Christus Leben
► Auferweckung des Lazarus

Das zweite nachatlantische Zeitalter ist dasjenige des Zarathustra. Das Ich des Zarathustra, das höchstgestiegene menschliche Ich, war dazu auserlesen, während 18 Jahren zu wohnen in den Hüllen (des Jesus von Nazareth), die dann den Christus aufnehmen sollten. Sein Ich verließ die Hüllen kurz vor der Johannes-Taufe im Jordan. So war Zarathustra nicht im Fleische verkörpert dabei, als der Christus auf Erden wandelte. Er selber inkarnierte sich bald nach dem Verlassen der drei Hüllen des nathanischen Jesus, sein Ich verband sich mit dem Ätherleib des salomonischen Jesus, der bei dessen Tode von der Mutter des nathanischen Jesus mit hineingenommen worden war in die geistige Welt (siehe: Meister Jesus).

Es konnte der Christus Jesus also nicht den Zarathustra als den berufenen Repräsentanten des zweiten nachatlantischen Zeitalters auferwecken. Doch war gleichsam stellvertretend eine andere Individualität auf Erden verkörpert in jener Zeit, deren Entwickelung und für die Menschheit bedeutsamste Mission in merkwürdiger Weise derjenigen des Zarathustra parallel ging. Es war dies Lazarus, der wiedergeborene Hieram Abiff, der bedeutungsvollste der Kainssöhne, der gleichfalls gearbeitet hatte an der Erdenmission von dem menschlichen Ich aus, wie es Zarathustra im alten Persien getan hatte. Er wird «krank», er «stirbt» und wird ins Grab gelegt. Der Christus Jesus erfährt von seiner Krankheit und er spricht zu seinen Jüngern von dem Tode des Lazarus. «Da sprach Thomas, der genannt ist der Zwilling, zu den Jüngern: Laßt uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben.» Hier werden die Seelen, die dem zweiten Zeitraum angehören dargestellt von Thomas, dem «Zwilling». Denn der zweite nachatlantische Zeitraum war der Zeitraum der Zwillinge. Und der Christus kommt zu dem Grab, in das man Lazarus gelegt hat und er spricht die sakramentalen Worte vor allem Volk: «Lazarus komm heraus! – Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Händen und Füßen und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweißtuch. Und der Christus Jesus spricht die Worte, die gleichsam andeuten, daß von der Stunde an dieser Eingeweihte wird anfangen zu wirken. «Löset ihn auf und lasset ihn gehen». Es ist nicht ein Jüngling wie der Jüngling zu Nain, er ist ein Mann im vollen Besitze seiner Geisteskräfte. Und der auferweckte Lazarus wird der Schreiber des Johannes-Evangeliums. Er ist derjenige, der am Kreuze steht und zu dem der Christus von Kreuze herab spricht, hinweisend auf die Mutter Sophia-Maria: «Siehe, das ist deine Mutter!» So wird noch einmal bekundet sein eigentümliches Verhältnis zu dem Ich des Zarathustra, der als der salomonische Jesusknabe wirklich als der Sohn dieser Mutter geboren wurde. (Weiteres siehe unten). Mit dieser Kraft in sich kann er wirken schon vor dem sechsten nachatlantischen Zeitalter, schon in dem fünften Kulturzeitalter bereitet er vor das sechste, dasjenige, welches das tiefste Verständnis des Christus-Impulses zeigen wird, welches das Johannes-Evangelium am besten verstehen wird. [1]

Als der Christus Jesus auf Erden umherwandelte, waren von dem dritten Kulturzeitalter nur noch die heruntergekommenen Nachkommen vorhanden. Das zweite Zeitalter war als Kulturträger fast ganz von der Erde geschwunden, nur wenige Anhänger von der vielfach entarteten Zarathustra-Religion lebten hie und da zerstreut. [2]

Es steht in der Mitte des Johannes-Evangeliums eine Tatsache, ohne deren Verständnis überhaupt das Johannes-Evangelium nicht begriffen werden kann. Durch dieses Kapitel über die Auferweckung des Lazarus zerfällt das ganze Johannes Evangelium in zwei Teile. Es ist hingewiesen am Ende des ersten Teiles darauf, daß für alles dasjenige, was behauptet wird, was bekräftigt werden soll über den Christus Jesus, das Zeugnis des Täufers Johannes gelten soll; und es ist ganz am Ende darauf hingewiesen, daß für alles das, was nach dem Kapitel über die Auferweckung des Lazarus steht, das Zeugnis des Jüngers gelten soll, von dem wir öfters hören die Worte: «den der Herr lieb hatte». [3]

