Christus-Impuls

Wenn der Mensch sagen darf: Nun ja, ich kann krank sein, ich kann schwach sein, ich kann sterben, aber von meinem Ich aus kann ich mich stärker machen, kann ich etwas in meine Organisation hineinsenden, was mir Stärke, was mir Kraft gibt unmittelbar aus den geistigen Welten heraus. – Wie er es nennt, ist gleich. Wenn der Mensch zu dieser Empfindung kommt, dann ist er vom Christus-Impuls ergriffen. Nicht derjenige, der sagt, daß er etwas haben kann von einem Lehrer, der von Inkarnation zu Inkarnation gegangen ist, sondern derjenige, der empfindet, daß unmittelbar aus der geistigen Welt Impulse der Kraft, der Stärke kommen können, der ist vom Christus-Impuls ergriffen. Diese innere Erfahrung können die Menschen machen, ohne sie werden die Menschen in der Zukunft nicht leben können. [1] Der Eintritt des göttlichen Bewußtseins, das durch das Ich spricht, ist das Wesen des Christus-Impulses.

Und daß dieser Christus-Impuls in die Menschheit eintreten konnte, hat das Historischwerden des alten Einweihungsprinzipes bewirkt das Mysterium von Golgatha; es ist die Ursache. Was in den Menschenseelen im Laufe der Erdentwickelung noch bis in ihre fernste Zukunft immer mehr und mehr hervortreten wird, das ist, daß ein klares Erkennen des Göttlich-Geistigen, dem der Mensch angehört und durch das er unabhängig wird von allem Erdenwerden, durch das Ich spricht.

Scharf nun betont das Christentum: Alles solches Fühlen des Göttlichen, auch wenn es von sich spricht als «Ejeh asher ejeh» – «Ich bin der Ich-bin» ist noch nicht das, was den Menschen in seiner vollsten Gestalt zeigt, sondern erst, wenn man etwas fühlt, was im Geistigen jenseits aller Generationen ist, dann hat man erfaßt, was als Göttliches in den Menschen hereinwirkt. Deshalb muß man in richtiger Übersetzung des Satzes sagen: Ehe denn Abraham war, war das Ich-bin! – Das heißt in seinem Ich erlebt der Mensch ein Ewiges, das ursprünglicher ist als dasjenige Göttliche, das von Abraham sich durch die Generationen hindurch ausgelebt hat. [2]

Der Weg zu Christus geht auf der einen Seite durch übersinnliche Gedanken, auf der anderen Seite durch den Willen. Durch den Gedanken, indem wir von vornherein überzeugt sind: wir werden heute geboren als vorurteilsvolle Menschen, wir müssen uns die Vorurteile durch das tolerante Abschleifen unserer Vorurteile an den Meinungen anderer erwerben. In bezug auf den Willensweg müssen wir sagen: unser Wille erhält heute nur das richtige soziale Feuer, wenn wir selbsterworbenen Idealismus haben, Idealismus, den wir in uns hineingetrieben haben durch eigene Tätigkeit. Das gibt Wiedergeburt. Und was wir so gefunden haben, indem wir es uns als Mensch erworben haben, das führt erst zum Christus. Von diesem Christus spricht die moderne Theologie eigentlich sehr wenig. Dieser Christus muß als ein sozialer Impuls in die Menschheit hineinkommen. [3] Wir reden davon, daß durch das Mysterium von Golgatha der Christus-Impuls in die Erdentwickelung, zunächst in die Menschheitsentwickelung eingezogen ist, mit ihr nun verbunden ist. Die Leute sagen, sie sehen ihn nicht. Ja, sie können ihn solange nicht sehen, solange sie sich über den Menschen selber täuschen, solange sie etwas ganz anderes als den Menschen anschauen, als der Mensch wirklich ist. In dem Augenblicke, wo das nicht eine Theorie ist, sondern lebendig empfundene Wirklichkeit der Seele ist, die uns befähigt, in dem Menschen ein Übersinnliches zu sehen, in dem Augenblicke erziehen wir in uns die Fähigkeit, den Christus-Impuls mitten unter uns überall wahrzunehmen. [4]

