Geisteswissenschaft gelangt eigentlich als eine Fortsetzung naturwissenschaftlicher Forschung durch Gedanken- und Willenszucht dahin, das, was wir in uns tragen, Denken und Wollen, in seiner Ausgestaltung so zu erfassen, daß man es auch dann erfaßt, wenn dieses Seelische, das im Denken und Wollen lebt, eben leiblos lebt in einer Weise wie es nicht mehr von den Sinnen erreicht werden kann. [1] Heute nennt man vielfach dasjenige «Geisteswissenschaft», was nur Ideenwissenschaft ist. Für die Anthroposophie ist Geisteswissenschaft nicht nur etwas, was dasjenige jenseits von der Materie erfaßt, sondern etwas, das in seinem Wirken in das Materielle eingreift. [2] Sie ist hier gemeint als eine Erkenntnis von einem wirklichen Geistesleben, welches so wahrhaft ist, wie das Naturleben um uns herum und dem der Mensch mit seinem Geiste und mit seiner Seele so wahrhaft angehört, wie er mit seinem Leibe demjenigen angehört, worüber die Naturwissenschaft Aufklärung zu geben vermag. [3] Der Betrachtung der geistigen Vorgänge im Menschenleben und im Weltenall kann man (also) die Bezeichnung Geisteswissenschaft geben. [4] Das, was auf dem Wege der Imagination, der Inspiration, der Intuition zutagetritt, das wird formuliert in ausdrucksfähigen Vorstellungen, Ideen, und das bildet den Inhalt der Wissenschaft, welche anthroposophisch orientiertes Forschen zu geben hat. [5]
Durch die geistige Welt selber entsteht nicht Theosophie (also Geisteswissenschaft); sie entsteht nur auf Erden und kann dann durch die Menschen in die geistige Welt hinaufgetragen werden. [6] Anthroposophie oder Geisteswissenschaft schöpft ja aus wirklichem übersinnlichen Erkennen, und sie lehnt es ab – prinzipiell lehnt sie es ab –, irgend etwas zu entnehmen aus älteren Überlieferungen, sagen wir, der orientalischen Weisheit oder des historischen Gnostizismus, um gewissermaßen daraus sich einen Inhalt zu geben oder ihren Umfang zu vergrößern; sie lehnt das ganz entschieden zunächst ab, weil sie vor allen Dingen ihrer ganzen Aufgabe nach darauf ausgehen muß, praktisch die Frage zu beantworten: Wieviel kann der gegenwärtige Mensch, wenn er die in der Seele latenten, im gewöhnlichen Leben nicht bewußten Kräfte ins Bewußtsein, ins volle Bewußtsein und bei voller menschlicher Besonnenheit heraufführt, wieviel kann er von der übersinnlichen Welt unmittelbar erkennen? – Weil die Gegenwart aus ihrem Materialismus und Intellektualismus heraus auch die Sprache in einer gewissen Weise so bedrängt hat, daß die Sprache, indem wir sie handhaben, nurmehr sich bezieht auf Materielles, kann man schwer die Worte finden, die man zuweilen braucht, um dasjenige zu bezeichnen, was man erlebt und muß dann greifen zu älteren, noch aus dem instinktiven Schauen herausgeholten Worten, die einem viel mehr die Möglichkeit geben, dasjenige auszudrücken, was man ausdrücken will. Darauf beruht dann wieder das Mißverständnis, daß die Leute, die nur am Worte haften, nun glauben, daß man mit dem Worte dasjenige entlehnt, was in der Übersetzung des Wortes enthalten ist. Das ist nicht so. Das ist es, worauf ich bitte, immer Rücksicht zu nehmen, wenn ich mich notgedrungenerweise aus der Geschichte entlehnter Ausdrücke bedienen muß. [7]
