Aufwacherlebnis

Es muß doch den meisten Menschen auffallen, wenn die Verhältnisse günstig sind, daß sie aus dem Schlafe heraus aufwachen nicht wie aus einem Nichts, sondern daß sie heraustauchen aus dem Schlafe wie aus einem vollen, aber viel ätherischeren, leichteren Weben und Leben, als dasjenige ist, das wir durchmachen vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Es wird gewiß manchem schon aufgefallen sein im Aufwachen, daß er während des Schlafens in einem Elemente lebte, in dem er so darinnen steht, daß er eigentlich während dieses Schlafes gescheiter ist als während des Wachens. [1]

Wenn der Mensch aufwacht und untertaucht in den physischen Leib und Ätherleib, würde er eigentlich erleben müssen das Innere des physischen Leibes und des Ätherleibes. Das tut er aber nicht. Im Augenblicke des Aufwachens wird er verhindert, hineinzuschauen in das Innere seiner Leiblichkeit, denn da wird gleich die Aufmerksamkeit auf die äußeren Erlebnisse gelenkt. Da wird nicht seine Sehkraft, seine Erkenntniskraft dahin gelenkt, sein Inneres zu durchschauen, sondern sie wird abgelenkt auf die Außenwelt. Würde der Mensch sich im Inneren ergreifen, so würde genau das Gegenteil eintreten von dem, was eintritt, wenn sich der Mensch bewußt beim Einschlafen in die geistige Welt hineinbegeben könnte. Alles, was der Mensch sich schon im Verlaufe des Erdenlebens an Geistigem durch sein Ich errungen hat, das würde sich zusammendrängen und es würde jetzt im physischen Leibe und Ätherleibe nach dem Untertauchen mit aller Kraft auf ihn wirken. Das würde zur Folge haben, daß alles, was nur irgendwie egoistische Eigenschaft ist, sich mit aller Macht entfalten würde. Und der Mensch würde hinuntertauchen mit seinem Ich und würde mit jedem Stück, mit dem er hinuntertaucht, seine Leidenschaften, Triebe und Begierden in einem immer kraftvolleren Egoismus ergießen. Aller Egoismus würde sich ergießen in sein Triebleben. Damit das nicht geschieht werden wir abgelenkt auf die Außenwelt und nicht mit unserem Bewußtsein in unser Inneres hineingelassen. [2]

Wie der astralische Leib arbeitet an dem Ätherleibe, wie wiederum der Ätherleib an dem physischen Leib arbeitet, das ist es ja gerade, was der Mensch sehen müßte, wenn er beim Aufwachen bewußt hinunterstiege in seine Leiblichkeit, und was sich ihm entzieht dadurch, daß sein Blick bei diesem Hineinsteigen abgelenkt wird auf die äußeren Dinge und Geschehnisse.