Diese Auferweckung eines Menschen bestimmt gerade die Gegner, gegen den Christus Jesus aufzutreten. Warum regt die Gegner gerade die Auferweckung des Lazarus so auf? Warum beginnt gerade da die Verfolgung? – Dieses Mysterium, das sich dahinter verbirgt, ist nichts anderes als die Mitteilung darüber, wer eigentlich der wirkliche Autor des Johannes-Evangeliums ist. Um das zu verstehen, müssen wir einmal einen Blick werfen auf das, was wir die «Einweihung» in den alten Mysterien nennen. Ein Mensch, der eingeweiht worden war, konnte selbst Erlebnisse, Erfahrungen haben in den geistigen Welten. Der Einzuweihende wurde durch den Initiator, der die Sache verstand, dreieinhalb Tage in einen totenähnlichen Zustand versetzt (siehe: Einweihung; Mysterien). Solange der Ätherleib im physischen Leibe steckt, ist es nicht möglich, daß das, was durch die Übungen erreicht wird, sich auch wirklich abdrückt im Ätherleibe. Dazu mußte ehedem der Ätherleib herausgehoben werden aus dem physischen Leibe. Wenn also in den dreieinhalb Tagen des totenähnlichen Schlafes der Ätherleib herausgehoben war aus dem physischen Leibe, drückte sich alles das, was im Astralleibe vorbereitet war, ab. Der Mensch erlebte die geistige Welt. Wurde er dann wieder durch den Priester-Initiator zurückgerufen in den physischen Leib, so war er ein Zeuge dessen, was in den geistigen Welten vorgeht, durch sein eigenes Zeugnis. Diese Prozedur ist eben durch die Erscheinung des Christus Jesus unnötig geworden. Dieser dreieinhalb Tage lange todähnliche Schlaf kann nunmehr durch die von Christus ausgehende Kraft ersetzt werden. Im Johannes-Evangelium liegen die starken Kräfte, daß heute der Astralleib, auch wenn der Ätherleib im physischen Leibe drinnen ist, die Stärke hat, trotzdem abzudrücken (und dadurch wahrnehmbar zu machen), was vorher in ihm vorbereitet war. Dazu mußte aber erst der Christus Jesus da sein. Vorher waren die Menschen nicht so weit, daß ohne die charakterisierte Prozedur das, was im astralischen Leibe durch Meditation und Konzentration vorgebildet war, im Ätherleib hätte abgedrückt werden können. Das wurde immer im tiefsten Geheimnis vollbracht, und nichts wußte die äußere Welt von den Vorgängen in den alten Mysterien. Durch den Christus Jesus sollte an die Stelle der alten Einweihung eine neue treten. [4]

Für den Übergang sollte jemand noch einmal auf die alte Art eingeweiht werden, aber in die christliche Esoterik. Das konnte nur der Christus Jesus selbst tun – und es sollte der Einzuweihende jener sein, der da Lazarus genannt wird. «Diese Krankheit ist nicht zum Tode», heißt es da; sie ist der dreieinhalbtägige todähnliche Schlaf. Es wird uns gesagt, «daß der Herr den Lazarus lieb hatte». Was bedeutet «lieb haben» in der Mysteriensprache? Es drückt aus das Verhältnis des Schülers zum Lehrer. «Den der Herr lieb hatte» ist der intimste, der eingeweihteste Schüler. Den Lazarus hat der Herr selbst eingeweiht, und als ein Eingeweihter erhob sich Lazarus aus dem Grabe, das heißt aus seiner Einweihungsstätte. Vor der Auferweckung des Lazarus wird ein alter Eingeweihter angeführt, ein solcher, der gekommen ist zu der Erkenntnis des Geistes, und es wird betont, daß sein Zeugnis wahr ist. – Daher haben wir in dem ersten Teile des Johannes-Evangeliums das Zeugnis des alten Johannes, in dem zweiten Teil das Zeugnis des neuen Johannes, den der Herr selbst eingeweiht hat. Dieses Kapitel steht da, weil Johannes sagen wollte: Ich berufe mich auf mein übersinnliches Sehen, nicht auf mein Wahrnehmen in der physischen Welt; ich erzähle euch, was ich gesehen habe in der geistigen Welt dadurch, daß mir der Herr die Einweihung hat zuteil werden lassen. [5]