Daß ein Toter in der geistigen Welt lebt, das macht noch nicht, daß er auch von dieser geistigen Welt etwas weiß, obzwar er sie anschauen kann. Dasjenige, was in der Geisteswissenschaft erworben wird, das wird nur auf der Erde als Wissen eworben, es kann nur auf der Erde erworben werden, es kann nicht in der geistigen Welt erworben werden. Es muß daher, wenn es eben von Wesen in der geistigen Welt gewußt werden soll, durch diejenigen Wesen erfahren werden, die es selbst auf der Erde erfahren. Das ist ein bedeutsames Geheimnis der geistigen Welten, daß man in diesen sein kann, sie anschauen kann, daß aber dasjenige, was als Wissen über die geistigen Welten notwendig ist, auf der Erde erworben werden muß. [8]
Geisteswissenschaft kann nur auf der Erde entstehen, man kann sie nirgends anders lernen; sie ist eine Offenbarung über die übersinnliche Welt, aber so, wie sie auftritt, kann sie nur hier auftreten. [9] Und Geisteswissenschaft ist aus dem Grunde da, weil in der Tat viele Seelen, mehr als sie selbst es wissen, heute die Möglichkeit haben, aus der geistigen Welt Einflüsse erlangen zu können; aber solche Seelen brauchen eine Erleichterung dazu durch das Verständnis der geistigen Welt. Und im Grunde genommen findet sich niemand mit unreifem Herzen in die Geisteswissenschaft hinein. [10]
Beschäftigung mit der Geheimwissenschaft ist der Anfang einer wirklichen okkulten Entwickelung. [11] Es kann nun auch eine Erklärung dafür geben, warum jetzt die Geisteswissenschaft anfängt, in die Welt zu kommen: weil jetzt erst die Möglichkeit für die Menschen anfängt, etwas zu versäumen. Jetzt müssen diese Wahrheiten zu den Menschen zu dringen beginnen, denn jetzt beginnen für den Menschen Inkarnationen, bei denen, wenn man diese nicht ordentlich anwenden würde, es schwerer werden würde, aus späteren Erdenverhältnissen heraus das nachzuholen, was da versäumt worden wäre. Auf eine einzelne Inkarnation kommt es weniger an, aber wenn man in unserem Zeitalter, das eben begonnen hat und 2000 bis 3000 (genau 2160) Jahre dauert, zwei bis drei Inkarnationen wird so angewendet haben, daß man nicht das Richtige aus dem, was man auf der Erde gewinnen kann, herausgezogen haben wird, dann wird man in den folgenden Zeiten etwas Wichtiges versäumt haben (siehe zur Erklärung: Ätherleib – Erstarrung künftige). Deshalb tritt die Geisteswissenschaft jetzt auf. [12]
Geisteswissenschaft wird nicht immer die Form behalten, die sie heute hat. Die Sprache kann ja nur in äußerst dürftiger Weise ausdrücken, was sie möchte. In der Geisteswissenschaft wird es mehr darauf ankommen, wie man etwas sagt, als was man sagt. Das wird international sein, das kann in jeder Sprache leben. Man wird sich gewöhnen, auf das, wie man etwas sagt, hinzuhören dadurch tritt man mit den Bewohnern des Devachan in Beziehung. [13] Diese Geisteswissenschaft