Hüter der Schwelle

Derjenige, der bis zu einer gewissen Stufe der okkulten Entwicklung gelangt ist, muß lernen, alles, was in ihm noch karmisch veranlagt ist, Freude, Lust, Schmerz und so weiter, in der astralischen Außenwelt zu sehen. Wenn Sie im richtigen Sinne geisteswissenschaftlich denken, werden Sie sich darüber klar sein, daß das äußere Leben, unser Leib, im gegenwärtigen Zeitalter weiter nichts ist als ein Ergebnis, ein Durchschnitt von zwei Strömungen, die von entgegengesetzten Richtungen kommen und ineinandergehen. [1] Denken Sie sich einmal eine Strömung von der Vergangenheit her und eine Strömung, die von der Zukunft herankommt, dann haben Sie zwei ineinandergehende, eigentlich in jedem Punkt sich durchkreuzende Strömungen. Denken Sie sich eine rote Strömung nach der (einen) Richtung und eine blaue Strömung nach der (anderen) Richtung. Und nun denken Sie sich in diesem Durchschnitt zum Beispiel vier verschiedene Punkte. (Dann haben wir in jedem dieser vier Punkte) ein Zusammenwirken dieser roten und blauen Strömungen. (Das ist ein Bild für das Zusammenwirken von) vier aufeinanderfolgenden Inkarnationen, wo in jeder Inkarnation uns etwas von der einen (und etwas von der anderen) Seite entgegenkommt. Da können Sie sich immer sagen, da ist eine Strömung, die Ihnen entgegenkommt und eine Strömung, die Sie mitbringen. Der Mensch fließt zusammen aus diesen beiden Strömungen. Sie bekommen eine Vorstellung davon, wenn Sie sich die Sache so denken. Heute sitzen Sie hier mit verschiedenen Erlebnissen, morgen werden Sie zur selben Stunde eine andere Summe von Ereignissen um sich haben. Denken Sie sich einmal die Ereignisse, die Sie bis morgen haben werden, wären schon alle da. Es wäre dann dasselbe Erlebnis, wie wenn Sie in ein Panorama blicken würden. Es wäre so, wie wenn Sie diesen Ereignissen entgegengingen, wie wenn diese Ereignisse Ihnen räumlich entgegenkommen. Stellen Sie sich also vor, der Strom, der von der Zukunft gegen Sie herankommt, bringe Ihnen diese Ereignisse entgegen, dann haben Sie in diesem Strom (enthalten) die Ereignisse zwischen heute und morgen. Sie lassen sich von der Vergangenheit die Ihnen entgegenströmende Zukunft zutragen. In jedem Zeitabschnitt ist Ihr Leben ein Durchschnitt von zwei Strömungen, von denen die eine von der Zukunft nach der Gegenwart geht und die andere von der Gegenwart nach der Zukunft. Wo sich die Strömungen treffen, tritt eine Stauung ein. Alles, was der Mensch noch vor sich hat, muß er als astralische Erscheinung vor sich auftauchen sehen. Dieses ist etwas, was eine unglaublich eindrückliche Sprache spricht. Denken Sie sich, daß der Geheimschüler (an den Punkt seiner Entwickelung kommt, wo er) hineinblicken soll in die astrale Welt, wo ihm die Sinne aufgeschlossen werden, so daß er das, was er noch bis zum Ablaufe der jetzigen Periode zu erleben haben würde, als äußere Erscheinung in der astralen Welt rings um sich auftauchen sehen würde. Das ist ein Anblick, der von ganz eindringlicher Art für jeden Menschen ist. Wir müssen also sagen, es ist eine wichtige Stufe im Verlauf der okkulten Schulung, daß dem Menschen als astralisches Panorama, als astralische Erscheinung, dasjenige entgegentritt, was er noch bis zur Mitte der sechsten Wurzelrasse – denn bis dahin gehen unsere Inkarnationen – zu erleben hat. Es erschließt sich ihm der Weg. Kein Geheim­schüler wird es anders (erleben), als daß er als äußere Erscheinung das entgegentreten sieht, was er in der näheren Zukunft