14]

Das Gefühl, das ausgedrückt wird in den Worten: Ich nehme wahr –, erfährt eine Umänderung, eine Verwandlung, wenn wir uns auf das hellsichtige Feld begeben. (Ein) Gefühl des Wahrgenommenwerdens, des Angeschautwerdens, dieses Gefühl müssen wir uns gegenüber den Wesen des hellsichtigen Feldes aneignen. [15] Durch die okkulte Schrift, wird der Geistesschüler in die geistige, in die devachanische Welt hinaufgeführt, in das «Hören». [16]

Der Mensch erlebt sich in seinem Ich vom Aufwachen bis zum Einschlafen, und alle Erlebnisse sind Ich-Erlebnisse. Im astralischen Leibe erlebt sich der Mensch nicht. Dieser astralische Leib ist nämlich im Grunde genommen unendlich viel weiser als der Ich-Mensch. Er kann viel mehr als der Ich-Mensch kann. Dieser astralische Leib kann tatsächlich dasjenige lesen, was ich Ihnen andeutungsweise (versinnbildlichend) geschildert habe als okkulte Schrift. Der kann diese okkulte Schrift lesen, wirklich lesen. Und der Ätherleib ist etwas wie eine Schrifttafel, in welche durch die Vorgänge der Welt fortwährend die okkulte Schrift eingetragen wird. Der astralische Leib liest fortwährend das, was die Welt in den ätherischen Menschenleib einschreibt. Das geht in der Tat im Unterbewußtsein des Menschen vor sich. [17]

Zitate:

[1]  GA 53, Seite 273   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[2]  GA 94, Seite 286   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[3]  GA 97, Seite 212   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[4]  GA 96, Seite 148   (Ausgabe 1974, 350 Seiten)
[5]  GA 97, Seite 240   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[6]  GA 98, Seite 53   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[7]  GA 94, Seite 287   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[8]  GA 10, Seite 30   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[9]  GA 10, Seite 78f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[10]  GA 147, Seite 67   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[11]  GA 147, Seite 69ff   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[12]  GA 154, Seite 14   (Ausgabe 1973, 142 Seiten)
[13]  GA 154, Seite 85   (Ausgabe 1973, 142 Seiten)
[14]  GA 154, Seite 22ff   (Ausgabe 1973, 142 Seiten)
[15]  GA 154, Seite 85f   (Ausgabe 1973, 142 Seiten)
[16]  GA 98, Seite 25   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[17]  GA 156, Seite 115   (Ausgabe 1967, 183 Seiten)

Quellen:

GA 10:  Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/1905)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 96:  Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 147:  Die Geheimnisse der Schwelle (1913)
GA 154:  Wie erwirbt man sich Verständnis für die geistige Welt?. Das Einfließen geistiger Impulse aus der Welt der Verstorbenen (1914)
GA 156:  Okkultes Lesen und okkultes Hören (1914)