ist der erste, ich möchte sagen, noch stammelnde Versuch, gegenüber dem, was künftige Menschheitsgeschlechter an Geisteswissenschaft erleben werden. [14] Ich habe es schon öfter betont, daß wir gerade als Bekenner der Geisteswissenschaft sagen müssen: Heute verkünden wir Geisteswissenschaft mit ganz bestimmten Worten und Vorstellungen und Begriffen, aber es ist nicht so, daß wir glauben, dasjenige, was wir heute sagen, gelte für alle Erdenzukunft, sondern es wird sich wandeln. Wenn zweitausend Jahre mehr vorüber sein werden, wird auch dasjenige, was wir heute Erkenntnis der Geisteswissenschaft nennen, mit anderen Worten verkündigt werden, ebenso wie wir heute anders reden als in der Griechenzeit; nichts wird bleiben von der Art unserer Worte. [15] Derjenige, der glaubt, daß unsere Geisteswissenschaft irgend etwas mit der alten Gnosis zu tun habe, der verkennt ganz, daß mit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung etwas Neues in die Geistesentwickelung der Menschheit eingetreten ist und daß, als Folge dieses Neuen, die Geisteswissenschaft etwas ähnlich Neues für die Erforschung der geistigen Welten sein soll. Nur muß die Geisteswissenschaft, wenn sie für den Geist dasselbe sein will wie die Naturwissenschaft für die Natur, ganz anders forschen als die letztere. Sie muß Mittel und Wege finden, um in das Gebiet des Geistigen einzudringen, das nicht wahrgenommen werden kann mit äußeren physischen Sinnen, nicht begriffen werden kann mit dem Verstande, der an das Gehirn gebunden ist. [16]
Die Geisteswissenschaft will die naturwissenschaftliche Forschungsart und Forschungsgesinnung, die auf ihrem Gebiete sich an den Zusammenhang und Verlauf der sinnlichen Tatsachen hält, von dieser besonderen Anwendung loslösen, aber sie in ihrer denkerischen und sonstigen Eigenart festhalten. Sie will über Nichtsinnliches in derselben Art sprechen, wie die Naturwissenschaft über Sinnliches spricht. Während die Naturwissenschaft im Sinnlichen mit dieser Forschungsart und Denkweise stehenbleibt, will Geisteswissenschaft die seelische Arbeit an der Natur als eine Art Selbsterziehung der Seele betrachten und das Anerzogene auf das nichtsinnliche Gebiet anwenden. Sie hält von dem naturwissenschaftlichen Verfahren die seelische Verfassung innerhalb dieses Verfahrens fest, also gerade das, durch welches Naturerkenntnis Wissenschaft erst wird. Sie darf sich deshalb als Wissenschaft bezeichnen. [17]
Diejenigen, die etwas von selbständigem, innerlich freiem Denken in sich erkraften, die aktiv denken können, werden schon durch den Trieb dieses Denkens herzugedrängt zu der geisteswissenschaftlichen Forschung. [18] Geisteswissen-schaft selber ist ein innerliches Tun, insofern man sich mit einer Vorstellungswelt beschäftigt, und unterscheidet sich dadurch radikal von dem, was man heute gewöhnt ist. Sehen Sie, auf diese innerliche Selbsterziehung kommt ungeheuer viel an. Denn dadurch wird die abstrakte Geistigkeit, die gerade der heutigen Verstandes-bildung anhaftet, durchaus überwunden.
