Der gegenwärtige Mensch kommt erst auf einer späteren Stufe seiner Entwickelung zu solcher Intuition, die es ihm möglich macht, ohne sinnliche Vermittelung mit dem Geiste in Berührung zu kommen. Er muß den Umweg durch die sinnliche Stofflichkeit machen. Man nennt diesen Umweg das Herabsteigen der Menschenseele in die Materie oder populär den «Sündenfall». [1]
Der Mensch hat sich seine Freiheit dadurch erkauft, daß sich seine Natur verschlechterte, weil er mit der Inkarnierung wartete, bis seine Natur heruntergestiegen ist in die dichteren physiologischen Zustände. In der griechischen Mythologie hat sich ein tiefes Bewußtsein von diesem Tatbestand erhalten. Wäre der Mensch schon früher zur Inkarnation gekommen – das sagt der Mythos der Griechen –, dann wäre das eingetreten, was Zeus wollte, als sich die Menschen noch im «Paradiese» befanden: Er wollte sie glücklich machen, aber als unbewußte Wesen. Das klare Bewußtsein hätte dann einzig bei den Göttern gelegen und der Mensch wäre ohne das Gefühl der Freiheit geblieben. Die Genesis bezeichnete diese spätere Inkarnation als den «Fall» des Menschen, den Sündenfall. (Die Monade) wartete und sank erst herunter, als die physische Menschen(anlage) schon eine Stufe weiter entwickelt war, um dann erst Besitz zu ergreifen von dem physischen Leib, damit er dann ein reiferes Bewußtsein entwickeln könne, als das früher der Fall gewesen wäre. [2] Die Juden verzeichnen denjenigen Zeitraum, wo die Menschen angefangen haben, sich als physische Menschen zu fühlen, als Menschen im Fleische zu fühlen, als den Sündenfall, als den Beginn, wo den Menschen die Erbsünde ergriffen hat. Aber eigentlich hat diese Erbsünde den Menschen mehrmals ergriffen. Zunächst hat sie ihn ergriffen im Beginne des dritten nachatlantischen Zeitraumes, als er einen Teil von sich auf Vater und Mutter, auf das Blut zurückgeführt hat und nur geglaubt hat, ein Spirituelles stülpe sich über ihn drüber. Das zweite Mal hat sie ihn ergriffen, als er begonnen hat, das Intellektuelle nurmehr als Erbliches anzusehen. Und in der Zukunft kommen noch andere Sündenfälle. [3]
Eigentlich ist der Erkenntnisprozeß des Menschen, die ganze Stellung des Menschen zur Welt nicht die, welche ihm vor dem luziferischen Einfluß zugedacht war. Denn zugedacht war ihm ein Erkenntnisprozeß, dem der Atmungsrhythmus zugrunde liegt. Dadurch entwickelte sich –, nehmen wir die Sache jetzt rein körperlich, aber das Körperliche hat dabei eine tiefere Bedeutung – beim Menschen vor dem Mysterium von Golgatha gewissermaßen das Erkennen anstatt an Brust und Atmung gebunden, höher herauf in seinem Organismus, an den Kopf und an die Sinne gebunden. [4]
Wir haben es (vor dem Sündenfall) zu tun mit einer Kraft auf der Erde, die die Macht der Selbsthervorbringung hat: Kriyashakti. Diese ist heute auf der Erde nur noch in den allerhöchsten Mysterien vorhanden. Damals hatte sie jeder in sich. Durch diese Kraft konnte der Mensch sich selber fortpflanzen; sie wurde damals in zwei Hälften gespalten. Dadurch entstanden die zwei Geschlechter auf der Erde. Die ganze Kraft der Selbsthervorbringung zog Jehova (siehe: Jahve) aus der Erde heraus und setzte sie im Monde neben die Erde hin. Dadurch besteht der Zusammenhang zwischen der Reproduktionskraft und den Mondenwesen. Nun haben wir den Menschen mit der geschwächten Reproduktionskraft, aber noch nicht mit der Möglichkeit, sich zu vergeistigen. Dieses waren die Vorgänger der jetzigen Menschheit. Zu ihnen kamen nun die Mondadepten. Sie sagten ihnen: Ihr müßt nicht Jehova oder Jahve folgen, er wird euch nicht zur Erkenntnis kommen lassen; aber ihr sollt Erkenntnis erlangen. – Das ist die Schlange. Die Schlange steht dem Weibe gegenüber, denn das Weib hatte die Kraft, sich aus sich selbst heraus fortzupflanzen. Jetzt sagt Jahve: Der Mensch ist geworden wie unsereiner – und bringt nun den Tod in die Welt und alles, was damit