Christentum

Das ist ja gerade das Wichtige bei der Unterscheidungdes Christentums von anderen religiösen Bekenntnissen daß man es in alten Religionsbekenntnissen zu tun hat mit Lehren, während in der christlichen Entwicklung die Tat von Golgatha das Wesentliche ist und weitere Taten zu diesem Wesentlichen hinzukommen müssen. Daher ist es nicht von allererster, fundamentaler Bedeutung, daß der Mensch die Evangelien ausgelegt bekommt, sondern das Wesentliche ist, daß ein realer Zusammenhang mit dem Mysterium von Golgatha durch das Christentum gesucht wird. [1]

Das Christentum ist eine Anschauung, die in allem eine Offenbarung des Göttlichen sieht. In jedem Materiellen haben wir eine Illusion, wenn wir es nicht als einen Ausdruck des Göttlichen ansehen. Verleugnen wir die Außenwelt, so verleugnen wir das Göttliche; negieren wir die Materie, in der sich Gott offenbart hat, dann negieren wir Gott. Es handelt sich nicht darum, in sich hineinzuschauen, sondern wir müssen das große Selbst zu erkennen suchen, das in uns hineinleuchtet. [2] Das Christentum versteht nur derjenige, der es auffaßt durch Bilder, die in der Zeit ablaufen. Der tiefere Inhalt des Christentums läßt sich nicht im entferntesten vergleichen mit dem, was in Raumesbildern auftritt, auch nicht mit den gigantischen, großartigen Raumesbildern des Salomonischen Tempels. [3]

In die Seele, die im alten Judentum gegeben war, wurde das Christentum hineingeboren. Den Geist hat dieses Christentum aufgesucht im Griechentum. Die Gedanken, durch welche die Welt das Christentum denken konnte, sie sind griechische Geistesweisheit. Das Römertum aber gab den Leib, dasjenige, was die äußere Organisation, den Reichsgedanken verwirklichen konnte. [4]

Richtig wird das Christentum nur verstanden, wenn es so verstanden wird, daß es nur das Menschliche im Menschen berührt, dasjenige Menschliche, das in allen Menschen ist. Und dem tut es keinen Abbruch, daß das Christentum in seinen ersten Phasen und auch zu unserer Zeit Einzelbekenntnisse herausgebildet hat; denn die Entwickelungsmöglichkeit des allgemein Menschlichen liegt in dem Christentum. [5] Wenn sich an unserer Seele der Ausspruch bewährt: Wo zwei in meinem Namen sich vereinigen wollen, kann ich mitten unter ihnen sein. In der wirklichen Erkenntnis des Christus können sich innerhalb der Sonnen-Sphäre (im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt) alle Menschen zusammenfinden. [6]

Denken Sie, Sie wären auf einer einsamen Insel, wo gar keine Urkunde über das Mysterium von Golgatha je hingekommen ist: wenn Menschen da so arbeiten, daß sie durch ihr spirituelles Leben vollbewußt die Kraft des ersten Kindheitsalters aufnehmen bis ins höchste Alter hinauf, wären sie Christen im wahren Sinne des Wortes. Dann brauchten sie nicht in den Evangelien zu suchen, denn das Christentum ist etwas Lebendiges, und es wird sich weiter und weiter fortentwickeln. [7] In der Zukunft der Erdentwickelung wäre es eine Torheit, nicht die Idee vom Christus aufzunehmen, denn was das Herz für den Organismus ist, das ist der Christus für den Erdenleib. [8]

Als aber mit dem vierten Jahrhundert die alten Eingeweihten anfingen auszusterben und die neue Einweihewissenschaft noch nicht da war, da mußte man in die Dokumente hinein dasjenige verhärten, was früher ein unmittelbares Anschauen war. Man mußte es traditionell fortpflanzen; die Menschen mußten, um das Freiheitsbewußtsein zu erlangen, eine Zeitlang die alte Einweihewissenschaft vergessen. Wir müssen heute wieder beginnen, über den Christus als übersinnliche Wesenheit zu sprechen, wir müssen verstehen, was es heißt, daß der Christus die menschliche Seele am Leben erhält; denn der Leib hat sich verändert im Laufe der Menschheitsentwickelung. Von alledem wußten noch die Eingeweihten in den ersten christlichen Jahrhunderten, sie sagten, die Menschen wären physisch allmählich immer kränker und kränker geworden, wenn nicht der Christus gekommen wäre und sie von der Seele aus gesund gemacht hätte. Deshalb wurde der Christus als der große Weltenarzt, als der Heiland verehrt. [9]

Zitate:

[1]  GA 346, Seite 127   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[2]  GA 95, Seite 134   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[3]  GA 187, Seite 34   (Ausgabe 1968, 196 Seiten)
[4]  GA 187, Seite 35   (Ausgabe 1968, 196 Seiten)
[5]  GA 141, Seite 46   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[6]  GA 141, Seite 48   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[7]  GA 127, Seite 96   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[8]  GA 127, Seite 132   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[9]  GA 218, Seite 49f   (Ausgabe 1976, 336 Seiten)

Quellen:

GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 127:  Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution (1911)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)
GA 187:  Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden?. Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht (1918/1919)
GA 218:  Geistige Zusammenhänge in der Gestaltung des menschlichen Organismus (1922)
GA 346:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. Apokalypse und Priesterwirken (1924)