Dadurch wird aber die ganze Geistes- und Seelenverfassung des Menschen eine andere. Der innerlichste Mensch heute fühlt sich fremd in unserer intellektualistischen Welt; und überwindet er sich wirklich so weit, daß er seinen aktiven, inneren Menschen in Tätigkeit bringt, wie er es tun muß bei (dem Aufnehmen) jeder geisteswissenschaftlichen Darstellung, dann hat er etwas, wie menschliches Urheimatgefühl, wie etwas von den Klängen aus der geistigen Welt heraus, aus der ja der Mensch eigentlich stammt. Und darauf kommt es an, daß man sich angewöhnt, das Geistige immerfort gegenwärtig zu haben. Geisteswissenschaft ist gewissermaßen darauf hinauslaufend, daß man in jedem Momente eigentlich vergißt den geistigen Inhalt, den man durch die Geisteswissenschaft aufgenommen hat, und ihn jederzeit wiederum neu aufnehmen und in sich erzeugen muß. Man hat nicht wirklich die Geisteswissenschaft, wenn man sie als etwas hat, woran man sich erinnert. Man hat es immer fort und fort neu zu erarbeiten. Das Vergessenkönnen, das nur die andere Seite des Verarbeitetwerdens ist, das ist es, was Geisteswissenschaft dem Menschen anerzieht, was das Ergebnis der Selbsterziehung durch Geisteswissenschaft ist. Es ist eine Unvollkommenheit, wenn man das anthroposophische Wissen als ein Gedächtniswissen hat, wenn man es nicht hat als einen Urquell des inneren Seelenerlebens, das jederzeit neu erschaffen sein will in der Seele. [19]
Wenn man hinausgeht mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen über das, was der äußeren Sinnesbeobachtung, der Verstandeserfahrung sich darbietet, und zu den leitenden Kräften des Menschen- und Weltendaseins überhaupt geht, kommt man nicht bloß zu Abstraktionen, zu saft- und kraftlosen Begriffen, sondern zu etwas Wesenhaftem, zu etwas, was lebendig, inhaltsvoll, geistig mit Dasein durchtränkt ist wie das Wesen des Menschen selber. Also von einer geistigen Welt mit realem Dasein wird hier gesprochen. [20] So muß man sagen, Geisteswissen-schaft ist ihrem Wesen nach auf dem begründet, was durch die menschliche Seele erforscht werden kann, wenn diese in ihrem innerlichen Ringen und Erleben zu einem Punkte gekommen ist, an dem das Persönliche nicht mehr bei den Betrachtungen der geistigen Welt mitspricht, sondern wo sie sich von der geistigen Welt selber ihre Eigentümlich-keiten sagen läßt. [21]
Der Geisteswissenschafter redet von nichts Neuem. Er redet von nichts, was nicht vorhanden wäre. Er zeigt nur auf, was in jedem Menschen vorhanden ist. [22] So kann man sagen: Geisteswissenschaft ist ein Aufsuchen – man redet nicht einmal richtig, wenn man von einer Fortentwickelung der Seele spricht –, es ist ein Aufsuchen desjenigen, was in der Menschenseele und im Menschengeist als die tieferen Kräfte liegt, auf die man nur den Blick nicht hinrichtet, weil man sozusagen das Geistesohr und Geistesauge, das Organ dafür nicht geschaffen hat und den Blick im gewöhnlichen Leben nicht darauf hinrichtet. Ein Aufsuchen der ewigen Kräfte der Menschenseele ist es. [23] Geisteswissenschaft ist nicht abstrakt wie bloße Philosophie, sondern eine ganz konkrete Forschung, die im anschaulichen Geiste vor sich geht –, man findet nicht nur im allgemeinen, daß der Geist den Naturerscheinungen zugrunde liegt, sondern man findet das im einzelnen. Dadurch ist Geisteswissenschaft auch nicht in einem leicht überschaubaren Weltbilde darzustellen, sondern sie ist stufenweise, langsam und allmählich, darzustellen, wie irgend eine andere Wissenschaft. [24] Für unsere (geistige) Bewegung ist es notwendig: den Umfang unserer Wissenschaft so in sich aufzunehmen, daß man sie geisteswissenschaftlich durchdringt und geisteswissenschaftlich wiedergibt, so daß man voll auf dem Boden der wissenschaftlichen Gegenwart steht. [25]