Das natürliche Leben der Menschen vom fünften nachatlantischen Zeitraum an ist eine Art fortwährenden langsamen Erkrankens. Alle Erziehung, alle Kultureinflüsse müssen darauf hinwirken, gesund zu machen. Das ist gewissermaßen die erste, wahre Impulsivität des Christus-Impulses: die Heilung. Der Heiland, der Heilende zu sein, dazu ist er ganz besonders berufen im fünften Zeitraume. Die anderen Formen des Christus-Impulses müssen im Hintergrunde sein. Für den sechsten nachatlantischen Zeitraum muß der Christus-Impuls besonders wirken für das Sehertum. Da kommt das Geistselbst, Manas zur Ausbildung, innerhalb dessen der Mensch nicht leben kann ohne das Sehertum. Und im siebenten nachatlantischen Zeitraum wird eine Art prophetischer Natur, weil es ja prophetisch hinübergehen muß in eine ganz neue Zeit, als das dritte sich entwickeln; die anderen drei Glieder der sechsteiligen Christus-Weisheit werden in den folgenden Zeiten wirken. Das ist das reale Einleben des Christus-Impulses. Ein Tor ist aufgeschlossen worden durch die Jahve-Weisheit. Doch dieses Tor ist unpraktikabel geworden in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wenn es allein durchschritten werden soll, so kann nichts anderes kommen, als daß gewissermaßen alle Völker ihrer Form nach hebräische Kulturen entwickeln. Andere Tore müssen geöffnet werden, das heißt, es muß die Initiationsweisheit, die durch ein zweites, ein drittes, ein viertes Tor bekannt wird, zu derjenigen Weisheit hinzutreten, die durch das Jahve-Tor bekannt geworden ist. Nur so kann der Mensch in andere Zusammenhänge hineinwachsen als in diejenigen, die durch die Bluts-, das heißt durch die Atmungsbande geregelt sind, und das wird in der Zukunft von besonderer Wichtigkeit für ihn sein. [5]

Die Menschen wollen sich ja gar keine Vorstellungen davon machen, wie sie selbst in Wechselbeziehung stehen zu dem, worinnen der Christus ist. Für unsere Kopfvorstellungen ist nicht viel bemerklich von dem Einfluß des Christus-Impulses. Sobald wir aber hinunterschauen in das Unbewußte, in die Fühlsphäre und Willenssphäre, dann leben wir erstens in der Sphäre der Elementarwesen, aber diese Sphäre der Elementarwesen, die wird für uns zu gleicher Zeit durchwoben von dem Christus-Impuls. Wir tauchen durch unser rhythmisches System – physiologisch gesprochen, durch unsere Fühlsphäre – (psychologisch gesprochen), in das Gebiet hinunter, mit dem sich der Christus für das Erdendasein vereinigt hat. Da finden wir also sozusagen den Ort, an dem der Christus real, nicht nur durch Tradition oder durch eine subjektive Mystik, sondern real, objektiv zu finden ist. Wir leben aber zu gleicher Zeit in der Epoche, von welcher an die Ereignisse, die von diesem Orte kommen eine große objektive Bedeutung für das Menschenleben haben, denn sie gewinnen allmählich für die menschlichen Entschlüsse, für das, was die Menschen tun, wenn sie sich dagegen sträuben, einen unbewußten Einfluß. Wenn die Menschen eingehen darauf, können sie einen bewußten Einfluß erleben, das heißt, wir können mit ihnen rechnen, wir können gewissermaßen die geistigen Welten, die zu uns gehören, aufrufen, mit uns zu wirken. [6] Seitdem das Mysterium von Golgatha in der Erdentwickelung sich abgespielt hat, gehört alles dasjenige, was auf das Menschenzusammenleben sich bezieht, in einem gewissen Sinne zu diesem Christus-Impuls, er gehört nicht dem einzelnen Menschen, sondern dem menschlichen Zusammenleben. Es ist, im Sinne des Christus Jesus selber verstanden, ein großer Irrtum, wenn man glaubt, der einzelne Mensch könne eine unmittelbare Beziehung zu dem Christus haben. [7]

Von dem, der aus eigener innerer Kraft imstande ist, sich in ein solches Verhältnis zu allen seinen Mitmenschen zu erheben, daß er sich frei, ohne jeden Zwang in die Harmonie einfügt, wird in den Geheimschulen gesagt, «er trage den Christus in sich». [8]

Die Menschen, die sich verwundern können über die großen Erkenntnisse und Wahrheiten der geistigen Welt, die prägen sich ein dieses Gefühl der Verwunderung und das bildet im Laufe der Zeiten eine Kraft, die eine Anziehungskraft für den Christus-Impuls bedeutet, die heranzieht den Christus-Geist: der Christus-Impuls verbindet sich mit der einzelnen Seele des Menschen, insoweit sich die Seele über die Geheimnisse der Welt verwundern kann. Der Christus nimmt seinen astralischen Leib aus der Erdentwickelung aus all den Gefühlen, die als Verwunderung in den einzelnen Seelen der Menschen gelebt haben. Das zweite, was die Menschenseelen ausbilden müssen, wodurch sie den Christus-Impuls heranziehen, das sind alle Gefühle des Mitleids. Und jedesmal, wenn ein Gefühl des Mitleids oder der Mitfreude in der Seele entwickelt ist, so bildet das eine Anziehungskraft für den Christus-Impuls. Mitleid und Liebe sind die Kräfte, aus denen der Christus sich seinen Ätherleib formt bis zum Ende der Erdentwickelung. Mit Bezug auf Mitleid und Liebe könnte man geradezu von einem Programm sprechen, das die Geisteswissenschaft erfüllen muß in der Zukunft. Ein Drittes, das hereinzieht in die Menschenseele wie aus einer höheren Welt, das ist das Gewissen, dem sich der Mensch fügt, dem er einen höheren Sinn beilegt als seinen eigenen, individuellen moralischen Instinkten. Mit ihm verbindet sich der Christus am innigsten: Aus den Gewissensimpulsen der einzelnen Menschenseelen entnimmt der Christus seinen physischen Leib. [9]