zusammenhängt. Luzifer nennt man die Mondadepten; sie sind die Geber dessen, was menschliche Intellektualität ist. Das gaben sie dem Astralleib und dem physischen Leib, sonst hätte die Monade in diese nicht einziehen können und die Erde wäre dann ein planetarisches Denkmal von Jahves Größe geworden. Durch das Eingreifen des luziferischen Prinzips wurde die menschliche Selbständigkeit, die Geistigkeit gerettet. Jahve hat dann, damit der Mensch sich nicht ganz vergeistige, die Selbsthervorbringungskraft halbiert. Der Mensch trägt also durch Jahves Macht die Möglichkeit in sich, zu erstarren. Wenn man die drei unteren Körper beobachtet, so haben diese den Keim in sich, zum physischen Zustand der Erde zurückzukehren. Die oberen Teile: Atma, Buddhi, Manas haben erst in den Menschen einziehen können dadurch, daß die Schlange hinzukam. Der Mensch bekam dadurch neues Leben. [5]
Der Sündenfall wurde aufgefaßt als ein moralischer Sündenfall, er hat zuletzt auch den Intellekt beeinflußt; der Intellekt fühlte sich an den Grenzen der Erkenntnis. Ob nun der alte Theologe von der Sünde oder Du Bois-Reymond von den Grenzen des Naturerkennens spricht, ist im Grunde genommen ein und dasselbe, nur in einer etwas anderen Form. Ich mache (aber) darauf aufmerksam, wie man nun erfassen muß das allerdings bis zum reinen Denken filtrierte Geistige, und wie man von da den Sündenfall rückgängig machen kann, wie man sich durch die Spiritualisierung des Intellektes wiederum zum Göttlich-Geistigen hinaufarbeiten kann. Der Mensch muß durch den Erkenntnisweg die Bahn der Götter wieder finden. [6]
Wäre dieses Ereignis (des Falles) nicht gekommen, so würde die ganze Entwickelung der Menschheit auf der Erde eine andere geworden sein, und die Menschen würden in einem viel vollkommeneren Zustande von Inkarnation zu Inkarnation gegangen sein. Der Sündenfall aber ist es erst, der den Menschen aufgerufen hat zu seiner jetzigen Individualität; so daß der Mensch, wie er als Individualität von Inkarnation zu Inkarnation geht, nicht für den Sündenfall verantwortlich ist. Wir wissen aber, daß die luziferischen Geister für den Sündenfall verantwortlich sind. Der Sündenfall brauchte einen Ausgleich; etwas, was sozusagen wiederum nicht eine Angelegenheit der Menschen war, sondern eine Angelegenheit der Götter untereinander. Und wir werden sehen, daß sich diese Angelegenheit so tief unterhalb der Materie abspielen mußte, wie sich die andere Angelegenheit, bevor sich der Mensch in die Materie verstrickt hatte, über der Materie abgespielt hat. Der Gott mußte so tief in die Materie eintauchen, als er die Menschen hat in dieselbe versinken lassen. Diese Inkarnation des Christus in dem Jesus von Nazareth war eine Angelegenheit des Christus selber. Und wozu war der Mensch dabei berufen? Zunächst um zuzuschauen, wie der Gott die Tat des Sündenfalles wieder ausgleicht, wie er ihre Gegentat schafft. [7]
Als die luziferische Versuchung kam, da waren die fortschreitenden Götter genötigt, den Menschen in eine Sphäre zu versetzen, wo vom Lichtäther (siehe: Äther-Ätherarten) nach abwärts in seinem physischen Leibe der Tod lebt. Aber dazumal sagten diese fortschreitenden Götter – und das Wort ist wohl in der Bibel verzeichnet –: «Die Unterscheidung von Gut und Böse hat sich der Mensch angeeignet, aber das Leben, das soll er nicht haben. Vom Baume des Lebens soll er nicht essen». Und ein anderes Wort kann im Sinne des Okkultismus dazugefügt werden: Vom Geiste des Stoffes soll der Mensch nicht hören. Diese Regionen (der Lebensäther und der Klangäther) sind diejenigen, die dem Menschen verschlossen wurden. Nur durch eine gewisse Prozedur in den alten Mysterien wurden den Einzuweihenden, als sie vorausnehmend den Christus sehen durften außer dem Leibe, auch die Töne der Sphärenmusik erschlossen und das durch die Welt pulsende kosmische Leben. Daher sprechen die alten Philosophen von der Sphärenmusik.