Es wird leicht in der Geisteswissenschaft eine bloße Lehre gesehen, eine Theorie. Aber Geisteswissenschaft ist ein lebendiges Wort. Denn was als Geisteswissenschaft verkündet wird, ist die Offenbarung aus den Welten, die wir gemeinschaftlich haben mit den höheren Hierarchien und mit der Welt der sogenannten Toten. Diese Welt selbst spricht zu uns durch Geisteswissenschaft. Und der, welcher wirklich Geisteswissenschaft versteht, der weiß, daß in ihr forttönt das, was Seelenmusik der geistigen Welt ist. [26] Das ist schon bei ihr notwendig, daß wir gewissermaßen Ehrfurcht entwickeln, und daß wir wissen, daß das Spintisieren, dieses In-den-Begriff-Hereinbringen immer von Übel ist. [27]
Jeder Schritt in die geistige Welt hinein muß von Aktivität begleitet werden. Wir müssen bei jedem Schritte wissen, daß die Dinge uns nicht ihr Wesen entgegentragen, sondern daß wir nur das wissen können von den Dingen und Vorgängen der geistigen Welt, was wir nachzubilden, nachzuschaffen imstande sind, indem wir uns aktiv wahrnehmend verhalten können. Das ist der große Unterschied der Geisteserkenntnis von der gewöhnlichen äußeren Erkenntnis, daß diese äußere Erkenntnis sich passiv hingibt den Dingen. [28]
In der Geisteswissenschaft ist es so, daß man die Dinge erst verstehen muß, und dann, wenn man sie verstanden hat, kann man das Verstandene an der Wirklichkeit bewahrheitet finden. Gerade wichtigste Dinge muß man in der Geisteswissenschaft zuerst verstehen, bevor man sie anschauen kann. Es könnte leicht auseinandergesetzt werden, daß dies eine Methode ist, die auch in der äußeren Welt, und namentlich in der äußeren wissenschaftlichen Welt, vielfach Anwendung findet. [29] Wir müssen uns angewöhnen, im Dienst der ganzen Menschheit zu wirken. Es kommt daher gar nicht darauf an, ob wir das, was wir uns aneignen, wirklich gleich anwenden können; sondern vor allem müssen wir immer danach streben, es anzuwenden, und irgendein kleines Feld dafür findet schließlich jeder. Wenn aber jeder nur herumkritisiert, so wird niemals etwas zustande kommen. Die Hauptsache und das Klügste, was wir tun können, ist, die Geisteswissenschaft erst einmal in ihrem Wesenskern erfassen und dann möglichst intensiv danach zu leben. Dann führen wir sie ins Leben ein; das andere wird sich schon von selbst gestalten. [30]
Das Allergrundsätzlichste der spirituellen Weisheit ist, daß oftmals die äußeren Ereignisse geradezu in paradoxer Weise der inneren Wahrheit der Vorgänge widersprechen. (Daher) kommt es darauf an, daß man auch einsehe, welches die inneren Vorgänge, die eigentlichen geistigen Wirklichkeiten sind. [31] Was ein menschliches Zusammenleben begründet, das alle Berufe zusammenführen kann, das ist das Leben in der geisteswissenschaftlichen Bewegung. Zur Auflösung aller Menschheitsbande würde der rein äußerliche Fortschritt in der Berufsentwickelung führen. Dahin würde er führen, daß die Menschen sich immer weniger und weniger verstehen würden, immer weniger und weniger Beziehungen entsprechend den Voraussetzungen der Menschennatur entwickeln könnten. Die Menschen würden immer mehr und mehr aneinander vorbeigehen, könnten nichts anderes mehr suchen als ihre Vorteile, könnten in keine anderen Beziehungen zueinander kommen als in die Beziehung der Konkurrenz. Das darf nicht der Fall sein, weil sonst das Menschengeschlecht in die vollständige Dekadenz verfallen würde. Daß das nicht der Fall werde, dazu muß Geisteswissenschaft sich ausbreiten. [32]
