Konzentration als geistige Übung

Es ist wahr, daß das Denken, wie wir es im gewöhnlichen Leben entwickeln, an das Zentralnervensystem und an das übrige Nervensystem gebunden ist. Aber wahre Geisteswissenschaft lehrt uns erkennen, daß diejenige Formation, diejenige Gestaltung des Gehirnes, des Zentralnervensystemes, welche zum Denken im Alltag herbeigeführt werden muß, aus dem Geiste herausgeflossen ist, daß der Geist unseren Leib erst so aufbaut, daß dieser Leib das Werkzeug des Denkens werden kann. [1]

Welche Rolle Aufmerksamkeit oder Interesse im Menschenleben spielen, das wird derjenige bemerken, der über die Güte oder die Schwäche des Gedächtnisses schon einmal nachgedacht hat. Er wird wissen, daß ein starkes, gutes Gedächtnis in vieler Beziehung eine Folge der Möglichkeit ist, auf die Dinge Aufmerksamkeit zu wenden, sie mit Interesse zu verfolgen. Etwas, worauf wir intensive Aufmerksamkeit verwendet haben, etwas bei dem wir mit unserm vollem Interesse dabei waren, das gräbt sich in unserer Seele ein, das bewahrt sich in unserm seelischen Leben. Die Steigerung der Aufmerksamkeit ist etwas, was der Geistesforscher immer wieder und wieder üben muß, was er zu einer solchen Intensität bringen muß, gegen welchen der Grad von Aufmerksamkeit, die man im gewöhnlichen Leben entwickelt, ein verschwindender ist. Es gehören jahrelange, in Ausdauer verbrachte Übungen der Seele dazu, um die Seelenkraft zu entwickeln, die uns im gewöhnlichen Leben in geringem Maße als Aufmerksamkeit entgegentritt, und wir nennen in der Geisteswissenschaft dieses gesteigerte Leben in Aufmerksamkeit Konzentration. [2]

Wir nennen es Konzentration des geistigen Lebens, weil der menschliche Geist oder die menschliche Seele, so wie diese einmal sind, im Alltage ihre Kräfte über ein weites Gebiet ausbreiten, über ein Gebiet, das alles umfaßt, was die äußere Sinnenwelt bietet und was der Verstand an diesen äußeren Sinneswahrnehmungen sich heranbildet. Verbreitet wird auch im gewöhnlichen Leben das, was seelische Kräfte sind, über alles, was der Mensch will, was er wünscht, worüber er in Affekte kommen kann und so weiter; kurz, das Seelenleben ist zunächst zerstreut. Was bei dem, was der Geistesforscher in sich ausbilden muß als eine Zubildung des geisteswissenschaftlichen Apparates, die er sich auf geistigem Gebiet ebenso zubereiten muß, wie der Chemiker im Laboratorium auf materiellem Gebiete seine Apparate zubereitet, was dabei geschehen muß, das ist, diese sonst über das Leben zerstreuten Seelenkräfte gleichsam in einem Punkte zu sammeln, die Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu wenden. Auf was für einen Punkt? Auf einen selbst gewählten Punkt im inneren Erleben der Seele.

Dazu ist notwendig, daß man den starken Willen entwickelt, wirklich sein ganzes Seelenleben auf diesen einen Punkt hin zu konzentrieren. Das heißt aber, daß man imstande ist, künstlich das herbeizuführen, was sonst im Schlafzustande auf naturgemäße Weise eintritt. Im Schlafzustande erschlaffen unsere Sinne; die Welt hört auf, für uns sinnlich wahrnehmbar zu werden. Farben, Töne, Gerüche hören auf, auf uns Eindrücke zu machen. Aber zugleich schwindet dabei unser Bewußtsein. Beim Geistesforscher muß es gerade das Bewußtsein sein, das willkürlich alle äußeren Eindrücke zum Schweigen bringt, und doch muß zugleich das Bewußtsein voll erhalten werden. Auf gleiche Weise muß zum Stillstand gebracht werden, was gleich im Einschlafen zum Stillstand kommt: alles, was den Willensimpulsen entspricht, muß vollständig ruhig werden. Und auch alles, was sonst der Mensch aufbringt, um sich tatkräftig in die Welt hineinzustellen, muß für den Geistesforscher vollständig ruhig werden. Er muß sein Bewußtsein von allem ablenken, worauf es sonst gerichtet ist, und muß den ganzen Umkreis der Seele nur auf den einen Punkt konzentrieren, den man sich selbst gewählt hat. Dann erstarken unsere Seelenkräfte. [3]

