Verstandesseele

Wir unterscheiden drei Glieder unseres Seelenlebens. Bewußtseinsseele, Verstandesseele und Empfindungsseele. Diese drei Glieder dürfen nicht völlig gleichgestellt werden den Kräften des Denkens, Fühlens und Wollens; denn Denken, Fühlen und Wollen eignet jedem der drei Seelenglieder. [1]

Der weisheitserfüllte Ätherleib ist die erste Anlage zur Verstandesseele. Die Weisheit wurde von den Kyriotetes gegen Ende der Mondenentwickelung eingeprägt. Der Mensch wird dadurch in gewissem Sinne eine selbständige Seele. [2] (Während der Erdentwickelung) ist die Verstandesseele von den Merkurwesenheiten angeregt worden. Die Verstandesseele hat also ihre Kraft vom Merkur. Der Mensch ist dadurch geworden, daß die Kräfte des Kosmos in ihm zusammengeflossen sind. [3]

In ähnlicher Art, wie die Lebensbildekraft den physischen Körper durchdringt, so durchdringt die Denkkraft die Empfindungsseele. Die Verstandesseele durchdringt die Empfindungsseele. Wer das Organ zum Schauen der Seele hat, sieht daher die Verstandesseele als eine besondere Wesenheit gegenüber der bloßen Empfindungsseele an (siehe: Aura). [4] Das Ich steigt zu einer höheren Stufe seiner Wesenheit, wenn es seine Tätigkeit auf das richtet, was es aus dem Wissen der Gegenstände zu seinem Besitztum gemacht hat. Dies ist die Tätigkeit, durch welche sich das Ich von den Gegenständen der Wahrnehmung immer mehr loslöst, um in seinem eigenen Besitze zu arbeiten. Den Teil der Seele, dem dieses zukommt, kann man als Verstandes- oder Gemütsseele bezeichnen. Sowohl der Empfindungsseele und der Verstandesseele ist es eigen, daß sie mit dem arbeiten, was sie durch die Eindrücke der von den Sinnen wahrgenommenen Gegenstände erhalten und davon in der Erinnerung bewahren. [5]

Man kann die Verstandesseele weil sie an der Ich-Natur Teil hat, weil sie in einer gewissen Beziehung schon das «Ich» ist, das sich in seiner Geistwesenheit nur noch nicht bewußt ist, als «Ich» schlechtweg bezeichnen. [6] Wenn der Mensch einen Ton- oder einen Farbeneindruck empfängt, waltet die Empfindungsseele. Auch wenn die Leidenschaften aufsteigen, bei Affekten, Zorn, Furcht, Angst, waltet im wesentlichen die Empfindungsseele. Was wir Verstandes- oder Gemütsseele nennen, arbeitet sich erst heraus aus der Empfindungsseele, ist schon in gewisser Beziehung etwas Abgeklärteres als die Empfindungsseele. In der Verstandesseele sitzen schon die Fähigkeiten, dasjenige in Vorstellungen zu kleiden, was in der Empfindungsseele empfunden ist, dasjenige, was als Instinkte, als Affekte erlebt wird, zu einer menschlicheren Form des Seelenlebens abzuklären. Wenn zum Beispiel Affekte, die sonst nur auf Selbsterhaltung gehen, abgeklärt werden zum Wohlwollen, ja sogar zum liebevollen Verhalten zur Umwelt, haben wir es schon zu tun mit der Verstandes- oder Gemütsseele. In der Verstandesseele geht uns das Ich auf, der eigentliche Mittelpunkt unseres Seelenlebens. [7] Sprechen wir von dem, was wir gemeinsam einhalten, weil es innerhalb unserer Volksgemeinschaft, unserer Familienkreise ausgebildet ist, weil es gang und gäbe ist in der Umgebung, so sprechen wir von solchen Dingen, die in der Verstandes- oder Gemütsseele sitzen. Aber auch die Dinge, die erst in der Bewußtseinsseele sitzen, wandern in die Verstandesseele herein, zum Beispiel eine von uns einmal gebildete Meinung kann eine gewohnte Meinung werden. Oder eine Fähigkeit kann sich in Geschicklichkeit, in Gewohnheit umwandeln. Dann sind sie in die Verstandesseele herabgestiegen. [8]