Wir sehen, wie das äußere Verständnis für die Gottesidee des Christus Jesus im Orient geboren wird, wie ihm aber entgegenkommt im Westen was das menschliche Bewußtsein als das Gewissen ausbildet. Daher sehen wir den Siegeszug des Christentums nicht nach dem Osten, sondern nach Westen hin sich entwickeln. Im Osten breitet nun sich dafür ein Religionsbekenntnis aus, das in letzter Konsequenz – wenn auch eine höchste – des Ostens ist: der Buddhismus ergreift die östliche Welt. Das Christentum ergreift die westliche Welt, weil sich das Christentum erst sein Organ im Westen geschaffen hat. So zeigt sich uns auf ungezwungene Art, daß das menschliche Gemüt recht hat, wenn es vom Gewissen spricht als von dem « Gotte im Menschen». [10] Die Menschen sind seit jener Zeit eingebettet in die geistige Atmosphäre unserer Erde, die durchdrungen ist von dem Christus-Impuls. [11] Der Mensch in der Zeit nach dem Mysterium von Golgatha muß die geistigen Welten sehen durch den Christus-Impuls, (so) wie wir die äußeren Farben und so weiter durch das Auge (als Sinnesorgan ) sehen. Wie wir aber das Auge nicht selber sehen, so sehen wir auch den Christus-Impuls nicht, weil wir durch ihn die geistige Welt sehen. Damit hängt es zusammen, daß das Mysterium von Golgatha in Geheimnis gehüllt ist, auch historisch in Geheimnis gehüllt (ist). Das gesunde Auge sieht die Dinge, sieht nicht sich selbst. Hat das Auge einen Splitter in sich, der da bleibend ist, so sieht es einen schwarzen Raum vor sich und fängt an, sich selbst wahrzunehmen; aber das ist ein krankhaftes Wahrnehmen. So würde ein krankhaftes Wahrnehmen des Mysteriums von Golgatha eintreten, wenn der Mensch nicht in diesem Mysterium von Golgatha etwas hätte, was nicht wahrgenommen werden kann; (denn) wodurch man wahrnimmt, das hängt zusammen mit dem Geheimnis von Golgatha. So lange konnten die Menschen von dem Christus wissen, als er, paradox ausgedrückt, noch nicht gekommen war. In dem Augenblicke aber, als er gekommen war, konnten sie nicht mehr auf dieselbe Weise von ihm wissen. [12]

Das Bild, das im Christus-Impuls selbst wirkt, kann im Sinne unserer Zeit durch nichts anderes dargestellt werden als durch die Mittel der Geisteswissenschaft. Indem diese von Schauungen handelt, welche man hat, wenn man außerhalb des Leibes ist, hat sie wieder die Möglichkeit, das Christus-Bild in seiner wahren Gestalt zu schauen. Solange man im Leibe ist, muß man sagen: Das Auge kann zwar die Farben sehen, aber nicht sich selbst. Wenn Sie sich in der Geistesschau aus dem Leib herausbegeben – wenn Sie sich selbst sehen, sehen Sie das Auge –, so sehen sie den Christus-Impuls durch den Christus-Impuls. [13]

Zitate:

[1]  GA 143, Seite 129f   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[2]  GA 61, Seite 305ff   (Ausgabe 1962, 536 Seiten)
[3]  GA 189, Seite 47   (Ausgabe 1980, 184 Seiten)
[4]  GA 194, Seite 58   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[5]  GA 186, Seite 122f   (Ausgabe 1979, 330 Seiten)
[6]  GA 194, Seite 130f   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[7]  GA 193, Seite 48   (Ausgabe 1977, 208 Seiten)
[8]  GA 100, Seite 223   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[9]  GA 143, Seite 183f   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[10]  GA 59, Seite 266f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[11]  GA 131, Seite 103   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[12]  GA 176, Seite 253f   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)
[13]  GA 176, Seite 257   (Ausgabe 1982, 392 Seiten)

Quellen:

GA 59:  Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Zweiter Teil (1910)
GA 61:  Menschengeschichte im Lichte der Geistesforschung (1911/1912)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 131:  Von Jesus zu Christus (1911)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 176:  Menschliche und menschheitliche Entwicklungswahrheiten. Das Karma des Materialismus (1917)
GA 186:  Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918)
GA 189:  Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage (1919)
GA 193:  Der innere Aspekt des sozialen Rätsels. Luziferische Vergangenheit und ahrimanische Zukunft (1919)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)