bis zur sechsten Wurzelrasse (noch) vor sich hat. Wenn der Schüler bis zur Schwelle vorgeschritten ist, dann tritt an ihn die Frage heran: Willst Du dieses alles in der denkbar kürzesten Zeit durchleben? Denn darum handelt es sich für denjenigen, der die Einweihung empfangen will. Wenn Sie sich das überlegen, so haben Sie Ihr eigenes zukünftiges Leben in einem Moment als äußeres Panorama vor sich. Das ist wiederum dasjenige, was uns die Anschauung des Astralischen charakterisiert. Dies ist für den einen Menschen so, daß er sich sagt: Nein, da gehe ich nicht hinein. Für den anderen dagegen ist es so, daß er sich sagt: Ich muß hinein. Diesen Punkt der Entwickelung nennt man die «Schwelle», die Entscheidung, und die Erscheinung, die man da hat, sich selbst mit allem, was man noch zu erfahren und zu erleben hat, die nennt man den «Hüter der Schwelle». Der Hüter der Schwelle ist also nichts anderes als unser eigenes künftiges Leben. Wir selbst sind es. Unser eigenes zukünftiges Leben liegt hinter der Schwelle. Wiederum eine Eigentümlichkeit der astralischen Erscheinungswelt sehen Sie darin, daß derjenige, dem durch irgendein Ereignis – und es gibt solche Ereignisse im Leben – die astralische Welt plötzlich geöffnet wird, zunächst vor etwas Unverständlichem stehen muß. Das ist ein furchtbarer Anblick, der nicht verwirrender gedacht werden kann für alle diejenigen Menschen, auf welche, unvorbereitet, durch irgendein Ereignis plötzlich die astrale Welt hereinbricht. Es ist daher im eminentesten Sinne gut, das zu wissen, was wir jetzt besprochen haben, damit man im Falle des Hereinbrechens der astralen Welt weiß, was man zu tun hat. Es kann ein pathologisches Ereignis sein, eine Lockerung zwischen dem physischen Leib und dem Ätherleib oder zwischen dem Ätherleib und dem Astralleib. Durch solche Ereignisse kann der Mensch in die Lage versetzt sein, unvermutet in die astrale Welt zu kommen, in das astrale Leben einen Einblick zu tun. Ist das der Fall, dann kommt er und erzählt, daß er diese oder jene Erscheinung sieht. Er sieht es und versteht es nicht zu lesen, wie er nicht weiß, daß er symmetrisch zu lesen hat, daß er jedes wilde Tier, das an ihn herankommt, aufzufassen hat als die Spiegelung von dem, was in ihm selbst liegt. In der Tat, die astralischen Kräfte und Leidenschaften des Menschen erscheinen im Kamaloka in den mannigfaltigsten Formen der tierischen Welt. Es ist kein besonders schöner Anblick, wenn man im Kamaloka die Menschen sieht, welche eben erst entkörpert worden sind. In diesem Augenblick haben sie noch alle ihre Leidenschaften, Triebe, Wünsche und Begierden an sich. Solch ein Mensch im Kamaloka hat zwar seinen physischen Körper nicht mehr und auch keinen Ätherkörper mehr, aber in seinem Astralkörper hat er noch alles dasjenige, was ihn mit der physischen Welt verbunden hat, (In der Astralwelt nehmen) die Triebe und Leidenschaften tierische Gestalten an. Solange der Mensch im physischen Körper verkörpert ist, so lange richtet sich sein Astralleib in der Gestalt etwas nach diesem physischen Leib. Wenn aber der äußere Leib weg ist, dann kommen die Triebe, Begierden und Leidenschaften, so wie sie in ihrer tierischen (Natur) sind, in ihrer eigenen Gestalt zur Geltung, zum Durchbruch. So ist also der Mensch in der Astralwelt ein Abbild seiner Triebe und Leidenschaften. Sich gewöhnen, symmetrisch zu lesen, kann der Mensch am leichtesten, wenn er (es übt an) mathematischen oder geometrischen Vorstellungen. [2]

