Eingeweihte

Der Unterschied zwischen dem uneingeweihten und dem eingeweihten Menschen besteht darin, daß dem ersteren die astrale Weltnicht als Außenwelt sichtbar wird und für den letzteren das der Fall ist. Diese astrale Welt bleibt nämlich für den Unerweckten eine bloße Innenwelt; er erlebt sie in seinen Wünschen und Begehrungen; aber er sieht sie nicht. Der Eingeweihte fühlt nicht nur seinen Wunsch; er nimmt ihn als ein Ding der Außenwelt wahr, wie der Unerweckte Tische und Stühle wahrnimmt. Von dieser Welt des Eingeweihten ist nun allerdings die gewöhnliche Traumwelt nur ein schwacher Nachklang. [1]

Das ist das Wesen des Eingeweihten, daß er das, was bei allen Menschen in der Zukunft offenbar werden wird, heute schon entwickelt, und daß er die Zukunftsideale der Menschheit in ihrer Richtung wenigstens schon angeben kann. [2] Zu allen Zeiten der nachatlantischen Menschheitsentwickelung war ein Eingeweihter der, der sich erheben konnte über die äußere physisch-sinnliche Welt und eigene Erlebnisse, eigene Erfahrungen haben konnte in den geistigen Welten, der also die geistige Welt so erlebt, wie der Mensch durch seine äußeren Sinne, Augen, Ohren und so weiter, die physisch-sinnliche Welt erlebt. Er ist also ein Zeuge für die geistigen Welten und ihre Wahrheit. Fassen Sie das nicht so auf, als ob der, der als Eingeweihter imstande ist, außer der physischen Welt auch noch die geistige Welt zu erleben, sich nun alle anderen menschlichen Gefühle und Empfindungen abgewöhnen muß, die hier in der physischen Welt Wert haben, und dafür eintauscht die anderen Gefühle für die höheren Welten. So ist es nicht. Er tauscht nicht das eine für das andere ein, sondern er erwirbt sich eines zum anderen hinzu. [3]

Beim Eingeweihten hört die Persönlichkeit auf, eine Bedeutung zu haben. Er steht ganz im Dienste der ewigen Weisheit. Daher gilt für ihn auch nicht, die Charakteristik irgendeines Zeitabschnittes. [4] In der nachatlantischen Zeit kam es, daß zu den alten Götterboten jetzt auch eine neue Art von Eingeweihten kam. Es sind diejenigen, welche ihre Denkkraft geradeso wie die übrigen Mitmenschen in irdischer Art ausgebildet haben. Die vorhergehenden Götterboten – auch der Manu – hatten das nicht. Ihre Entwickelung gehört höheren Welten an. Sie brachten ihre höhere Weisheit in die irdischen Verhältnisse herein. Was sie der Menschheit schenkten, war eine Gabe von oben. Menschliche Eingeweihte traten zu den übermenschlichen. Das bedeutet einen wichtigen Umschwung in der Entwickelung des Menschengeschlechtes. Die menschlichen Eingeweihten der Folgezeit sind, äußerlich genommen, Menschen unter Menschen. Allerdings aber verblieben sie im Zusammenhang mit den höheren Welten, und die Offenbarungen und Erscheinungen der Götterboten dringen zu ihnen.

Nur ausnahmsweise, wenn sich eine höhere Notwendigkeit ergibt, machen sie Gebrauch von gewissen Kräften, die ihnen von dorther verliehen sind. Dann vollbringen sie Taten, welche die Menschen nach den ihnen bekannten Gesetzen nicht verstehen und daher mit Recht als Wunder ansehen. – Die höhere Absicht aber bei alledem ist, die Menschheit auf eigene Füße zu stellen, deren Denkkraft vollkommen zu entwickeln. – Die menschlichen Eingeweihten sind heute die Vermittler zwischen dem Volke und den höheren Mächten; und nur die Einweihung befähigt zum Umgange mit den Götterboten.