Die bloße Korrektur einer theoretischen Anschauung ist noch nicht Geisteswissenschaft. Sie muß die Erkenntnisse als Tat nehmen, Geisteswissen-schaft muß mit dem Willen durchdrungenes Erkennen sein, muß also in Realitäten hineingehen, schon wenn sie ihre Definitionen, ihre Erklärungen gibt. [33] In der Beurteilung der Dinge, die von der Geisteswissenschaft mitgeteilt werden, wird ja am häufigsten der Fehler gemacht, daß die Leute urteilen, die, sagen wir, gerade ein paar Ausführungen über eine Sache gehört haben und nicht die Geduld besitzen, wirklich alles, was gesagt werden kann, von den verschiedenen Gesichtspunkten aus auf sich wirken zu lassen. [34] Es gibt Menschen, ich erinnere nur zum Beispiel an den Philosophen Schelling, oder an andere, die bekamen durch besondere Gnadenaugenblicke den einen oder andern Eindruck aus der geistigen Welt. Was taten sie? Sie konnten nicht schnell genug, wenn sie einen Eindruck aus der geistigen Welt empfingen, eine Weltanschauung aufbauen. Sie ziehen Konsequenzen aus irgendeiner Impression, die sie aus der geistigen Welt bekommen. Einen Eindruck haben sie bekommen, dann machen sie ein ganzes System daraus, eine ganze Weltanschauung. Das ist es, was sich der wirkliche Geistesforscher ganz und gar abgewöhnen muß. Der wirkliche Geistesforscher muß stehenbleiben bei dieser einzelnen Tatsache, die sich ihm enthüllt. [35] Man kann sagen, die Welt erwartet gerade von dem, was geisteswissenschaftlich ist, eine leichtgeschürzte Überzeugungsmöglichkeit. Allein, die ist nicht so ohne weiteres zu schaffen. Denn gegenüber den geisteswissenschaftlichen Tatsachen handelt es sich darum, daß man die Überzeugung eigentlich entwickelungsgemäß erhält. Sie beginnt mit einem gewissen Stadium, das noch schwach ist, und man lernt dann dieselben Dinge von immer neuen und neuen Gesichtspunkten kennen, und dadurch verstärkt sich immer mehr und mehr diese Überzeugung. [36]
Diese moderne Geisteswissenschaft strebt ja danach, ebensoviel Wissenschaftsgeist zu haben wie nur irgendeine Wissenschaft sonst. Aber sie strebt danach, diese Wissenschaft nicht als etwas Totes zu haben, sondern sie innerlich zu erleben, so wie man die Lebenskraft des Menschen selber erlebt. Und dieser verlebendigten Wissenschaft wird es wiederum gelingen, zu dem Christus vorzudringen. [37] Die Geisteswissenschaft kann als etwas sehr Nützliches betrachtet werden, Selbst wenn man nur jenes Positive nimmt, das man zugeben kann, und alles andere links liegen läßt, was einen nicht interessiert, könnte unsere Geisteswissenschaft doch als etwas außerordentlich Nützliches angesehen werden. Verfolgen Sie die Art und Weise, wie wir unsere Geisteswissenschaft während eineinhalb Jahrzehnt betrieben haben, dann werden Sie sehen, daß wir neben alledem, was wir geisteswissenschaftlich gegeben haben, mitten darinnen in dem Geisteswissenschaftlichen, eine große Summe von naturwissenschaftlichen Wahrheiten, von kunstgeschichtlichen Wahrheiten gegeben haben, eine ganze Menge solcher Dinge. Man nehme nur einmal hypothetisch an wir würden gar nichts Geisteswissenschaftliches geben, sondern nur das, was wir an naturwissenschaftlichen und kunstwissenschaftlichen Wahrheiten bringen, so würde man das allein schon als etwas Positives nehmen können. Daß aber Positives geboten wird, das geschieht auch wiederum absichtlich und wohl erwogen, denn dadurch bekommt man eben das menschliche Gemüt von dieser Spintisiererei (des falschen Okkultismus und der falschen Mystik) frei. [38]
