Atlantis

Die Zeiten, in denen sich die Erde verfestigt hat aus verhältnismäßig fest-flüssiger Beschaffenheit, sie liegen ja noch in der atlantischen Zeit. Und das Menschengeschlecht war während der atlantischen Zeit ein ganz anderes. Es hatte in der Mitte der atlantischen Zeit noch nicht das heutige feste Knochengerüst. Menschen in ihrer damaligen Bildung glichen eigentlich substantiell mehr oder weniger niederen Tieren, nicht in ihrer Form – in ihrer Form waren sie sehr edel gebildet –, aber substantiell glichen sie niederen quallenartigen Tieren in weicher, sich verknorpelnder Substanz. Wir können also sagen: Alle physischen Verhältnisse auf der Erde sind seit jenen Zeiten anders geworden und zeigen nicht mehr jene radikalen Metamorphosen, jene radikalen Umwandlungen, die in der Mitte der atlantischen Zeit noch möglich waren. Wir hatten dort zum Beispiel in der jeweiligen unmittelbaren Gegenwart die Möglichkeit des Metamorphosierens so, daß der Mensch, der von weicher Materie war, bald größer, bald kleiner, bald so und bald so gestaltet war, je nachdem sein Seeleninneres war. Denn jede Seelenregung prägte sich sogleich im physischen Leibe aus. Wer dazumal in der Mitte der atlantischen Zeit die Sehnsucht hatte, etwas weit weg Liegendes zu ergreifen, dessen Wille wirkte in seine quallenartigen Organe so hinein, daß diese sich weit verlängerten. Es war also das ganze physische Geschehen ein anderes, die physischen Vorgänge in der jeweiligen Gegenwart waren in ihrem ganzen Verlauf andere. Es zeigte sich in allen physischen Vorgängen, in allen Transformationen, Metamorphosen ein Bild des wirklichen geistigen Geschehens.

Wenn auch der atlantische Kontinent damals im wesentlichen schon in seinen Formen blieb, er war etwas außerordentlich Bewegliches, ringsum von webender dichter Flüssigkeit eingeschlossen, er war etwas, man kann nicht sagen Halbflüssiges, aber doch Zähflüssiges, das die noch so weich organisierten Körper tragen konnte, die damals noch nicht auf dem Erdboden befestigten Pflanzen, die durchaus noch in dem substantiell Weichen, Beweglichen mehr oder weniger schwebenden oder gleitenden Pflanzen. Also es waren ganz andere physische Verhältnisse. Man kann sagen: Meer und Land waren noch nicht in der Weise geschieden wie später, sie gingen noch ineinander über. Es war so, daß diejenigen, die damals die Verhältnisse sehen konnten, davon sprachen: In dem unmittelbar angrenzenden Meer, wo mehr und stärker das sich Metamorphosierende sich ausdrückt als auf dem fest-flüssigen Lande, da walten die Götter stärker. Rings um die Atlantis sah man die waltenden Götter. Man hatte keinen Zweifel, daß da diese Götter walteten, man nahm überall das Geistige und das Seelische zugleich mit dem Physischen wahr; und man schaute im Physischen das Seelische und das Geistige. [1]

Der Boden der Atlantis bildet heute den Grund des atlantischen Ozeans. Plato erzählt noch von dem letzten Rest des Landes, der Insel Poseidonis, die westwärts von Europa und Afrika lag. Was darüber geschildert wird, hat sich aber nicht allein auf dem von den Wassern des Atlantischen Ozeans überfluteten Festland abgespielt, sondern auch auf den benachbarten Gebieten des heutigen Asien, Afrika, Europa und Amerika. Und was sich in diesen Gebieten später abspielte, hat sich aus jener früheren Kultur heraus entwickelt. [2] Was die germanische Mythologie mit dem Namen Niflheim oder Nebelheim – Wolkenheim – bezeichnete, das ist das Land der Atlantier. Die Erde war zu dieser Zeit in der Tat wärmer und noch umhüllt von einer konstanten Dampfhülle. Der atlantische Kontinent ging unter durch eine Reihe von sintflutartigen Wolkenbrüchen, in deren Verlauf die Erdatmosphäre sich lichtete. Erst dann entstanden blauer Himmel, Gewitter, Regen und Sonnenschein. Aus diesem Grunde sagt die Bibel, daß, nachdem die Arche des Noah gelandet war, der Regenbogen zum neuen Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem Menschen wurde. [3]