Die menschlichen Eingeweihten, die heiligen Lehrer, wurden nun im Beginne der fünften Wurzelrasse Führer der übrigen Menschheit. Die großen Priesterkönige der Vorzeit, von denen nicht die Geschichte, wohl aber die Sagenwelt Zeugnis ablegt, gehören der Schar dieser Eingeweihten an. Immer mehr zogen sich die höheren Götterboten von der Erde zurück und überließen die Führung diesen menschlichen Eingeweihten, denen sie aber mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Heute besteht der Fortschritt noch immer in einer Mischung von bewußtem und unbewußtem Handeln und Denken der Menschen. Erst am Ende der fünften Wurzelrasse, wenn durch die sechste und siebente Unterrasse hindurch eine genügend große Anzahl von Menschen des Wissens fähig ist, wird sich der größte Eingeweihte ihnen öffentlich enthüllen können. Und dieser menschliche Eingeweihte wird dann die weitere Hauptführung ebenso übernehmen können (als menschlicher Manu), wie das der Manu am Ende der vierten Wurzelrasse (Atlantis) getan hat. So ist die Erziehung der fünften Wurzelrasse (nachatlantische Zeit) die, daß ein größerer Teil der Menschheit dazu kommen wird, einem menschlichen Manu (ebenso) frei zu folgen, wie das die Keimrasse (Ursemiten) dieser fünften (Rasse) mit dem göttlichen getan hat. [5]

Einzelne Menschen gibt es immer in jedem Zeitalter, welche das geistige Wissen haben können. So wurde es auch durchgerettet durch die Zeit, in der das geistige Wissen am wenigsten tonangebend war: durch die Zeit vom 15. bis ins 19. Jahrhundert. Wie ein dünner Faden wurde es durchgerettet, dieses geistige Wissen. [6]

Die Eingeweihten haben die Verpflichtung, die Menschheit zu belehren; sie haben seit den letzten dreißig Jahren (also seit 1879) diese Botschaft wiederum empfangen von den höheren Wesenheiten, die bereits über die Entwickelung des Menschen hinausgestiegen sind, von den Meistern des Zusammenklanges der Empfindungen, von diesen erhabenen Wesenheiten, die tatsächlich jede spirituelle Strömung auf unserer Erde beeinflussen und allmählich immer mehr von ihrer Weisheit in die Welt einfließen lassen, je nachdem der Mensch in seiner Entwickelung höher und immer höher steigt. Es sollten alle Menschen auf einer gewissen Stufe der Entwickelung danach streben, Eingeweihte zu werden an Hand der gegebenen Methoden (siehe: Schulung), welche aber nur durch moralische Kraft eine erfolgreiche Entwickelung der schlummernden Kräfte in der Seele zur Folge haben können. Doch auch jene, welche vorläufig noch nicht so weit sind, diese Kräfte entwickeln zu können, welche die erhabenen Lehren der Theosophie nur durch Studium und durch die Hilfe ihres Lehrers in sich aufnehmen können und verstehen lernen, auch sie genießen schon ein großes Vorrecht. Sie stehen, wenn sie nach dem Tode sich auf dem Astralplan befinden, in ihrem Anschauen auf derselben Stufe wie ihr Lehrer; er hat nichts voraus, er hat alles, was er für sich errungen hatte, wieder seinen Schülern gegeben, er schaut nicht mehr als seine Schüler, er hat nicht aus Selbstsucht gegeben, um selbst höher zu kommen. Es gibt nicht Selbstsucht in den höheren Welten oder bei den wirklichen Eingeweihten; sie geben nur, um der Menschheit zu helfen. Stößt der Mensch in diesem Leben die Gelegenheit zurück, die spirituellen Wahrheiten, die ihm geboten werden, zu empfangen, aus Bequemlichkeit oder sonstigen Gründen, so kann er sicher sein, daß er sich schon in diesem Leben die Bedingungen schafft, die ihn verhindern werden, sie im folgenden Leben überhaupt annehmen zu können. [7]