Der Christus aber zog bei der Johannestaufe im Jordan in einen Menschenleib ein, und dasjenige, was diesen Menschenleib durchsetzte, das war das Geistige der Sphärenmusik, das war das Geistige des kosmischen Lebens, das war dasjenige, was zur Menschenseele noch gehörte während ihrer ersten Erdenzeit, woraus aber die Menschenseele verbannt werden mußte durch die luziferische Versuchung. Der Mensch gehört eigentlich mit seiner Seele der Region der Sphärenmusik und der Region des Wortes, des lebendigen kosmischen Äthers an. Aber er wurde daraus vertrieben. Und wiedergegeben sollte es ihm werden, so daß er sich nach und nach mit dem, woraus er verbannt worden war, wiederum durchdringen könne. [8]
(Auch) das Pflanzenreich lebt in einer anderen Sphäre als in derjenigen, in der es die Metamorphose reinlich ausbilden würde. Das ist durch jenes große Ereignis gekommen, wodurch die Menschheit von einer höheren Sphäre in eine tiefere durch die luziferische Versuchung heruntergekommen ist. Aber das, was da in den Pflanzen wirksam wäre, wenn sie die Metamorphose völlig zum Ausdruck brächten, wenn also aus der Pflanze die nachfolgende einfach herauswüchse und nicht die sinnliche Befruchtung eintreten würde, die Kräfte, die da leben würden, die sind geistig geworden, leben geistig in unserer Umgebung, und die machen es, daß der Mensch seine sinnlichen Organe so hat, wie er sie jetzt hat. Indem Luzifers Wort dahinging: «Eure Augen werden aufgetan sein», meinte er damit: «Ihr werdet als Menschen in eine andere Sphäre versetzt werden. Diese andere Sphäre hatte notwendig im Gefolge, daß die Pflanzenwesen ihre Anlage nicht voll entwickeln konnten, aber die menschlichen Augen wurden aufgetan. Das Licht wirkte so, daß es wirklich im Goetheschen Sinne die Augen auftun konnte. Aber allerdings, dieses Auftun der Augen war in anderer Beziehung ein Zumachen. Denn indem die Menschen ihre Augen richten konnten, überhaupt ihre Sinne richten konnten auf die äußere Sinneswelt, drang der Geist nicht in sie ein, der in der Sinneswelt lebte. Sie wurden geschlossen für die Offenbarung des Geistes, diese Augen. [9] Mineralreich, Pflanzenreich und das Reich der kaltblütigen Tiere, diese Reiche sind nicht so, wie sie ursprünglich veranlagt waren. Sie sind heruntergestiegen aus einer Sphäre in die andere und sind dasjenige erst geworden, was heute notwendig macht, daß das Sexualitätsprinzip in ihnen waltet. Man kann sagen, diese Reiche kommen nicht zur völligen Ausbildung der Anlagen, die sie in sich haben, sondern es muß nachgeholfen werden. Die Pflanze hat in sich die ursprüngliche Anlage, wie sie ist für sich, nicht nur sich zu metamorphosieren vom Blatt zur Blüte, sondern auch eine ganz neue Pflanze hervorzubringen. Aber es fehlen ihr die Kräfte, dazu zu kommen; dazu bedarf es einer äußeren Anregung, weil die Region verlassen worden ist, in der das Pflanzenreich war. Auch mit dem Mineralreich würde es anders sein, und mit dem Reich der kaltblütigen Tiere. Diese Wesen sind dazu verurteilt, gewissermaßen auf halbem Wege stehenzubleiben. Und sehen wir uns das andere Ende der Natur an: das Reich der warmblütigen Tiere, das Reich derjenigen Pflanzen, die es bis zur Verholzung bringen, die Bäume, und sehen wir uns an die warmblütigen Tiere und das physische Menschengeschlecht. Nicht nur der physische Mensch, der zur Unsterblichkeit geschaffen ist, hat nicht seine Anlage in sich, sondern auch die anderen Wesen, die verholzenden Gewächse und die warmblütigen Tiere tragen schon den Tod in sich. [10] Die