Erbsünde

Die Wirkung der beiden Geschlechter aufeinander – auch noch in der atlantischen Zeit – geschah dann, wenn das physische Bewußtsein eigentlich schlief, sozusagen in der nachtschlafenden Zeit. Erst in der Mitte der atlantischen Zeit trat das ein, was wir das Gefallen der Geschlechter, die leidenschaftliche Liebe nennen könnten, also alles das, was sich an sinnlicher Liebe beimischte der reinen übersinnlichen Liebe. Und während früher alles, was an dem Menschen gestaltend wirkte, eine Folge der geistig-göttlichen Umgebung war, wurde es jetzt mehr eine Folge der Leidenschaften und Triebe der beiden Geschlechter, die aufeinander wirkten. Es ist mit dem Zusammenwirken der beiden Geschlechter die sinnliche Begierde verknüpft worden, die angeregt wurde durch das äußere Auge, durch das äußere Sehen des andersgeschlechtlichen Wesens. Daher wurde dem Menschen mit seiner Geburt etwas einverleibt, was mit der besonderen Art der Leidenschaften zusammenhängt. Während früher der Mensch das, was in ihm war, noch von den göttlich-geistigen Wesen seiner Umgebung erhielt, bekam er jetzt durch den Befruchtungsakt etwas mit, was er als ein in sich selbständiges, abgeschlossenes Wesen aus der Sinneswelt in sich aufgenommen hatte. Nachdem die Menschen in die Zweigeschlechtlichkeit eingetreten waren, geben sie das, was sie selber erlebten in der Sinneswelt, ihren Nachkommen mit. Was jetzt von außen an die Menschen herantritt, ist in die Sphäre des selbständigen Menschen herabgezogen, ist nicht mehr im vollen Einklang mit dem göttlich-geistigen Kosmos.

Und damit haben wir jetzt das, was wir uns im echten, wahren Sinne vorzustellen haben unter der «Erbsünde». Die Erbsünde wird dadurch herbeigeführt, daß der Mensch in die Lage kommt, seine individuellen Erlebnisse in der physischen Welt auf seine Nachkommen zu verpflanzen. Jedesmal, wenn die Geschlechter in Leidenschaften erglühen, mischen sich in den aus der astralischen Welt herabkommenden Menschen (siehe: Inkarnationsvorgang) die Ingredienzien der beiden Geschlechter hinein. Wenn sich ein Mensch inkarniert, kommt er aus dem Devachan herunter und bildet sich seine astralische Sphäre nach der Eigenart seiner Individualität. Dieser eigenen astralischen Sphäre mischt sich etwas bei aus dem, was den astralischen Leibern, den Trieben, Leidenschaften und Begierden der Eltern eigen ist. [1] Die Versuchung des Luzifer fällt gerade in die Zeit hinein, da der Mensch vor dem Torschluß stand, sein Ich zu erhalten. Der Mensch ist damals mit dem Astralleib Sünder geworden. Dadurch, daß unser Astralleib schuldig geworden ist vor unserer Ich-Werdung, dadurch ist die Tatsache herbeigeführt worden, daß der Mensch nun in den folgenden Inkarnationen sozusagen in jeder, tiefer in die physische Welt heruntersinken mußte. Dadurch war der Mensch auf eine schiefe Ebene nach abwärts gekommen, dadurch folgt er mit seinem Ich Kräften in seiner Natur, welche aus seiner Vor-Ich-Entwickelung herrühren. [2]

Eigenschaften, die man sich nach vollendeter Geschlechtsreife erwirbt, tragen nichts dazu bei, das Geschlecht des Menschen zu verbessern, sondern können nur dazu beitragen, es zu verschlechtern. Nachdem der Ätherleib vollständig entwickelt ist, also ungefähr vom 14. Jahre ab, entwickelt sich der Astralleib weiter. In dem steckt aber der Einfluß des Luzifer! Was da aber wieder zurückgeht in die Entwickelung des Ätherleibes hinein, das kann nur die Möglichkeit hervorrufen, diese Kräfte des Ätherleibes, die darin beruhen, daß er Wesen seinesgleichen hervorbringen kann, weniger fähig zu machen. Das heißt, das, was der Astralleib geworden ist durch jene Versuchung des Luzifer, ist ein fortwährender Grund für eine Degeneration des Menschengeschlechtes, für ein Herunterkommen des Menschen. Die Sünde, welche der Mensch sich erwirbt mit seinem Ich, mag zurückwirken auf den Astralleib, sie kann sich nur im Karma austragen. Die Sünde, welche der Mensch auf sich geladen, bevor er ein Ich hatte, trägt bei zu einer fortwährenden Degeneration, Verkümmerung des ganzen menschlichen Geschlechtes. Diese Sünde wurde vererbbare Eigenschaft. Es vererbt sich das, was da hineinkam durch Luzifer in den Astralleib, von Geschlecht zu Geschlecht. [3]

