Seher

Das spirituelle Sehen haben nur wenige Menschen in unserem Zeitalter. Später werden es mehr Menschen sein. Diejenigen Menschen haben es, welche es sich durch frühere Verkörperungen erworben haben, indem sie ein reines, mentales Leben geführt haben, diejenigen, welche auf dem Gebiete des Denkens die Wege des reinen, kristallklaren Erkennens der Welt gesucht haben. Derjenige Mensch, für den das Verfolgen der reinen moralischen Tat so selbstverständlich war, wie für den gewöhnlichen Menschen das Verfolgen seiner alltäglichen Beschäftigungen, Vergnügungen, Leidenschaften und Triebe, derjenige, für den das Leben in reinen Gedanken selbstverständlich war, der bringt dann im nächsten Leben die Fähigkeit mit, diese Dinge, denen er sich in den früheren Leben hingegeben hat, so um sich zu sehen, wie andere Menschen die physischen Dinge sehen. Er durchschaut die Welt, er blickt gleichsam von oben her nicht nur in die physische Welt hinein, sondern auch in diejenige, welche ich als die astrale Welt beschrieben habe. Er kann diese beschreiben, in großen Zügen allerdings. [1]

Der Seher empfindet nicht bloß die Dinge, sondern er empfindet in den Dingen; er denkt nicht über die Natur, sondern er tritt aus sich heraus, und denkt in der Natur. Man spricht vom Öffnen der astralen Sinne. [2] Wer heute, und zwar wirklich aus den naturgemäßen Voraussetzungen unserer Zeit, zum Sehertume kommt, bei dem verhält sich die Sache so: Er bekommt das, was man nennen kann seine Eingebungen, Erfahrungen und Erlebnisse aus der geistigen Welt so, daß er aus seinem gewöhnlichen irdischen Denken heraus durchdringen muß diese Eingebungen mit dem, was er als logisches, vernünftiges Denken hier in der physischen Welt gewinnen kann. Vollständig zu verstehen sind die der heutigen Zeit angehörigen Erfahrungen des Sehers gar nicht, wenn ihnen nicht entgegengekommen wird von einer Seele, die sich erst ordentlich geschult hat an logischem und vernünftigem Denken. Wer sie heute hat, ohne daß er den Willen hat zum logischen Denken, ohne daß er den Willen hat zur entsagungsvollen, vernünftigen Ausbildung seiner irdischen Kräfte, der kann nur zu dem kommen, was man nennt visionäres Hellsehen, das durchaus nicht vollständig verstanden werden könnte, ein Hellsehen, welches unverständlich bleibt und daher auch irreführend ist. Für den ägyptischen oder chaldäischen Seher war das ganz anders. Er bekam mit seinen Eingebungen, die einen ganz anderen Weg machten, zugleich die logischen Gesetze. Daher brauchte er keine besondere Logik. Ihm wurden, wenn er durch eine geistige Schulung durchgegangen war, die fertigen Gesetze schon in den Eingebungen gegeben. Dazu taugt der heutige Organismus nicht mehr. Darüber hat er sich hinausentwickelt, denn die Menschheit schreitet vorwärts. [3]

Zitate:

[1]  GA 88, Seite 36ff   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)
[2]  GA 34, Seite 61   (Ausgabe 1960, 627 Seiten)
[3]  GA 117, Seite 56f   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)

Quellen:

GA 34:  Lucifer – Gnosis. Grundlegende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus den Zeitschriften «Luzifer» und «Lucifer – Gnosis» 1903 – 1908 (1903-1908)
GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 117:  Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien (1909)