In allen Geheimlehren gibt es Eingeweihte. Heute erleben diese genau dasselbe wie damals, indem sie über ihr niederes Ich hinauswachsen, den geistigen Wesenskern in sich entwickeln und in diesem Leben schon Bürger einer höheren Welt werden. Zu gleicher Zeit aber wird uns klargemacht, daß in einer gewissen Stunde die ganze niedere Natur vor sie hintritt. In jedem Menschen ist eine Summe von Leidenschaften, Begierden und Wünschen, die seiner niederen Natur anhängen. Aus alledem muß der Mensch erst heraus. Dann tritt es wie eine Wesenheit vor ihm auf. Man nennt diese abgelöste Wesenheit den Hüter der Schwelle. Als eine Wesenheit steht neben dem Menschen seine niedere Natur, und er muß sich einmal sagen: Das bist du! Das mußt du ablegen! – Das nennt man bei allen Einweihungen die Höllenfahrt. Man hat da Genosse zu werden der höllischen Mächte, hinunterzusteigen in die Tiefen der Welt, weil der Mensch einfach drinnensteckt und seine höhere Natur nur halb in ihm lebt.

Den Hüter der Schwelle nennt man diese Wesenheit, weil die Menschen, die sich nicht Mut und die Geistesgegenwart aneignen, nicht darüber hinauskommen. Diejenigen, die die Schwelle überschritten haben, nennt man Eingeweihte. [3] Warum steht der Hüter da? Weil die Menschenseele, wenn sie unreif den Schritt in die übersinnlichen Welten hinein machen würde – was niemals auf einem gerechten okkultistischen Wege geschehen kann –, sich unendliche Furchtsamkeit, unendlichem Schrecken verfallen glauben würde, weil die Menschen aus ihrer Kleinheit, aus ihrer Unreife, aus ihrer Liebe und ihrem Hang zur Sinnenwelt nicht ertragen würden, was alles mit dem Eintritt in die übersinnlichen Welten zusammenhängt. [4] Die höhere Seele ist eng gebunden an die tierische Seele. Ihre Verbindung untereinander ist es, die die Leidenschaften mäßigt, sie vergeistigt und beherrscht nach dem Grade der Vernunft und des Willens. Diese Verbindung hat (diesen) Vorteil für den Menschen. Aber er bezahlt diesen Vorteil mit dem Verlust seiner Hellsichtigkeit. Stellen wir uns eine Flüssigkeit von grüner Farbe vor, aus Gelb und Blau zusammengesetzt. Wenn es Ihnen gelingt, sie zu trennen, werden sie zum Beispiel sehen, daß die gelbe Flüssigkeit sich auf dem Grund absetzt, während die blaue an die Oberfläche aufsteigt. Ebenso verhält es sich beim Menschen, wenn der Einweihungsweg die tierische Seele von der geistigen Seele trennt. Für die höhere Seele erfolgt daraus die Hellsichtigkeit, aber die allein gelassene tierische Seele überliefert sich nun, sofern sie noch nicht durch das Ich gereinigt ist, ohne Kontrolle dem Exzeß der Leidenschaften. Man kann diese Tatsache häufig bei den Medien konstatieren. Die Vorbeugung gegen diese Gefahr wird manchmal in der Einweihung bezeichnet durch das Wort: der Hüter der Schwelle. [5] Man kann sagen, in dem Menschen stecke ein Wesen, das sorgsame Wache hält an der Grenzscheide, die bei dem Eintritte in die übersinnliche Welt überschritten werden muß. Diese im Menschen (selber) steckende geistige Wesenheit, die man selbst ist, die man aber so wenig durch das gewöhnliche Bewußtsein erkennen kann, wie das Auge sich selbst sehen kann, ist der Hüter. Man lernt ihn erkennen in dem Augenblicke, in welchem man er selber nicht nur tatsächlich ist, sondern sich ihm, wie außer ihm stehend, wie ein anderer gegenüberstellt. [6]

Die im Bereiche der Sinneswelt wirksamen Kräfte formen ihn zum sinnlichen Menschenbilde. Im Umkreis des Geistigen ist er noch nicht Mensch; er ist ein Wesen, das sich imaginativ durch die Tierform ausdrücken läßt. Was im sinnenfälligen Dasein des Menschen an Trieben, an Affekten, an Gefühls- und Willensimpulsen lebt, das ist innerhalb dieses Daseins in Fesseln gehalten durch das an den Sinnesleib gebundene Vorstellungs- und Wahrnehmungsleben, die selbst ein Ergebnis der Sinneswelt sind. Will der Mensch aus der Sinneswelt heraustreten, so muß er sich bewußt werden, was an ihm außer dieser Welt nicht mehr durch die Gaben der Sinneswelt gefesselt ist und durch neue Gaben aus der Geisteswelt auf den rechten Weg gebracht werden muß. Der Mensch muß sich schauen vor der sinnenfälligen Menschwerdung. [7]