Die Konzentration, die gesteigerte Aufmerksamkeit, das ruft die in der Menschenseele zwar vorhandenen, aber im alltäglichen Leben schlummernden Kräfte hervor, durch welche das Geistig-Seelische, das sonst mit dem Körperlich-Leiblichen in ungetrennter Verbindung ist, von diesem Leiblichen so herauszutrennen ist, wie der materielle Wasserstoff aus dem Wasser herausgetrennt wird beim chemischen Experiment. Und das ist es, was der Geistesforscher erlebt, wenn er diese Aufmerksamkeitssteigerung in energischer, in oft eben jahrelanger, hingebungsvoller Übung betreibt: daß tatsächlich dasjenige, was sonst überhaupt in seiner Wirklichkeit leicht angezweifelt werden kann, nämlich das Geistig-Seelische, für ihn unmittelbares Erlebnis wird: ich weiß jetzt erst, was das Geistig-Seelische ist, weil ich mich im Geistig-Seelischen erlebe. [4] Man erlebt sich, wenn man besonders diese Konzentrationsmethoden des Denkens anwendet, außerhalb seines Gehirnes. Man weiß jetzt erst, wie das Gehirnwerkzeug ist. Er fühlt, sich selber erlebend, wie sein Gehirn umkreisend, fühlt sich wie im Umkreise seines Gehirnes. Er weiß, was es heißt, nicht so denken, wie man im gewöhnlichen Leben denkt, sondern denken bloß im geistig-seelischen Element und das Gehirn außerhalb dieses Elementes fühlen – ja, es sogar wie etwas fühlen, was Widerstand leistet. [5]

Wenn der Geistesforscher seine Übungen fortsetzt und wirklich die Hingabe hat, nicht auf ein Bild sondern auf Hunderte und Hunderte von Bildern sein ganzes Seelenleben zu konzentrieren, so daß sich die Kräfte selbst immer mehr und mehr steigern, dann kommt ein erschütterndes Ereignis. Es tritt für den einen in der einen Form, für den anderen in einer anderen Form ein, hat aber immer etwas Typisches. Es kann der Mensch, sogar mitten im Alltagsleben, wenn er lange genug Übungen dazu gemacht hat – und es wird ihn, wenn die Übungen richtig gemacht worden sind, das äußere Leben nie stören –, dazu kommen, sich zu sagen: Was ist es, was sich dir aus dem alltäglichen Vorstellen heraus offenbaren will? Es ist etwas, was auf dich eindringen will, aber auf dich eindringen will wie etwas, was sonst nur aus deiner eigenen Seele aufsteigt. Aber es kann auch eindringen wollen wie etwa ein Traum, wenn man aus dem Schlafe erwacht, was aber wieder unendlich mehr ist als ein Traum, was hereintritt. Es geschieht etwas, was sich etwa wie ein in den Raum einschlagender Blitz ausnimmt, den man durch sich durchgehend fühlt. Und man kann sich sagen: Es ist, wie wenn dein Leib von dir abfällt und zerstört würde. Aber man weiß jetzt: Du kannst in dir drinnen sein, ohne in deinem Leibe zu sein! Von diesem Augenblicke an – denn diesen Wert hat dieses Erlebnis, das es immer gegeben hat, wenn es auch eben in der äußeren Welt nicht bekanntgegeben worden ist – weiß man, wenn man es zum ersten Male erlebt, was die Geistesforscher gemeint haben, die gesagt haben: Wer das Ewige im Menschen, das Geistig-Seelische, erlebt, der muß herantreten an die Pforte des Todes. Man erlebt an sich selber den Tod im Bilde. Man erlebt im Bilde in der realen, nicht eingebildeten Imagination, was es heißt: Das Geistig-Seelische trennt sich ab vom Leibe und hat seinen Bestand, wie es sich abtrennt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet. Sich also außerhalb seines Leiblichen zu wissen, das ist die Frucht der gesteigerten Aufmerksamkeit, dergesteigerten Konzentration.63.26f

