Illusionen

Die Entscheidung darüber, was auf höherem Gebiete «wirklich» ist, was nur Illusion, die kann nur von der Erfahrung kommen. Und man muß sich diese Erfahrung in einem stillen, geduldigen Innenleben aneignen. Zunächst muß man durchaus darauf gefaßt sein, daß einem die Illusion böse Streiche spielt. Überall lauern die Möglichkeiten, daß Bilder auftauchen die nur auf Täuschungen der äußeren Sinne, des abnormen Lebens beruhen. Alle solche Möglichkeiten müssen zuerst hinweggeräumt werden. Man muß zuerst die Quellen der Phantastik ganz verstopfen, dann kann man erst zu der Imagination kommen. Ist man so weit, dann wird man allerdings sich klar darüber, daß die Welt, in die man in solcher Art eintritt, nicht nur wirklich ist wie die sinnliche, sondern daß sie eine gewöhnlich viel wirklichere ist. [1] Der Fehler, den die Menschen machen, die an ihre Illusionen glauben, besteht darin, daß sie nicht lange genug die Widerstandskraft gegen die illusionäre Welt aufrechterhalten können, daß zu früh der Glaube eintritt an das, was sie erleben, daß sie sich von ihren Erlebnissen nicht lange genug sagen: Das erscheint zunächst nur als eine Widerspiegelung von dir selbst, und erst, wenn du alles Subjektive von dir abgestreift hast, wie du es bei der Mathematik machen mußt, trittst du in die Sphäre der objektiven Wirklichkeit ein. [2]

Zitate:

[1]  GA 12, Seite 20   (Ausgabe 1969, 88 Seiten)
[2]  GA 62, Seite 64   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)

Quellen:

GA 12:  Die Stufen der höheren Erkenntnis (1905/1908)
GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)