Für die Verstandesseele ist die Grundbedingung die Klugheit, die so oft durchkreuzt wird von dem Mitgefühl. Es ist eigentümlieh, daß gerade in der Verstandesseele diese zwei Pole sich gegenüberstehen. Wie oft wird der Intellekt durch das Mitgefühl durchkreuzt und beeinflußt. Ein Sich-Hineinversetzen in andere Wesenheiten, das Mitempfinden von Leid und Freude, als wenn es unser eigenstes wäre, ist etwas, was durch bewußte Meditationen erreicht werden soll. Wir müssen zu der Empfindung kommen, als wären wir alle nur eine Einheit, und wir müssen fühlen lernen, daß Zeit und Raum etwas Getrenntes wird, wie schon im Anfang gesagt ist. Es wird sich oft herausstellen, daß wir öfter bei solchem Mitempfinden eine ungeheure Seligkeit in uns verspüren. Doch sollen wir uns nicht dieser Stimmung hingeben. Dieses soll nur das vorherrschende Gefühl sein, wenn wir leibfrei sein werden, also nicht empfinden im physischen Leibe, sondern in der Meditation, und dann die ungeheure Seligkeit genießen, schöpferisch mitzuarbeiten an der Welt. Dieses Seligfühlen erzeugt die größte Egoität; deshalb ist sie nur durch die Meditation förderlich. [9] Das, was unserer Verstandesseele beigemischt ist, ist Mitleid und Mitfreude. Darum hat diese auch zwei Namen: Verstandes- und Gemütsseele. Das Mitfühlen mit anderen wird im höheren Bewußtsein: eine Einheit werden mit den anderen. [10]

Der Grieche hatte ausgebildet die Verstandesseele; bei uns ist das Ich nach außen gerichtet, die Verstandes- oder Gemütsseele aber ist nun nach innen gerichtet, erfaßt mehr das innere Gleichgewicht und die innere Bewegungsfähigkeit des Leibes. (So) steckte der Mensch noch mehr in sich als Grieche, denn als moderner Mensch. [11]

Der provisorisch umgewandelte Ätherleib ist die Verstandesseele auf dem physischen Plan. Also die Verstandesseele haben wir zunächst im gegenwärtigen Menschheitszyklus lokalisiert im Ätherleib, das heißt, daß sie sich der ätherischen Bewegungen bedient. Die Inspirationsseele ist die umgewandelte Verstandesseele. [12] (Das biblische) Ruach (Geist genannt) dürfen wir anwenden für Verstandesseele. [13] (Siehe auch: Geist des Menschen).

Zitate:

[1]  GA 266/3, Seite 253   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[2]  GA 13, Seite 212   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[3]  GA 98, Seite 198   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[4]  GA 9, Seite 43   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[5]  GA 13, Seite 65f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[6]  GA 13, Seite 77   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[7]  GA 127, Seite 42f   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[8]  GA 127, Seite 44   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[9]  GA 266/2, Seite 436   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[10]  GA 266/3, Seite 442   (Ausgabe 0, 0 Seiten)
[11]  GA 169, Seite 95   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)
[12]  GA 145, Seite 180f   (Ausgabe 1976, 188 Seiten)
[13]  GA 122, Seite 181   (Ausgabe 1961, 200 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 122:  Die Geheimnisse der biblischen Schöpfungsgeschichte. Das Sechstagewerk im 1. Buch Moses (1910)
GA 127:  Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution (1911)
GA 145:  Welche Bedeutung hat die okkulte Entwicklung des Menschen für seine Hüllen (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) und sein Selbst? (1913)
GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 266/2:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band II (1910-1912)
GA 266/3:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band III (1913, 1914; 1920 – 1923) (1913-1923)