Das ist das Eigentümliche der Geisteswissenschaft: läßt man sich auf sie ein, so wird sie unmittelbar praktisch. Sie beleuchtet das Leben um uns herum, und in der heutigen Zeit haben die Menschen keine andere Möglichkeit, das Leben wirklich in seinen realen Verhältnissen zu beleuchten, als auf das Geisteswissen-schaftliche irgendwie einzugehen. Daher wäre es wünschenswert, daß gerade von denjenigen, die sich für diese geisteswissenschaftliche Bewegung interessieren, Verständnis ausstrahlen würde auf die anderen; denn der Geisteswissenschafter hat es verhältnismäßig leichter, diese Dinge zu durchschauen. Er kennt so etwas wie vorgeburtliches und nachtodliches Leben von einem geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus, und ihm ergibt sich (beispielsweise) die Notwendigkeit der Dreigliederung des Lebens von diesem Gesichtspunkte aus. [39] Wir müssen uns Geisteswissenschaft durchaus als das Leben durchdringend vorstellen, und wir müssen dazu kommen, dasjenige, was ja allerdings auch auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft in einer gewissen abstrakten Form, in einer theoretischen Manier gegeben werden muß, ganz konkret im Leben anzuwenden. [40]
Unsere intellektuelle Bildung ist der Weg zur geistigen Beschränktheit, sie engt das Denken, das Vorstellen ein. Und man muß an etwas ganz anderes appellieren, wenn man Geisteswissenschaft verstehen will. Wenn die Leute daher an Geisteswissenschaft herankommen, so fürchten sie schon den ersten Schritt! Wenn sie nur ein Paar Seiten gelesen haben, sagen manche: Da verliere ich mich ja, da komme ich nicht weiter, das geht in die Phantastik hinein! – Das geht gar nicht in die Phantastik hinein, sondern der Betreffende hat nur die Möglichkeit verloren, seine Gedanken wirklich frei zu bekommen, mit seinen Gedanken in die Wirklichkeit einzutauchen, wenn sie nicht die äußere Sinnenwelt am Gängelbande führt. [41]
[1] | GA 73a, Seite 370 | (Ausgabe 2005, 583 Seiten) |
[2] | GA 343, Seite 68 | (Ausgabe 1993, 674 Seiten) |
[3] | GA 63, Seite 13 | (Ausgabe 1959, 439 Seiten) |
[4] | GA 9, Seite 22 | (Ausgabe 1961, 214 Seiten) |
[5] | GA 186, Seite 212 | (Ausgabe 1979, 330 Seiten) |
[6] | GA 140, Seite 323 | (Ausgabe 1980, 374 Seiten) |
[7] | GA 343, Seite 73ff | (Ausgabe 1993, 674 Seiten) |
[8] | GA 140, Seite 338 | (Ausgabe 1980, 374 Seiten) |
[9] | GA 140, Seite 237 | (Ausgabe 1980, 374 Seiten) |
[10] | GA 131, Seite 106 | (Ausgabe 1958, 244 Seiten) |
[11] | GA 162, Seite 49 | (Ausgabe 1985, 292 Seiten) |
[12] | GA 118, Seite 64 | (Ausgabe 1977, 234 Seiten) |
[13] | GA 140, Seite 156 | (Ausgabe 1980, 374 Seiten) |
[14] | GA 159, Seite 121 | (Ausgabe 1980, 388 Seiten) |
[15] | GA 159, Seite 213f | (Ausgabe 1980, 388 Seiten) |
[16] | GA 35, Seite 183 | (Ausgabe 1965, 484 Seiten) |
[17] | GA 13, Seite 36 | (Ausgabe 1962, 444 Seiten) |
[18] | GA 152, Seite 52 | (Ausgabe 1980, 176 Seiten) |
[19] | GA 301, Seite 63ff | (Ausgabe 1977, 268 Seiten) |
[20] | GA 60, Seite 11 | (Ausgabe 1983, 496 Seiten) |
[21] | GA 60, Seite 16f | (Ausgabe 1983, 496 Seiten) |
[22] | GA 65, Seite 75 | (Ausgabe 1962, 704 Seiten) |
[23] | GA 65, Seite 167 | (Ausgabe 1962, 704 Seiten) |
[24] | GA 67, Seite 151 | (Ausgabe 1962, 367 Seiten) |