Wenn wir bewußt hinuntersteigen wollen in unser eigenes Innere, müssen wir uns so vorbereiten, daß wir imstande wären aufzuwachen, ohne daß im Moment des Aufwachens an unsere Seele herantreten die Eindrücke der Augen, die Eindrücke der Ohren und so weiter. Wenn wir so allen Eindrücken Stillstand gebieten, dann kommen wir vorbei an dem kleinen Hüter der Schwelle. Der Mensch lernt kennen, daß diese Menschenseele eigentlich etwas Kleines ist, daß sie aber vergleichbar ist mit etwas Großem, und daß die einzelnen Fähigkeiten, welche die menschliche Seele haben und innerhalb welcher sie sich entwickeln kann, gering sind gegenüber jenen Fähigkeiten, die jenes Große hat, dem die menschliche Seele sich ähnlich fühlen kann. So recht klein fühlt sich diese Menschenseele im Moment des Aufwachens, wenn sie an dem kleinen Hüter der Schwelle vorbeigekommen ist 119.101ff; dann merken wir, daß alles dasjenige, was wir in unserem Leben an Willen, an Gefühl, an Denken in uns entwickeln können, eine Kleinigkeit ist gegenüber der Kraft der Gedanken, der Kraft des Fühlens und der Kraft des Wollens, die in der geistigen Welt ausgebreitet sind, aus der wir am Morgen herauskommen im Moment des Aufwachens, und wir merken, daß wir das brauchen, was wir in der Nacht eingesogen haben, denn wir würden nicht weit kommen, wenn wir nur dasjenige an Gedanken und Gefühlen und an Wollen entwickelten, was wir durch das Tagesleben entwickeln können. Indem wir mit unserer Seele, die sich gleichsam vollgesogen hat mit diesen Eigenschaften, untertauchen in unsere eigene Leiblichkeit, merken wir, daß sich diese Grundkräfte verwandeln und ein anderes Gesicht bekommen. Was da in uns hineinströmt, was wir aus dem Weltenwillen herausnehmen, das wird äußerlich sichtbar in der Bewegung unserer Glieder, in unserer gesamten Beweglichkeit. Jetzt wird es für uns eine Wahrheit, daß der Wille der Welt uns durchströmt und daß wir nur dadurch bewegliche Menschen sind, daß uns am Morgen zufließt Weltenwille, den wir eingesogen haben in unsere Seele im Schlafzustand, und daß wir diesen Weltenwillen, der in uns einströmt am Morgen, während des Tages verbrauchen. Das fühlen wir eben nicht im gewöhnlichen normalen Leben. Aber wenn wir an dem Hüter der Schwelle vorbeigekommen sind, dann fühlen wir fortwirken in uns selber den ganzen Willen des Makrokosmos, da fühlen wir uns einheitlich mit dem Makrokosmos zusammengewachsen. Dasjenige aber, was wir im gewöhnlichen Seelenleben kennen als die Kraft des Fühlens, das haben wir aus einem gleichsam unendlichen Reservoir von Weltenfühlen herausgesogen. Und das verwandelt sich merkwürdigerweise so, daß es sich nur vergleichen läßt mit demjenigen, was man Licht nennt. Wie wenn wir innerlich durchleuchtet würden, so ist es, wenn man hinblickt auf dasjenige, was in uns einströmend sich ergibt als die Wirkung des nächtlich aufgenommenen Weltengefühls. [3] Dasjenige, was die Kraft des Denkens ist, das nimmt sich dann so aus, daß es in uns wie ein Ordner, wie ein Regulator wirkt zwischen dem, was uns als Kraft der Bewegung und was uns als inneres Licht zuströmt. Und dann macht man noch die Erfahrung, die sich als unmittelbares Erlebnis ergibt: Wenn auch deine Seele heute sozusagen klein ist gegenüber dieser großen Weltenseele, sie ist doch auf dem Wege, so zu werden wie diese. Das andere ist, daß man genau weiß: Was einem da erscheint als ein ganz mächtiger Makrokosmos, als Weltenfühlen, Weltendenken, Weltenwollen, das ist einstmals auch so wie unsere Seele gewesen; das hat sich aus solch kleinen Anfängen zu solch gewaltiger Größe entwickeln müssen.

Wenn man diese zwei Gefühle hat, dann lädt sich aus diesen beiden Gefühlen für den wahren, echten Mystiker auf die Seele etwas ab, wie eine Frucht, die darin besteht, daß man sich sagt: Wie wäre es gekommen, wenn jenes Wesen, das da ausgebreitet ist in der Welt und das uns das gibt, was wir brauchen zu unserem Leben, wenn das nichts getan hätte zu seiner Entwickelung? In unendlicher Ferne der Vergangenheit war es ebenso schwach an Gefühlskräften, an Kräften des Denkens, an Kräften des Wollens wie wir. Wenn es nichts getan hätte, um sich weiter und weiter zu entwickeln, um zu einer gewissen Höhe zu kommen, so daß es jetzt nicht mehr angewiesen ist zu empfangen von einem Makrokosmos, sondern selbst zu geben, was wäre denn aus uns selbst geworden? Nicht da sein könnten wir !