So wie er gegenwärtig auf der Erde lebt, besteht der Mensch aus dem physischen Leib, dem Ätherleib, dem Astralleib und dem Ich. Diese viergliedrige Menschennatur hat in sich die Anlagen zu höherer Entwickelung. Das Ich gestaltet von sich aus die «niederen» Leiber um und bildet diesen dadurch höhere Glieder der Menschennatur ein. Die Veredelung und Läuterung des Astralleibes durch das Ich bewirkt die Entstehung des Geistselbst, Manas; die Umwandlung des Ätherleibes schafft den Lebensgeist, Buddhi, und die Umgestaltung des physischen Leibes schafft den eigentlichen Geistesmenschen, Atma. Die Umwandlung des Astralleibes ist in der gegenwärtigen Periode der Erdentwickelung in vollem Gange; die bewußte Umwandlung des Ätherleibes und des physischen Leibes gehört späteren Zeiten an; gegenwärtig hat sie bloß bei den Eingeweihten – den Geheimwissenschaftern und ihren Schülern – begonnen. – Diese dreifache Umwandlung des Menschen ist die bewußte; ihr ist vorangegangen eine mehr oder weniger unbewußte, und zwar während der bisherigen Erdentwickelung. Man hat in dieser unbewußten Umwandlung von Astralleib, Ätherleib und physischem Leib die Entstehung der Empfindungsseele, der Verstandesseele und der Bewußtseinsseele zu suchen. [8]

In den Mysterien gab es nach der großen Offenbarungs-Einweihung die Stufe der eigentlichen mystischen Einweihung. Es war diejenige, in der sich nicht allein Anschauung und Denken, sondern das ganze Leben über die unmittelbare menschliche Persönlichkeit hinaus erweiterte. Hier wurde der Jünger nicht nur ein Weiser, sondern ein Seher. Er nahm nun nicht nur das Wesen der Dinge wahr, sondern er erlebte es mit ihnen. Der Seher empfindet nicht bloß die Dinge, sondern er empfindet in den Dingen; er denkt nicht über die Natur, sondern er tritt aus sich heraus, und denkt in der Natur. Man nennt diesen Vorgang das Öffnen der astralen Sinne (siehe: Astralleib, Organe und deren Organisation). Nur der Seher soll zur folgenden Stufe emporsteigen, welche die Alten die des Theurgen nannten, und die in der deutschen Sprache dadurch angedeutet werden kann, daß man sie als die bezeichnet, auf der eine «vollständige Umkehrung der menschlichen Fähigkeiten» stattfindet. Kräfte, die sonst nur in den Menschen einströmen, die strömen jetzt von ihm aus. Auf gewissen Gebieten, in denen der Mensch bloß Diener ist, wird derjenige Herrscher, dessen Fähigkeiten «gewendet» sind. Und da nur der Seher die Tragweite und Wirkensart solcher Kräfte zu beurteilen in der Lage ist, wird der Mensch diese Kräfte dann mißbrauchen, wenn er in ihren Besitz gelangt, ohne die Reinheit des Sehers erlangt zu haben. Der Theurg läßt bewußt von sich ausstrahlen, was in dem Menschen gewöhnlich in den tiefsten Schachten der Seele unbewußt schlummert. Er steht Auge in Auge gegenüber dem Führer, der ihn vorher unsichtbar «von hinten» geleitet hat. [9]

Zitate:

[1]  GA 89, Seite 26   (Ausgabe 2001, 234 Seiten)
[2]  GA 53, Seite 302   (Ausgabe 1981, 508 Seiten)
[3]  GA 103, Seite 188f   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[4]  GA 11, Seite 28   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[5]  GA 11, Seite 54ff   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[6]  GA 171, Seite 84   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)
[7]  GA 109, Seite 268f   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[8]  GA 11, Seite 213   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[9]  GA 34, Seite 61ff   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 53:  Ursprung und Ziel des Menschen. Grundbegriffe der Geisteswissenschaft (1904/1905)
GA 89:  Bewußtsein – Leben – Form. Grundprinzipien der geisteswissenschaftlichen Kosmologie (1903-1906)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)