Wenn der Mensch hinaustritt aus seinem physischen Leibe, dann ist er nicht etwa ein Wesen von einer höheren, edleren, reineren Form als diejenige war, die er gehabt hat im physischen Leib, sondern ein Wesen mit all den Unvollkommenheiten, die er sich auf sein Karma geladen hat. Das alles bleibt unsichtbar, solange der Leibestempel unseren Ätherleib und astralischen Leib und unser Ich aufnimmt. Es wird sichtbar in dem Augenblick, wo wir mit den höheren Gliedern unserer Wesenheit heraustreten aus dem physischen Leibe. Wir treten uns selber gleichsam seelisch-geistig nackt entgegen, wenn wir beim Heraustreten zugleich hellsichtig sind; das heißt wir stehen uns so vor dem geistigen Auge, daß wir jetzt wissen, um wieviel wir schlechter sind, als das sein würde, wenn wir jene Vollkommenheit erreicht hätten, welche die Götter hatten, damit sie schaffen konnten den Wunderbau unseres physischen Leibes. Wir sehen in diesem Augenblick, wie tief wir unter jener Vollkommenheit stehen, die uns vorschweben muß als unser künftiges Entwickelungsideal. Das ist das Erlebnis, das verbunden ist mit der Erleuchtung; das ist das Erlebnis, das man die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle nennt. [8]

Wie traumhaft stieg bei den Menschen vor 3–4000 Jahren herauf aus der Seele das Bild des Hüters der Schwelle, wenn sie in den Schlaf eintraten. Sie gingen an ihm vorüber. Und wiederum erschien dieses Bild, wenn sie aus dem Schlaf in das gewöhnliche Leben zurückkehrten. Sie hatten nicht eine so deutliche Warnung (wie heute) beim Eintritt in die geistige Welt. Darin besteht eben gerade die Fortentwickelung in der Menschheit, daß der Mensch verloren hat jenes schlafende, träumende Wachsein, jenen Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachen, durch den er sowohl beim Einschlafen wie beim Aufwachen den majestätischen Hüter der Schwelle wenigstens traumhaft schauen konnte. Heute geht der Mensch vorüber an diesem Hüter der Schwelle beim Einschlafen und Aufwachen. Er ignoriert ihn; er berücksichtigt ihn nicht. Und dadurch kommt er in eine ganz ungeordnete Traumwelt hinein. [9]

Die Trennung zwischen Gefühl, Verstand und Willen (im Verlauf der Einweihung) ruft im Gehirn eine Veränderung hervor, die charakterisiert ist (bei der christlichen Einweihung) durch die Dornenkrönung. Damit sie sich gefahrlos vollziehen kann, ist es nötig, daß die Persönlichkeitskräfte genügend geschult und vollkommen ausgeglichen sind. Verhält es sich nicht so, oder hat der Schüler einen schlechten Führer, kann diese Veränderung den Wahnsinn entzünden. Der Wahnsinn beruht nämlich auf nichts anderem als dieser Spaltung, die sich außerhalb des Willens vollzieht, ohne daß die Einheit durch innere Willenskraft wieder hergestellt werden kann.

Im Verlauf der Etappe, die man in der christlichen Einweihung die Dornenkrönung nennt, tritt ein furchteinflößendes Phänomen auf, das die Bezeichnung Hüter der Schwelle trägt und das man auch die Erscheinung des Doppelgängers nennen könnte. Das geistige Wesen des Menschen, gebildet aus seinen Willensströmungen, seinen Wünschen und seinen Verstandesfähigkeiten, erscheint alsdann dem Eingeweihten als Bild im Traumbewußtsein. Und dieses Bild ist manchmal abstoßend und Schrecken einflößend, denn es ist ein Ergebnis seiner guten und schlechten Eigenschaften und seines Karma; von diesem allem ist es die bildhafte Personifikation auf dem Astralplan. [10]

Indem sich (in der lemurischen Epoche, siehe: Lemuria) das reptilienartige menschliche Wesen aufrichtete, wurde eine nach vorn ganz offene Kopfbildung sichtbar, aus der eine feurige Wolke (der Feueratem) hervorquoll. Das hat Veranlassung gegeben zu der Erzählung vom Lindwurm, von dem Drachen. Das ist die groteske Bildung, die damals der Mensch selbst war. Der Hüter der Schwelle, die niedere Natur des Menschen, erscheint gewöhnlich auch in einer derartigen Gestalt. Es ist die niedere Natur mit der offenen Kopfbildung. [11]

Das ist der schlimme Fährmann im Totenbuch der Ägypter. Der Mensch muß ihn besiegen, um sein höheres Ich zu finden. Der Hüter der Schwelle, ein Phänomen des hellsichtigen Schauens bis in die ältesten Zeiten hinein, ist der eigentliche Ursprung all der Mythen über den Kampf des Helden mit dem Ungeheuer, des Perseus und des Herakles mit der Hydra, des heiligen Georg und des Siegfried mit dem Drachen.