Wir haben das Schicksal als Menschen, ohne sprechen zu können von der moralischen Verfehlung, daß wir Menschen Luzifer-erfüllt sind. Wir sind gefallen, ohne unsere Schuld. Wir müssen steigen können deshalb ohne unseren Verdienst. Das ist der notwendige andere Pol. Sonst müßten wir unten bleiben in der physisch-materiellen Welt. [4] Was wir tun, was wir versuchen, um dem Christus nahezukommen, das gehört schon in unser Ich, das ist schon unser Verdienst. Daß der Christus da ist, das ist nicht unser Verdienst. Es kommt uns durch das Dasein des Christus auf Erden die Kraft, wiederum hinaufzusteigen. So wie der Mensch seinen astralischen Leib schlechter gemacht hat durch die Erbsünde, so macht er ihn wiederum besser durch den Christus-Impuls. Das ist das Äquivalent, der Ergänzungsbegriff zum Erbsündebegriff, das ist dasjenige, was man im wahren Sinne die Gnade nennt. Karma ist für den Menschen ohne die Anwesenheit des Ich gar nicht zu denken. Soferne wir von Erbsünde und Gnade sprechen, sprechen wir von Impulsen, die unter der Fläche des Karma liegen, die im astralischen Leibe liegen. Ja, wir dürfen sagen, wie das menschliche Karma ist, ist es erst dadurch herbeigeführt worden, daß der Mensch die Erbsünde auf sich geladen hat. Das Karma läuft durch die Inkarnationen hindurch, und vorher und nachher stehen Dinge, welche das Karma einleiten und wieder ausgleichen, vorher die Erbsünde und nachher der volle Erfolg des Christus-Impulses, das Eintreten der vollen Gnade. [5]

Die Tatsache der Vererbung, man sah sie, indem man sie in die Naturerscheinungen hineinrückte. Immer mehr und mehr wurde der Glaube verbreitet, die Vererbung sei eine Naturerscheinung. Jede solche Tatsache, die auftritt im Leben, ruft ihren polarischen Gegensatz hervor. Die Folge davon war eine furchtbare Verunglimpfung des Willens. Diese Verunglimpfung des menschlichen Willens, sie besteht darinnen, daß man – weil der Gegensatz sich ausbildete – eine Tatsache der Vorzeit (Einfluß der luziferisch-ahrimanischen Geister), in den menschlichen Willen hineinrückte, und eine Tatsache, die man eigentlich auf dem Naturfeld suchte, so wirksam hat in der menschlichen Seele, daß es einen hineintrieb in eine moralische Weltanschauung: (Es entstand) der Glaube, daß durch den menschlichen Willen einstmals das geschehen sei, was dann als Erbsünde durch die Welt geht. Damit war auch das Denken der Menschen verdorben. So wie sich gewöhnlich die Menschen die Erbsünde vorstellen, ist die ganze Vorstellung eine furchtbare Gotteslästerung. [6]

