Theosophie

Das Höchste, zu dem der Mensch aufzublicken vermag, bezeichnet er als das «Göttliche». Und er muß seine höchste Bestimmung in irgendeiner Art mit diesem Göttlichen in Zusammenhang denken. Deshalb mag wohl auch die über das Sinnliche hinausgehende Weisheit, welche ihm sein Wesen und damit seine Bestimmung offenbart, «göttliche Weisheit» oder Theosophie genannt werden. Der Betrachtung der geistigen Vorgänge im Menschenleben und im Weltall kann man die Bezeichnung Geisteswissenschaft geben. [1]

Theosophie ist dasjenige, was erforscht wird, wenn der Gott im Menschen spricht. – Das ist im Grunde die wirkliche Definition der Theosophie: Laß den Gott in dir sprechen, und was er dir dann über die Welt sagt, ist Theosophie. [2] Theosophie an sich ist immer und überall dasselbe. [3] Das, was wir heute als Theosophie lehren, das ändert sich nicht seinem Wesen, aber seinen Formen nach. Wenn die Seelen der heutigen Zeit wiedergeboren werden, so werden sie in kommenden Zeiten ebenso reif sein, andere höhere, zukünftige Formen des Geisteslebens aufzunehmen. (Beispielsweise) unsere Erklärung der Apokalypse wird veralten; künftige Zeiten werden darüber hinausgehen. Aber die Apokalypse selbst wird darum nicht veralten. Sie ist weit größer als unsere Erklärungen und sie wird noch tiefere, noch höhere Erklärungen finden. [4]

Der Inhalt der irdischen Theosophie kann nur auf Erden erlangt werden, in einem physischen Leibe, (der Vorstellungen bewahren und als Wissen verfügbar machen kann). Sie kann gebraucht werden in der geistigen Welt, aber erworben muß sie werden in einem physischen Leibe. Durch die geistige Welt selber entsteht nicht Theosophie; sie entsteht nur auf Erden und kann dann durch die Menschen in die geistige Welt hinaufgetragen werden. Begriffe und Ideen von der übersinnlichen Welt können nur auf Erden entstehen und strahlen von dort wie ein Licht auf die geistige Welt aus. Daraus versteht man so recht die Bedeutung der Erde. Sie ist nicht bloß eine Durchgangsstufe oder ein Jammertal, sondern sie ist da, damit hier ein geistiges Wissen entwickelt werden kann, das dann hinaufgetragen werden kann in die geistigen Welten. [5]

Als die geistig gänzlich unfruchtbare westliche Kultur in einem ihrer Menschenvertreter nach einer geistigen Auffrischung suchte, was tat sie da? Da taten sich einige Leute Englands und Amerikas zusammen und entnahmen die Weisheit aus dem besiegten und geknechteten Indiervolk. Das heißt, sie gingen neuerdings nach dem Orient hinüber, um da die geistige Strömung zu suchen, in dem zu suchen, was noch als letzter Rest da drüben im Orient geblieben war von jener geistigen Strömung (siehe: Mysterien des Lichtes). Daher die englisch-amerikanisch gefärbte Theosophie, die aus dieser Quelle schöpfen wollte, aber aus ihrer gegenwärtigen Gestaltung. [6] Bei dem theosophischen Kongreß in Chicago 1893 hat der indische Brahame G. N. Chakravarti selbst gesagt, daß auch für ihn die Theosophie etwas völlig Neues oder wenigstens eine völlige Erneuerung der Weltanschauung gebracht habe. Er sprach damals aus, daß alle spirituelle Weltanschauung, auch seines Volkes in Indien, dem Materialismus gewichen sei, und daß es die Theosophische Gesellschaft war, welche die geistige Weltan-schauung in Indien erneuert habe. [7]

Was der äußere sinnliche Mensch schaut, gibt Sinnesweisheit, und das, was der innere göttliche Mensch schaut, ist, im Gegensatz zur sinnlichen Weisheit, Theosophie, göttliche Weisheit. So ist es gemeint, wenn man von Theosophie spricht. Man spricht von Theosophie nicht deshalb, weil der Gegenstand der Forschung Gott ist, denn Gott ist etwas, was erst am Ende der Dinge, auf dem Gipfel der Vollkommenheit dem Okkultisten offenbar werden könnte. Gott zu erforschen, obgleich wir wissen, daß wir in ihm leben, weben und sind, das wird sich am wenigsten der Theosoph vermessen. Ebensowenig wie derjenige, der am Strande des Meeres sitzt und seine Hand in das Meer hineinsenkt, glauben wird, daß der das ganze Meer ausschöpfen kann, ebensowenig wird der Theosoph glauben, daß er Gott umfassen kann. Wie aber der, welcher am Strande sitzt und eine Handvoll Wasser herausholt, weiß, daß das, was er herausnimmt, an Wassermasse von gleicher Wesenheit ist wie das ganze große Meer, so weiß auch der Theosoph, daß das, was er als göttlichen Funken in sich trägt, von gleicher Art und Wesenheit ist wie die Gottheit. Deshalb nennen wir das, was im Inneren des Menschen ist, göttlich, und die Weisheit, die der Mensch in seinem Innersten erforschen kann, die nennen wir göttliche Weisheit oder Theosophie. [8]