Der vorzeitige Eintritt der Hellsichtigkeit und die plötzliche Erscheinung des Doppelgängers oder des Hüters der Schwelle kann denjenigen, der nicht alle Vorbereitungen befolgt und alle dem Schüler auferlegten Vorsichtsmaßnahmen wahrgenommen hat, zum Wahnsinn führen. [12]

Die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle ist eine Tragik, ein Lebenskampf in bezug auf alle Erkenntnisbegriffe, in bezug auf alle Erkenntnisgesetze und in bezug auf alle Zusammenhänge des Menschen mit der geistigen Welt, mit Ahriman und Luzifer. Diese Lebenskatastrophe muß sich ergeben, wenn man dem Hüter begegnen will. [13] Wenn Sie in irgendeinem Momente zurückblicken und alles sehen könnten, was in Ihrem Astralleibe an Marken da ist, die ausgeglichen werden müssen, bevor Sie Ihren Aufstieg in gewisse Höhen des Okkulten machen können, würden Sie Ihr ganzes Schuldkonto sehen. Dieses nun tritt dem Schüler entgegen und muß ihm entgegentreten in einer sinnbildlichen und greifbaren Gestalt – dasjenige, was wir noch abzutragen haben, was uns noch hemmt: das unausgetragene Karma. Das ist der Hüter der Schwelle. [14]

Der Mensch entwickelt ja in der gewöhnlichen physisch-sinnlichen Welt sein Ich, sein Selbstbewußtsein. Dieses Ich wirkt nun wie ein Anziehungs-Mittelpunkt auf alles, was zum Menschen gehört. Alle seine Neigungen, Sympathien, Antipathien, Leidenschaften, Meinungen und so weiter gruppieren sich gleichsam um dieses Ich herum. Und es ist dieses Ich auch der Anziehungspunkt für das, was man das Karma des Menschen nennt. Würde man dieses Ich unverhüllt sehen, so würde man an ihm auch bemerken, daß bestimmt geartete Schicksale es noch in dieser oder den folgenden Verkörperungen treffen müssen. Mit alle dem, was so am Ich haftet, muß es nun als erstes Bild vor die Menschenseele treten, wenn diese in die seelisch-geistige Welt aufsteigt. Dieser Doppelgänger des Menschen muß, nach einem Gesetz der geistigen Welt, vor allem anderen als dessen erster Eindruck in jener Welt auftreten. Man kann das Gesetz, welches da zugrunde liegt, sich leicht verständlich machen, wenn man das Folgende bedenkt. Im physisch-sinnlichen Leben nimmt sich der Mensch nur insofern selbst wahr, als er sich in seinem Denken, Fühlen und Wollen innerlich erlebt. Durch innerliche Wahrnehmung lernt sich der Mensch nur zum Teil kennen, (denn) er hat nämlich etwas in sich, was ihn an einer tiefergehenden Selbsterkenntnis hindert. Es ist dies ein Trieb, sogleich, wenn er durch Selbsterkenntnis sich eine Eigenschaft gestehen muß und sich keiner Täuschung über sich hingeben will, diese Eigenschaft umzuarbeiten. Dringt der Mensch aber in sich selbst und hält er sich ohne Täuschung diese oder jene seiner Eigenschaften vor, so wird er entweder in der Lage sein, sie an sich zu verbessern oder aber er wird dies in der gegenwärtigen Lage seines Lebens nicht können. In dem letzteren Falle wird seine Seele ein Gefühl beschleichen, das man als Gefühl des Schämens bezeichnen muß. [15]