ersteren Wesen kommen mit ihrer Entwickelung nicht zu Ende; sie bedürfen eines anderen Einflusses. Die verholzenden Pflanzen, die warmblütigen Tiere und die Menschen, die verleugnen in der Art, wie sie jetzt sind, ihren Anfang. Die anderen kommen nicht zu Ende, und diese Wesen zeigen sich heute so, daß man aus dem, wie sie sind, nicht unmittelbar ihren Anfang erkennen kann. Der Mensch ist an alledem schuld, durch sein Erliegen der luziferischen Versuchung. Es ist für die Geisteswissenschaft ein solches Faktum, das sich nicht nur beim Menschen abgespielt hat, sondern das sich abgespielt hat zwar zunächst im Menschen, aber der Mensch war dazumal noch so mächtig, so stark, daß er die ganze übrige Natur hineingezogen hat. [11] Selbst unser Denken unterliegt gewissermaßen der Erbsünde und muß von ihr erlöst werden, um wiederum in die Wirklichkeit einzudringen. [12]
Dasjenige, was menschlicher Ätherleib ist, ist nicht so, wie es ursprünglich für den Menschen bestimmt war. Davon geht alles übrige aus. Denn dieser menschliche Ätherleib, der enthält unter dem verschiedenen Ätherischen, das er ursprünglich enthielt – und er enthielt ursprünglich alle Äthersorten (siehe: Ätherarten) in völliger Lebendigkeit –, heute die Wärme. Daher hat der Mensch mit den Tieren, die er in seinen «Fall» mit hineingebracht hat, warmes Blut. Da hat der Mensch die Möglichkeit, den Wärmeäther in besonderer Weise zu verarbeiten. Aber schon mit dem Lichtäther ist es nicht so. Den Lichtäther nimmt der Mensch zwar auf, aber er strahlt ihn so aus, daß nur ein gewisses niederes Hellsehen dazu kommt, in der Aura die ätherischen Farben im Menschen zu sehen. Die sind vorhanden. Aber außerdem ist der Mensch auch für einen eigenen Ton veranlagt gewesen, in der ganzen Harmonie der Sphären (siehe: Sphärenharmonie) mit seinem eigenen Ton und mit einem ursprünglichen Leben, so daß der Ätherleib immer die Möglichkeit gehabt hätte, den physischen Leib unsterblich zu erhalten, wenn dieser Ätherleib seine ursprüngliche Lebendigkeit beibehalten hätte. Es würden andere Dinge nicht gekommen sein. Denn wäre dieser Ätherleib in seiner ursprünglichen Gestalt geblieben, so wäre der Mensch ja in der oberen Region geblieben, von der er in die untere heruntergestiegen ist. [13]
[1] | GA 11, Seite 80 | (Ausgabe 1955, 252 Seiten) |
[2] | GA 93, Seite 26f | (Ausgabe 1979, 370 Seiten) |
[3] | GA 191, Seite 112 | (Ausgabe 1983, 296 Seiten) |
[4] | GA 176, Seite 246 | (Ausgabe 1982, 392 Seiten) |
[5] | GA 93a, Seite 184f | (Ausgabe 1972, 286 Seiten) |
[6] | GA 220, Seite 134f | (Ausgabe 1966, 214 Seiten) |
[7] | GA 131, Seite 89f | (Ausgabe 1958, 244 Seiten) |
[8] | GA 155, Seite 198f | (Ausgabe 1982, 252 Seiten) |
[9] | GA 175, Seite 259 | (Ausgabe 1982, 416 Seiten) |
[10] | GA 175, Seite 235 | (Ausgabe 1982, 416 Seiten) |
[11] | GA 175, Seite 237 | (Ausgabe 1982, 416 Seiten) |
[12] | GA 175, Seite 239 | (Ausgabe 1982, 416 Seiten) |
[13] | GA 175, Seite 242 | (Ausgabe 1982, 416 Seiten) |
GA 11: | Aus der Akasha-Chronik (1904/1908) |
GA 93: | Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906) |
GA 93a: | Grundelemente der Esoterik (1905) |
GA 131: | Von Jesus zu Christus (1911) |
GA 155: | Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914) |
GA 175: | Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917) |
GA 176: | Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917) |
GA 191: | Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919) |
GA 220: | Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923) |