Die Okkulte Erkenntnis ist etwas, was nicht bloß dazu da ist, um von einigen Menschen, die neugierig sind, erkannt zu werden, sondern sie ist der Inhalt dessen, was zugleich für die Menschheit das allernotwendigste, das allerwesentlichste ist. Die okkulte Erkenntnis ist das Erleben der Urgründe des Daseins, der Urgründe des menschlichen Daseins vor allen Dingen. Die okkulte Erkenntnis mußte deshalb immer in das Leben eindringen, mußte dem Leben mitgeteilt werden. Daher mußten Mittel ausfindig gemacht werden, um die okkulten Erkenntnisse ins Leben hineintragen zu können, um sie den Menschen in ihrer Art verständlich zu machen. Das erste Mittel, okkulte Erkenntnisse den Menschen verständlich zu machen, ist und war immer dasjenige, was man Theosophie nennt. Wenn man die okkulten Erkenntnisse zur Theosophie macht, dann verzichtet man auf eine wesentliche Eigenschaft der okkulten Erkenntnisse, nämlich man verzichtet darauf, nur mit den allerhöchsten Mitteln zu sprechen. Man geht dazu über, in gewöhnliche menschliche Worte und menschliche Begriffe diese okkulten Erkenntnisse einzukleiden. Als Theosophie tritt daher die okkulte Erkenntnis so auf, daß sie zum Beispiel mitgeteilt wird dem einen Volke so, daß die Vorstellungen und Begriffe dieses Volkes dazu verwendet werden, um die allgemeinen okkulten Erkenntnisse einzukleiden. Dadurch wird aber die okkulte Erkenntnis spezifiziert und differenziert, weil es dann nur Mitteilungen durch Worte eines Teils der Menschheit sind. Es bestand in den Mysterien immer das Ziel und die Absicht, wenn man das allgemeine Menschheitsgut des Okkultismus in die speziellen Formen einer einzelnen Volkssprache oder einzelner Volksseelen verpflanzte, so allgemein-menschlich wie möglich zu bleiben. Aber zugleich mußte man verständlich werden, mußte man sich ausdrücken in der Sprache, die das Volk spricht, mußte man sich ausdrücken in den Begriffen, die das Volk ausgebildet hatte. Während nun der Okkultismus in seinem eigentlichen Sinne etwas ist, in das man sich hineinlebt dadurch, daß man die Mittel der hellseherischen Selbstzucht auf sich anwendet und also hinaufkommt zum Schauen, ist die Theosophie etwas, was einem entgegentritt in den Begriffen und Ideen, die man schon vorher hatte, in die nur eingekleidet sind die okkulten Erkenntnisse. Wenn nun die okkulten Erkenntnisse in die gewöhnlichen Begriffe und Ideen richtig eingekleidet sind, dann sind sie auch für den, der gesunde Urteilskraft hat und der sich Mühe gibt, die Dinge zu begreifen, verständlich. Daher ist die Theosophie für den gesunden Menschenverstand, wenn er sich nur Mühe gibt, durchaus zu begreifen. [9]

In der indischen Urzeit finden wir das okkulte Geheimwissen im Grunde genommen so weit, daß das Volk teilnehmen konnte an dem Wissen als Theosophie. Für die älteste indische Urzeit fällt im Grunde genommen Religion zusammen mit Theosophie. Aber mit dem Fortschreiten der Menschheits-entwickelung mußte die religiöse Form immer mehr angenommen werden, mußte darauf verzichtet werden, daß der Mensch mit seinem gesunden Menschenverstand auch einsah, was die Theosophie bieten konnte. Da wurden die theosophischen Wahrheiten in Glaubenswahrheiten umgegossen. In den äußerlichen christlichen Bekenntnissen, die sich entwickelt haben im Laufe der Jahrhunderte, ist zunächst sehr wenig zu bemerken von Theosophie. Da tritt der alte Charakter der Theosophie ganz zurück, und wir sehen sogar, wie in der Entwickelung des Christentums sich hinzuentwickelt zu dem Glauben die Theologie, nicht aber die Theosophie, welche sogar von den Theologen mit einem gewissen Haß, jedenfalls aber mit Antipathie und Abneigung verfolgt wurde. [10]

Das ist nun die besondere Aufgabe Mitteleuropas gewesen, die Theosophie zu erlösen von den speziellen Eigentümlichkeiten, die sie erhalten hat im europäischen Westen. Es war unsere Mission, die Theosophie rein, rein herauszulösen von allen Spezialinteressen. Dadurch, daß die Theosophie in Mitteleuropa so unpersönlich sein mußte, hat sie einen gewissen Charakter der Geistigkeit bekommen, der von allen Interessen losgelösten Geistigkeit. [11]

Zitate:

[1]  GA 9, Seite 22   (Ausgabe 1961, 214 Seiten)
[2]  GA 115, Seite 17   (Ausgabe 1965, 318 Seiten)
[3]  GA 109, Seite 157   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[4]  GA 104a, Seite 61   (Ausgabe 1991, 144 Seiten)
[5]  GA 140, Seite 323   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)
[6]  GA 195, Seite 19f   (Ausgabe 1962, 91 Seiten)
[7]  GA 52, Seite 62   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[8]  GA 52, Seite 367f   (Ausgabe 1972, 442 Seiten)
[9]  GA 137, Seite 20f   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[10]  GA 137, Seite 22f   (Ausgabe 1973, 216 Seiten)
[11]  GA 158, Seite 202f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)

Quellen:

GA 9:  Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904)
GA 52:  Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904)
GA 104a:  Aus der Bilderschrift der Apokalypse des Johannes (1907/1909)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 115:  Anthroposophie – Psychosophie – Pneumatosophie (1909/1911)
GA 137:  Der Mensch im Lichte von Okkultismus, Theosophie und Philosophie (1912)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)
GA 195:  Weltsilvester und Neujahrsgedanken (1919/1920)