Römertum

Die Römer waren ja von Naturanlage aus ein prosaisches, nüchternes Volk – es war gar so, daß sie jeden Sinn verleugneten für das Urwissen, daß sie alles in Abstraktionen umsetzten. Für die Entwickelung der Menschheit war es notwendig, daß der Gang so war mit Bezug auf die Urweisheit. Die Menschen hätten (sonst) niemals zur Entwickelung der Freiheit kommen können.191.129

Bis zum 4. nachchristlichen Jahrhundert hat im Römertum noch das Griechentum geherrscht. Eigentlich wurde das Römertum erst herrschend, als es schon untergegangen war. Es war in gewissem Sinne dazu prädestiniert, in seinem Toten erst zu wirken, in seiner toten lateinische Sprache. [1] Was wir in dieser (römischen Kaiser-)Zeit aufflackern sehen wie ein letztes großes Licht der von der Uroffenbarung herkommenden Strömung, das ist die bis in unsere Zeit im Jugendunterricht eine so große Rolle spielende lateinisch-römische Poesie; das ist alles dasjenige, was sich als Fortsetzung dieser lateinisch-römischen Poesie bis zum Untergange des Römertums entwickelt hat. In dieses Römertum hinein hatten sich alle möglichen Nuancen von Weltanschauungen geflüchtet. Es breitete sich aus über zahlreiche Sekten, über zahlreiche religiöse Anschauungen und konnte eine gewisse Gemeinsamkeit dieser Vielheit nur dadurch entwickeln, daß sich das eigentliche Römertum gewissermaßen bis in die äußerlichen Abstraktionen zurückzog. Man sehe, wie zum Beispiel Augustinus zuerst aufnimmt alle Elemente der alten verstrohenden Weltanschauung, und wie er versucht durch das, was er so aufnimmt, zu begreifen dasjenige, was als lebendiges Seelenblut hereinfließt, da er jetzt das Christentum wie einen lebendigen Impuls in seine Seele hineinfliessen fühlt. Augustinus ist eine große und bedeutende Persönlichkeit; aber man sieht es jeder Seite seiner Schriften an, wie er ringt, um in sein Verständnis hineinzubringen, was aus dem Christus-Impulse heranflutet. So geht es fort, und so ist das ganze romanische Bemühen: hineinzubekommen in die abendländische Begriffswelt, in diese Weltanschauungswelt, die lebendige Substanz desjenigen, was in dem Mysterium von Golgatha zum Ausdruck kommt.

Was ist denn das, was sich da so bemüht, was da so ringt, was in dem Römertum, in dem Lateinertum die ganze gebildete Welt überflutet, was im Lateinertum verzweifelt ringt, in die Begriffe, die in der lateinischen Sprache pulsieren, hineinzubringen das Mysterium von Golgatha? was ist denn das? Das ist auch ein Teil desjenigen, was gegessen haben die Menschen im Paradiese. Das ist ein Teil des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und ich möchte sagen, wir können sehen, wie ursprünglich in den Uroffenbarungen, als noch zu den Menschen alte, hellseherische menschliche Wahrnehmungen sprechen konnten, lebendig in dieser alten Zeit die Begriffe leben, die noch Imaginationen sind, und wie sie immer mehr und mehr vertrocknen und ersterben, dünner werden. Sie sind so dünn, daß um die Mitte des Mittelalters, als die Scholastik blühte, die größte Seelenanstrengung dazu gehörte, um die Begriffe, die schon so dünn geworden waren, so weit noch in sich zuzuspitzen, daß man in diese Begriffe dasjenige hereinbekam, was als lebendiges Leben im Mysterium von Golgatha vorhanden ist. Diesen war geblieben die destillierte Form der alten römischen Sprache mit ihrer so außerordentlich schön in sich gefügten Logik, aber mit ihrem fast ganz verlorenen Leben. Diese lateinische Sprache wird erhalten mit ihrer strammgeschürzten Logik, aber mit ihrem innerlich fast ganz erstorbenen Leben, wie eine Erfüllung des Urgötterspruches: Die Menschen sollen nicht essen vom Baume des Lebens. Wenn es möglich gewesen wäre, daß dasjenige, was sich aus dem alten Lateinertum ausgebildet hat, voll hätte begreifen können, was mit dem Mysterium von Golgatha sich vollzogen hat, wäre es möglich gewesen, daß das Lateinertum, einfach wie durch einen Stoß, das Verständnis hätte gewinnen können von dem Mysterium von Golgatha, dann wäre dies gewesen ein Essen vom Baume des Lebens. Das aber war verboten, nach dem Ausschluß aus dem Paradiese. Diejenige Erkenntnis, die in die Menschheit gekommen war im Sinne der alten Uroffenbarung (siehe: Urweisheit), die sollte nicht dazu dienen, jemals lebendig zu wirken. Daher konnte sie nun mit toten Begriffen das Mysterium von Golgatha erfassen. [2] (Siehe auch: Griechentum und Römertum).

Zitate:

[1]  GA 204, Seite 311   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[2]  GA 162, Seite 158ff   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)

Quellen:

GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)