Das ist das lebendige Gefühl eines unendlichen Dankes, das uns überströmt. Wer dieses Gefühl des Dankes gegenüber dem Makrokosmos nicht empfunden hat, der ist auch nicht im wahren Sinne des Wortes Mystiker geworden. [4] Und dieses Gefühl gestaltet sich sozusagen zu einer Riesenverpflichtung für die Entwickelung unserer Seele um. Wir sagen uns dann als echter wahrer Mystiker: Du versäumst deine Pflicht, wenn du nicht alles tust, um die Kräfte deiner Seele, die heute noch in geringem Maße vorhanden sind, zu der Höhe hin zu entwickeln, zu der sie kommen können und die sich dir im Vorbild zeigt, wenn du bewußt hinaufsiehst zu demjenigen, woraus du deine Kräfte saugst. Das sind die zwei Gefühle und Impulse, die unsere Seele durchströmen, wenn wir an dem Hüter der Schwelle vorbeiziehen. Wenn der Mystiker seine Seele ganz von ihnen durchströmen und durchpulsen läßt, dann geht ihm das Seherauge auf; dann steht nach und nach vor ihm sein eigener astralischer Leib.

Es tritt uns deutlich vor Augen im Momente des Aufwachens, wieviel wir unterlassen haben, uns anzueignen in bezug auf starken Willen, auf eine wirkliche Intelligenz des Denkens, auf ein richtiges und angemessenes Fühlen. Es zeigt sich uns, daß alles dasjenige, was wir getan haben, um uns selber Intelligenz anzueignen, sich vereinigen kann mit demjenigen, was uns aus dem Weltenfühlen heraus wie ein inneres Licht durchströmt, daß das sich sozusagen hinzu summieren kann; und daß alles das, was wir unterlassen haben in der Entwickelung unserer Intelligenz, sich wie ein Hemmschuh ausnimmt, so daß uns in dem Maße weniger zufließt aus dem Licht des Weltengefühles heraus, als wir selber unterlassen haben an der Entwickelung unserer eigenen Denkkraft zu arbeiten. Unser Denken muß sich, wenn wir wirklich fortschreiten wollen im Weltendasein, summieren zu dem, was wir hereinsaugen aus dem Weltengefühl. [5]

Jeden Abend kehren wir zurück in die Welt, aus der wir heraustreten durch die Geburt; jeden Morgen müssen wir die Geburt bildhaft erneuern, indem wir wiederum in den physischen Körper untertauchen. Wir könnten zum wirklichen Menschen kommen, wenn es uns gelingen würde, knapp vor dem Aufwachen, wenn alle Entwickelungsmöglichkeiten der Nacht ausgeschöpft sind, eine ganz helle Vorstellung zu haben. Die wäre eine Welt-Vorstellung; diese wäre so, daß wir uns nirgends begrenzt glaubten, daß wir uns ausgegossen fühlten über die Welt, über alles Weltenlicht, über allen Weltenton, über alles Weltenleben. Vor uns etwas wie einen Abgrund; jenseits des Abgrundes die Fortsetzung desjenigen, was wir gerade noch fühlen, bevor wir den Abgrund betreten beim Aufwachen: Wärme. Wärme, sie strömt über den Abgrund hinüber. Nun aber treten wir über den Abgrund ein durch das Aufwachen – in Luft, Wasser, Erde, die ja unseren eigenen Organismus zusammensetzen. Wir tauchen unter. Es flammt auf, es blitzt, – das bemerken wir kaum. Statt in uns selber hineinzuschauen, schauen wir aus dem Auge heraus, hören wir aus den Ohren heraus und so weiter. [6]

Zitate:

[1]  GA 162, Seite 173   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[2]  GA 120, Seite 118f   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[3]  GA 119, Seite 104f   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[4]  GA 119, Seite 106f   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[5]  GA 119, Seite 108ff   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[6]  GA 273, Seite 246ff   (Ausgabe 1981, 286 Seiten)

Quellen:

GA 119:  Makrokosmos und Mikrokosmos.. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen (1910)
GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 273:  Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919)