[25] | GA 159, Seite 117 | (Ausgabe 1980, 388 Seiten) |
[26] | GA 179, Seite 100 | (Ausgabe 1977, 164 Seiten) |
[27] | GA 169, Seite 157 | (Ausgabe 1963, 182 Seiten) |
[28] | GA 153, Seite 24 | (Ausgabe 1978, 190 Seiten) |
[29] | GA 165, Seite 165 | (Ausgabe 1981, 240 Seiten) |
[30] | GA 96, Seite 69 | (Ausgabe 1974, 350 Seiten) |
[31] | GA 185, Seite 185 | (Ausgabe 1982, 254 Seiten) |
[32] | GA 172, Seite 93f | (Ausgabe 1964, 240 Seiten) |
[33] | GA 197, Seite 100 | (Ausgabe 1967, 217 Seiten) |
[34] | GA 140, Seite 82f | (Ausgabe 1980, 374 Seiten) |
[35] | GA 329, Seite 307 | (Ausgabe 1985, 348 Seiten) |
[36] | GA 199, Seite 192 | (Ausgabe 1985, 318 Seiten) |
[37] | GA 197, Seite 195 | (Ausgabe 1967, 217 Seiten) |
[38] | GA 254, Seite 188f | (Ausgabe 1969, 279 Seiten) |
[39] | GA 189, Seite 43 | (Ausgabe 1980, 184 Seiten) |
[40] | GA 202, Seite 120 | (Ausgabe 1980, 296 Seiten) |
[41] | GA 182, Seite 63 | (Ausgabe 1976, 190 Seiten) |
GA 9: | Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904) |
GA 13: | Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910) |
GA 35: | Philosophie und Anthroposophie (1904-1923) |
GA 60: | Antworten der Geisteswissenschaft auf die großen Fragen des Daseins (1910/1911) |
GA 63: | Geisteswissenschaft als Lebensgut (1913/1914) |
GA 65: | Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben (1915/1916) |
GA 67: | Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (1918) |
GA 73a: | Fachwissenschaften und Anthroposophie (1920/1921) |
GA 96: | Ursprungsimpulse der Geisteswissenschaft. Christliche Esoterik im Lichte neuer Geist-Erkenntnis (1906/1907) |
GA 118: | Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (1910) |
GA 131: | Von Jesus zu Christus (1911) |
GA 140: | Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913) |
GA 152: | Vorstufen zum Mysterium von Golgatha (1913/1914) |
GA 153: | Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt (1914) |
GA 159: | Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915) |
GA 162: | Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915) |
GA 165: | Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls (1915/1916) |
GA 169: | Weltwesen und Ichheit (1916) |
GA 172: | Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916) |
GA 179: | Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917) |
GA 182: | Der Tod als Lebenswandlung (1917/1918) |
GA 185: | Geschichtliche Symptomatologie (1918) |
GA 186: | Die soziale Grundforderung unserer Zeit – In geänderter Zeitlage (1918) |
GA 189: | Die soziale Frage als Bewußtseinsfrage (1919) |
GA 197: | Gegensätze in der Menschheitsentwickelung. West und Ost – Materialismus und Mystik – Wissen und Glauben (1920) |
GA 199: | Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920) |
GA 202: | Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physische des Menschen. Die Suche nach der neuen Isis, der göttlichen Sophia (1920) |
GA 254: | Die okkulte Bewegung im neunzehnten Jahrhundert und ihre Beziehung zur Weltkultur. Bedeutsames aus dem äußeren Geistesleben um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts (1915) |
GA 301: | Die Erneuerung der pädagogisch-didaktischen Kunst durch Geisteswissenschaft (1920) |
GA 329: | Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung. Altes Denken und neues soziales Wollen (1919) |
GA 343: | Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, II. Spirituelles Erkennen – Religiöses Empfinden – Kultisches Handeln (1921) |