Man merkt schon auf verhältnismäßig elementaren Stufen dieses Außer-dem-Leibe-Stehen insbesondere in bezug auf das Zentralnervensystem. Man erlebt den Augenblick, wo man sich sagen muß: Du warst jetzt außerhalb deines Leibes; du mußt wieder zurückkehren in deinen Leib und das, was du außerhalb des Leibes erlebt hast, so gestalten, daß du dein Gehirn davon ergreifen läßt, daß die Gedanken, welche du außerhalb des Leibes gehabt hast, Gehirngedanken werden. Dieses Sichhineinbegeben in das Gehirn erlebt man, und das ist mit etwas verknüpft, was gut vorbereitet sein muß. Man weiß dann, indem man mit dem Denken in das Gehirn untertaucht, daß das Gehirn Widerstand leistet, und daß in der Tat der Denkprozeß des gewöhnlichen Lebens eine Zerstörung des Zentralnervensystems ist; echte Zerstörungsprozesse, die aber wieder durch den Schlaf aufgehoben werden. Wenn man aber im geistigen Üben fortschreitet, so erlebt man sich untertauchend in einen Auflösungsprozeß; und das drückt sich, wenn man nicht die richtigen Gefühle in der Vorbereitung ausgebildet hat, darin aus, daß man Furcht hat, in den Organismus wieder unterzutauchen. Der Mensch steht ja jetzt außerhalb des eigentlichen Erdenleibes. Wie in einen Abgrund fühlt man sich untertauchen. Und man muß daher gerade solche Übungen machen, die einem Gelassenheit, die einem Affektlosigkeit gegenüber dem geben, was sonst als Ängstlichkeit, als Furcht auftreten kann. [6]

Noch etwas anderes muß hinzutreten, wenn wirkliche Kunde, wirkliche Offenbarung aus den geistigen Welten in die Menschenseele hereindringen soll. Eine andere Kraft muß bis zur höchsten Intensität gesteigert werden: die Hingabe, Liebe zu dem, was uns entgegentritt. Man hat ja diese Hingabe bis zu einem gewissen Grade im gewöhnlichen Leben nötig. Aber diese Hingabe muß bei dem Wege in die geistigen Welten soweit gesteigert werden, daß der Mensch bis in seinen tiefsten Organismus hinein völlig verzichten, jede Regsamkeit unterdrücken lernt. Nach und nach gesteigerte Übung bringt es dazu, die willkürlichen Bewegungen, die aus der Ichheit des Menschen kommen, zu unterdrücken und sozusagen völlig hingegeben sein an den Strom des Daseins, der vor uns hinströmt; aber nicht nur dies, sondern auch bis zu einem gewissen Grade das als etwas Äußerliches zu empfinden, was unwillkürliche Bewegungen sind. Bis in die Gefäßorgane hinein lernt sich der Mensch bei diesen Übungen empfinden. Dann kann der Mensch von der geistigen Welt sagen: Du erlebst sie außerhalb deines Leibes; du wirst sie als eine gegliederte Welt erleben, in der Wesenheiten auftreten – wie die Naturwelt, in der Naturwesenheiten auftreten. Durch Konzentration, das heißt durch eine gesteigerte Aufmerksamkeit, und durch Meditation, das heißt durch eine gesteigerte Hingabe findet der Mensch den Weg in die geistige Welt. [7]