Nun sahen die, welche mit «Pharisäer» oder mit anderen Namen bezeichnet wurden, in dem Christus Jesus einen solchen, der eigentlich ihrem alten Einweihungsprinzip widerstrebte, der in ihren Augen etwas tat, was sie in ihrem konservativen Sinne nicht zugeben konnten. Sie sagten, weil sie eben konservativ waren: Es muß bei dem alten Einweihungsprinzip bleiben! – Und dieser Widerspruch: Immer von dem zukünftigen Christus zu sprechen, aber niemals den Zeitpunkt eintreten lassen, wo er wirklich da sei, das ist es eben, was ihrem Konservatismus zu Grunde liegt. Daher mußten sie, als der Christus Jesus den Lazarus einweihte, es als einen Bruch mit der alten Mysterien-Tradition ansehen. «Der Mensch tut viele Zeichen!» Mit dem können wir keine Gemeinschaft haben! – Er hat nach ihrer Auffassung die Mysterien verraten, dasjenige zu einem Öffentlichen gemacht, was in den Tiefen der Mysterien-Geheimnisse eingeschlossen sein sollte. Und jetzt begreifen wir, daß dies ihnen wie ein Verrat war und als der Grund erschien, daß sie gegen ihn auftreten müßten. Daher beginnt damit die Verfolgung des Christus Jesus. [6]

Bei der Auferweckung des Lazarus drang von oben her bis zur Bewußtseinsseele die geistige Wesenheit Johannes des Täufers, der ja seit seinem Tode der die Jüngerschar überschattende Geist gewesen ist, in den vorherigen Lazarus ein, und von unten her die Wesenheit des Lazarus, so daß beide sich durchdrangen. Das ist dann Johannes, der Jünger, den der Herr lieb hatte. [7]

Wenn der Mensch aus dieser Welt in die astrale Welt (siehe: Astralplan) eingetreten ist, befindet er sich in einem Gebiete, aus dem ihm ein weiterer Aufstieg in eine noch höhere Welt, in die mentale oder devachanische Welt führt. Dieser Eintritt in das Devachan muß mit einem völligen Entwerden, einer Tötung der niederen Natur erkauft werden. Der Mensch muß durchgehen durch den dreitägigen Tod und dann auferweckt werden. Das bewußte, gedankliche Sich-Finden auf dem höheren Plan für sein eigenes Selbst – das ist die Auferweckung des Lazarus. [8] Johannes heißen alle, die erweckt sind, das ist ein Gattungsname. Johannes mußte sich bis zur Buddhi hinaufentwickeln, um erfassen zu können, was in dem Christus Jesus sich offenbarte. Die anderen Evangelisten waren nicht so hoch entwickelt. [9]

Zwei Dinge müssen, mußten zusammenkommen, um die Buddhi wirklich wirkend werden zu lassen: die Menschen mußten als Träger der bisherigen Entwickelung nun ein aus Manas gebildetes Organ für Buddhi haben. Sie mußten durstig sein nach Buddhi, durstig, über den Verstand hinauszukommen. Gehirnentwickelung endet ohne Zusammenhang mit den höheren Gliedern immer in einer Sackgasse, sie kommt über manasische Entwickelung, über astrale Dinge nicht hinaus. Es gab solche Menschen, die aus dem Manas heraus der Buddhi ein hochentwickeltes Seelenorgan entgegenbrachten. Es mag noch so viel Licht scheinen, wenn kein Auge da ist, wird es nicht wahrgenommen. So ist es auch mit Buddhi. Es gab einen Namen für alle die Menschen, die ein solches Organ entwickelt hatten, die durstig waren nach Buddhi, einen Gattungsnamen: Johannes. Er ist auch besonders anwendbar auf den Täufer. Christus und Buddhi ist dieselbe Strömung in geistiger Beziehung. [10]

Zitate:

[1]  GA 264, Seite 230ff   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[2]  GA 264, Seite 233   (Ausgabe 1984, 476 Seiten)
[3]  GA 103, Seite 69   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[4]  GA 103, Seite 70ff   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[5]  GA 103, Seite 72f   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[6]  GA 103, Seite 74   (Ausgabe 1962, 224 Seiten)
[7]  GA 238, Seite 174   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[8]  GA 94, Seite 199   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[9]  GA 94, Seite 245   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[10]  GA 94, Seite 249f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)

Quellen:

GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 103:  Das Johannes-Evangelium (1908)
GA 238:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 264:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904 bis 1914. Briefe, Rundbriefe, Dokumente und Vorträge (1904-1914)