Der Mensch bekommt, indem er geboren wird, etwas mit wie ein Modell zu seiner Menschenform. Die Vorfahren geben ihm ein Modell mit. Und an diesem Modell entwickelt der Mensch dasjenige, was er später wird. Das aber, was er da entwickelt, ist das Ergebnis dessen, was er aus geistigen Welten herunterträgt. Warum können wir nicht einfach, wie es in den älteren Phasen der Erdentwickelung der Fall war, warum können wir nicht einfach, indem wir heruntersteigen und unseren Ätherleib an uns heranziehen – den ziehen wir ja durch unsere eigenen Kräfte (siehe: Bildekräfte) heran, die wir heruntertragen aus der geistigen Welt –, warum können wir so nicht auch die physische Materie heranziehen und ohne physische Abstammung unseren physischen Leib formen? Ältere Weltanschauungen haben gesagt: Ursprünglich war der Mensch dazu veranlagt, sich in der Weise auf die Erde hereinzustellen, daß er ebenso wie er seinen Ätherleib aus der allgemeinen kosmischen Äthersubstanz heranzieht, so auch seinen physischen Leib sich bildet aus den Substanzen der Erde. Nur ist der Mensch den luziferischen und ahrimanischen Einflüssen verfallen, und dadurch hat er die Fähigkeit verloren, sich aus seiner Wesenheit heraus seinen physischen Leib aufzubauen, und muß ihn aus der Abstammung entnehmen. Diese Art, zu einem physischen Leib zu kommen, ist für den Menschen ein Ergebnis der Erbsünde. Das haben ältere Weltanschauungen gesagt, das ist die eigentliche Grundbedeutung der Erbsünde: hinein sich versetzen zu müssen in die Erbverhältnisse. Und so ist der Mensch darauf angewiesen, nicht sogleich beim Hereintreten in die Erdenverhältnisse sich seinen physischen Leib von sich aus zu bilden, sondern er braucht eben ein Modell, jenes Modell, welches heranwächst in den ersten sieben Lebensjahren. Da er sich nach diesem Modell richtet, so ist es natürlich, daß von diesem Modell auch im späteren Leben etwas an ihm bleibt, mehr oder weniger. Derjenige, der als Mensch, welcher an sich selber wirkt, ganz und gar vom Modell abhängig ist, der wird, wenn ich so sagen darf, vergessen, was er eigentlich heruntergebracht hat, und wird sich ganz nach dem Modell richten. Derjenige, der stärkere innere Kraft hat, durch seine früheren Erdenleben erworben, wird sich weniger nach dem Modell richten, und man wird dann sehen können, wie er sich sehr bedeutend verändert zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife. [7]

Wir sind heute ganz abgekommen von der Auffassung des Menschen als eines Wesens, das in das Erdenleben hereintritt, behaftet mit Sünden, weil die moderne Auffassung überhaupt gar nichts mehr weiß von dem, was Sünde bedeutet. Was hat sich denn da zum Sündenbegriff verdichtet? Das, was ich Ihnen in diesen Tagen hier als das Gesetz der Vererbung gezeigt habe, das liegt in der Sünde, in der Erbsünde. Und auch die individuelle Sünde ist also etwas, was der Mensch in der zweiten Hälfte seines Lebens zu überwinden hat: er muß richtig überwinden das sündhafte Modell, das aus der Vererbung stammt, man kann auch sagen, aus dem kranken Modell nach den alten Begriffen. Aber würde das der Mensch als seinen Leib behalten, was in seinem Modell bis zum Zahnwechsel wirkt, würde er das sein Leben lang an sich tragen, dann würde er mit neun Jahren ein Mensch sein, der – ja nun, er würde mit einem feuchten Ekzem an der ganzen Haut bedeckt sein, wenn die Organisation so fortgehen würde; er würde Löcher bekommen am ganzen Leib, würde wie ein Aussätziger ausschauen, dann würde das Fleisch von den Knochen abfallen, wenn er das überhaupt aushalten würde. Der Mensch wird krank hineingeboren in die Welt; und erziehen, das heißt, erkennen und leiten das, was nach dem Modell arbeitet, heißt dasselbe wie leises Heilen. [8]

Zitate:

[1]  GA 107, Seite 141f   (Ausgabe 1973, 328 Seiten)
[2]  GA 127, Seite 158f   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[3]  GA 127, Seite 160f   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[4]  GA 127, Seite 162   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[5]  GA 127, Seite 166f   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[6]  GA 184, Seite 242f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[7]  GA 235, Seite 84ff   (Ausgabe 1984, 228 Seiten)
[8]  GA 316, Seite 219   (Ausgabe 1980, 246 Seiten)

Quellen:

GA 107:  Geisteswissenschaftliche Menschenkunde (1908/1909)
GA 127:  Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution (1911)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 235:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Erster Band (1924)
GA 316:  Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst (1924)