Die Kontinente Europa und Afrika in ihrer gegenwärtigen Form waren damals nicht vorhanden, ebenso nicht das heutige Amerika in seiner gegenwärtigen Form. Es war ein Hauptkontinent damals auf der Erde, die sogenannte Atlantis, ein Gebiet, das sich da ausdehnte, wo heute der Atlantische Ozean ist. [4]

Dieser Kontinent war umschlossen von einer Art von warmem (Meeresstrom), von einem Strom, bezüglich dessen das hellseherische Bewußtsein ergibt, daß er, so sonderbar es klingen mag, von Süden heraufging, durch die Baffins-Bai gegen das nördliche Grönland verlaufend und es umfassend, dann herüberfloß nach Osten, sich allmählich abkühlte, dann in der Zeit, in welcher Sibirien und Rußland noch lange nicht zur Erdoberfläche gehoben waren, in der Gegend des Ural hinunterfloß, sich umkehrte, die östlichen Karpathen berührte , in die Gegend hineinfloß, wo die heutige Sahara ist, und endlich beim Meerbusen von Biskaya dem atlantischen Ozean zuging, so daß er ein ganz geschlossenes Stromgebiet hatte. Dieser Strom ist noch in seinen allerletzten Resten vorhanden: der Golfstrom. Den Griechen tauchte auf das Bild des Okeanos, der eine Erinnerung ist an jene atlantische Zeit. Dieses geschlossene Stromgebiet haben sich die Chinesen förmlich wiedererschaffen in ihrer von der Mauer umschlossenen, aus der atlantischen Zeit herübergeretteten Kultur. Das Geschichtliche war in der atlantischen Kultur noch nicht vorhanden. Daher hat auch die chinesische Kultur etwas Ungeschichtliches behalten. [5]

Die physische Gestalt des Menschen war noch weit verschieden von der gegenwärtigen. Was gegenwärtig verfestigt ist, war in den Gliedern weich, biegsam und bildsam. Ein mehr seelischer, geistigerer Mensch war von zartem, beweglichem, ausdrucksvollem Körperbau. Ein geistig wenig entwickelter von groben, unbeweglichen, wenig bildsamen Körperformen. Seelische Vorgeschrit-tenheit zog die Glieder zusammen; die Gestalt wurde klein erhalten; seelische Zurückgebliebenheit und Verstricktheit in die Sinnlichkeit drückten sich in riesenhafter Größe aus. Verdorbenheit in den Leidenschaften, Trieben und Instinkten zog ein Anwachsen des Materiellen im Menschen ins Riesenhafte nach sich. Die gegenwärtige physische Menschengestalt ist durch Zusammenziehen, Verdichtung und Verfestigung des atlantischen Menschen entstanden. [6] Die Atlantier erhielten durch das luziferische Prinzip besondere Fähigkeiten, indem durch die hohen kosmischen Wesenheiten das zum Heil verwandelt wurde, was sonst zum Verderben hätte werden können. Eine solche Fähigkeit ist die der Sprache. Sie wurde dem Menschen zuteil durch seine Verdichtung in die physische Stofflichkeit und durch die Trennung eines Teiles seines Ätherleibes vom physischen Leib. [7] Die Atlantier sprachen von sich selbst in der dritten Person. [8]