Alles Äußere muß so werden in der Konzentration wie beim Schlafe. Die Sinne müssen vollständig frei werden von allen Eindrücken der Außenwelt. Das Auge darf so wenig sehen wie im Schlafe; das Ohr so wenig hören wie im Schlafe und so weiter. Dann wird das ganze Seelenleben zusammengenommen und auf eine Vorstellung konzentriert. Man könnte den Zustand ein bewußtes Schlafen nennen. Nicht darauf kommt es an, daß wir diese Vorstellung betrachten; sie gibt uns nur eine Gelegenheit, unsere Seelenkräfte zusammenzuraffen, zusammenzudrängen. Es brauchen die meisten Menschen ein jahrelanges Arbeiten in solchen Konzentrationen, wenn auch das Tagesleben von solchen Konzentrationen nicht abgelenkt wird; denn man kann sie nur wenige Minuten, höchstens durch Teile einer Stunde festhalten, aber man muß sie immer und immer wiederum wiederholen, bis es wirklich gelingt, die Kräfte, die sonst nur schlummern in der menschlichen Natur – die im Alltagsleben ja auch da sind, die aber schlummern –, so zu verstärken, daß sie wirksam werden in unserer Seele und herausreißen das Geistig-Seelische aus dem Physisch-Leiblichen. [8]

Durch diese Übung erlangt man das Folgende: Wenn man an dem Punkte angelangt ist, wo die Seele sich selbst erlebt, dann steigen auch auf die Bilder, die man reale Imaginationen nennen kann; Bilder, die sich gewaltig unterscheiden von den Bildern des gewöhnlichen Gedächtnisses. Es steigen jetzt Bilder auf aus den grauen Seelentiefen, die nichts gemein haben mit dem, was man in der äußeren Sinnenwelt erleben kann. Alle Einwände, daß man sich leicht täuschen könne, daß das, was da aus den grauen Seelentiefen heraufsteigt, nur Reminiszenzen des Gedächtnisses sein könnten, alle diese Einwände sind hinfällig. Denn der Geistesforscher lernt eben wirklich unterscheiden zwischen dem, was das Gedächtnis heraufrufen kann, und dem, was radikal verschieden ist von allem, was im Gedächtnis stehen kann. Zur Geistesforschung eignen sich wenig solche Personen, welche an Halluzinationen, an Visionen oder ähnlichen krankhaften Seelengebilden und Seelenzuständen leiden. Je weniger der Mensch dazu neigt, was ja doch nur eine Reminiszenz des Tageslebens ist, desto sicherer kommt er vorwärts auf dem Gebiete der Geistesforschung. Und darin besteht ein großer Teil der Vorbereitung zur Geistesforschung, daß man alles dasjenige, was nur irgendwie unbewußt aus der Menschenseele sich aufdrängen könnte in solch krankhafter Art, genau unterscheiden lernt von dem, was als ein neues Element eintreten kann. Das ist das Charakteristische der Halluzinationen, der Visionen, daß der Mensch passiv bleibt, er braucht sich nicht anzustrengen. In dem Augenblick, wo wir der geistigen Welt gegenüber auch nur einen Moment passiv werden, verschwindet sogleich alles. Wir müssen unausgesetzt tätig, aktiv dabeisein. Daher können wir uns auch nicht täuschen, denn nichts kann aus der geistigen Welt vor unsere Augen treten so, wie eine Vision oder Halluzination vor unsere Augen tritt. [9]

Zitate:

[1]  GA 63, Seite 24   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[2]  GA 63, Seite 18ff   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[3]  GA 63, Seite 18uf   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[4]  GA 63, Seite 22f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[5]  GA 63, Seite 25f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[6]  GA 63, Seite 27f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[7]  GA 63, Seite 28f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[8]  GA 155, Seite 221f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)
[9]  GA 155, Seite 224f   (Ausgabe 1982, 252 Seiten)

Quellen:

GA 63:  Geisteswissenschaft als Lebensgut (1913/1914)
GA 155:  Christus und die menschliche Seele. Über den Sinn des Lebens. Theosophische Moral. Anthroposophie und Christentum (1912/1914)