Zunächst fühlte sich der Mensch mit den physischen Vorfahren durch das Gruppen-Ich verbunden. Doch verlor sich dieses gemeinsame Bewußtsein, welches Nachkommen mit Vorfahren verband, allmählich im Laufe der Generationen. Die späteren Nachkommen hatten dann nur bis zu einem nicht weit zurückliegenden Vorfahren die innere Erinnerung; zu den früheren Ahnen hinauf nicht mehr. In den Zuständen der Schlafähnlichkeit nur, in denen die Menschen mit der geistigen Welt in Berührung kamen, tauchte nun die Erinnerung an diesen oder jenen Vorfahren wieder auf. Die Menschen hielten sich dann wohl auch für eins mit diesem Vorfahren, den sie in ihnen wiedererschienen glaubten. Dies war eine irrtümliche Idee der Wiederverkörperung, welche namentlich in der letzten atlantischen Zeit auftauchte. Die wahre Lehre konnte nur in den Schulen der Eingeweihten erfahren werden. [9] In der Atlantis sah man auf zu den geistigen Mächten und sprach von einer Art von Einheitsgottheit, weil man eben hinaufsah in unmittelbarer Wahrnehmung in alte, urferne Entwicklungszustände der Menschheit. Man sah damals gleichsam noch das Walten der Geister der Weisheit (Kyriotetes) und das Walten der Geister der Bewegung (Dynamis), das die späteren Inder wieder aus der Akasha-Chronik heraus beobachteten. [10] Zu diesen sahen die Inder auf und sagten zu ihnen: Mula-Prakriti, das ist die Summe der Geister der Bewegung, Dynamis, und Maha-Purusha, die gesamte Summe der Geister der Weisheit, Kyriotetes, was wie in einer geistigen Einheit lebt. [11]

Nicht in vernunftgemäßen Begriffen und Vorstellungen erhob sich der Atlantier zu seinem Gott, sondern er spürte gleichsam etwas Heiliges in aller Natur als einen Grundakkord der Gottheit, er atmete gleichsam seinen Gott aus und ein. [12] Wenn der Atlantier unter den ihm erklingenden Tönen hinhorchte auf den Zwischenton, dann hörte er den Namen dessen, was er als das Göttliche erkannt hatte. [13] Der äußere Laut davon ist in dem chinesischen Worte TAO enthalten. [14] Wenn der Atlantier von seinem großen Geist sprach, so drückte er das aus in dem Worte, das ähnlich klang dem noch in China erhaltenen Worte Tao. Und eine ahrimanische Karikatur, ein ahrimanischer Widerpart, Gegner dieses Großen Geistes Tao, der aber doch mit ihm verwandt war, (ist) Taotl, eine mächtige, nicht bis zur physischen Inkarnation kommende Wesenheit der amerikanischen nachatlantischen Mysterien (siehe: Mysterien Amerikas). [15]

Zitate:

[1]  GA 346, Seite 169f   (Ausgabe 1995, 343 Seiten)
[2]  GA 11, Seite 24   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[3]  GA 94, Seite 24f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[4]  GA 191, Seite 227   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[5]  GA 121, Seite 176f   (Ausgabe 1982, 214 Seiten)
[6]  GA 13, Seite 265f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[7]  GA 13, Seite 264   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[8]  GA 94, Seite 25   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[9]  GA 13, Seite 265   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[10]  GA 121, Seite 142   (Ausgabe 1982, 214 Seiten)
[11]  GA 121, Seite 140   (Ausgabe 1982, 214 Seiten)
[12]  GA 95, Seite 100   (Ausgabe 1978, 164 Seiten)
[13]  GA 97, Seite 128   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[14]  GA 94, Seite 163   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[15]  GA 171, Seite 57f   (Ausgabe 1964, 376 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 95:  Vor dem Tore der Theosophie (1906)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 121:  Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie (1910)
GA 171:  Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts (1916)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 346:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, V. Apokalypse und Priesterwirken (1924)