Nun hat ja dieses Gefühl schon im gewöhnlichen Leben eine ganz bestimmte Wirkung. Das Schämen ist eine Kraft, welche den Menschen antreibt, etwas in sein Inneres zu verschließen und dies nicht äußerlich wahrnehmbar werden zu lassen. Wenn man dies gehörig bedenkt, so wird man begreiflich finden, daß die Geistesforschung einem inneren Seelenerlebnis, das mit dem Gefühl des Schämens ganz nahe verwandt ist, noch viel weitergehende Wirkungen zuschreibt. Sie findet, daß es in den verborgenen Tiefen der Seele eine Art verborgenes Schämen gibt, dessen sich der Mensch im physisch-sinnlichen Leben nicht bewußt wird. Dieses verborgene Gefühl wirkt aber in einer ähnlichen Art wie das gekennzeichnete offenbare des gewöhnlichen Lebens: es verhindert, daß des Menschen innerste Wesenheit in einem wahrnehmbaren Bilde vor den Menschen hintritt. Wäre dieses Gefühl nicht da, so würde der Mensch vor sich selbst wahrnehmen, was er in Wahrheit ist; er würde seine Vorstellungen, Gefühle und seinen Willen nicht nur innerlich erleben, sondern sie wahrnehmen, wie er Steine, Tiere und Pflanzen wahrnimmt. So ist dieses Gefühl der Verhüller des Menschen vor sich selbst. Und damit ist es zugleich der Verhüller der ganzen geistig-seelischen Welt. Denn indem sich des Menschen eigene innere Wesenheit vor ihm verhüllt, kann er auch das nicht wahrnehmen, an dem er die Werkzeuge entwickeln sollte, um die geistig-seelische Welt zu erkennen; er kann seine Wesenheit nicht umgestalten, so daß sie geistige Wahrnehmungsorgane erhielte. Wollte der Mensch nur einen Schritt machen, um in diese Welt einzudringen, so verbirgt das sogleich auftretende, aber nicht zum Bewußtsein kommende Gefühl des Schämens das Stück der geistig-seelischen Welt, das zum Vorschein kommen will. Die charakterisierten Übungen (siehe: Schulung) aber schließen diese Welt auf. Nun ist (aber) die Sache so, daß jenes verborgene Gefühl wie ein großer Wohltäter des Menschen wirkt. Denn durch alles das, was man sich ohne geisteswissenschaftliche Schulung an Urteilskraft, Gefühlsleben und Charakter erwirbt, ist man nicht imstande, die Wahrnehmung der eigenen Wesenheit in ihrer wahren Gestalt ohne weiteres zu ertragen. Man würde durch diese Wahrnehmung alles Selbstgefühl, Selbstvertrauen und Selbstbewußtsein verlieren. [16]

Wer in richtiger Art zuerst in der physischen Welt durch seinen Verstand das Karmagesetz begriffen hat, der wird nicht besonders erbeben können, wenn er nun die Keime seines Schicksales eingezeichnet sieht in dem Bilde seines Doppelgängers. Wer durch seine Urteilskraft sich bekanntgemacht hat mit der Welten- und Menschheitsentwickelung und weiß, wie in einem bestimmten Zeitpunkte dieser Entwickelung die Kräfte des Luzifer in die menschliche Seele eingedrungen sind, der wird es unschwer ertragen, wenn er gewahr wird, daß in dem Bilde seiner eigenen Wesenheit diese luziferischen Wesenheiten mit allen ihren Wirkungen enthalten sind.

Man sieht aber hieraus, wie notwendig es ist, daß der Mensch nicht den eigenen Eintritt in die geistige Welt verlange, bevor er durch seine gewöhnliche in der physisch-sinnlichen Welt entwickelte Urteilskraft gewisse Wahrheiten über die geistige Welt verstanden hat. Außer durch das geschilderte Betreten der übersinnlichen Welt begegnet der Mensch noch beim Durchgang durch den physischen Tod diesem Hüter der Schwelle. Und er enthüllt sich nach und nach im Verlaufe des Lebens in der seelisch-geistigen Entwickelung zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Da aber kann die Begegnung den Menschen nicht bedrücken, weil er da von anderen Welten weiß als in dem Leben zwischen Geburt und Tod. [17]

Wenn der Geistesschüler die Begegnung mit dem Hüter hinter sich hat, dann stehen ihm beim Aufstieg in übersinnliche Welten weitere Erlebnisse bevor. Es wird sich eine Art von Kampf ergeben gegen den Doppelgänger. Derselbe wird fortwährend die Überhand anstreben. Sich in das rechte Verhältnis zu ihm (zu) setzen, ihn nichts tun zu lassen, was nicht unter dem Einflusse des neugeborenen «Ich» geschieht, das stärkt und festigt aber auch des Menschen Kräfte. – Nun ist es in der höheren Welt mit der Selbsterkenntnis nach einer gewissen Richtung hin anders als in der physisch-sinnlichen Welt. Während in der letzteren die Selbsterkenntnis nur als inneres Erlebnis auftritt, stellt sich das neugeborene Selbst sogleich als seelisch-äußere Erscheinung dar. Man sieht sein neugeborenes Selbst wie ein anderes Wesen vor sich. Aber man kann es nicht ganz wahrnehmen. Denn welche Stufe man auch erstiegen haben mag auf dem Wege in die übersinnlichen Welten hinauf: es gibt immer noch höhere Stufen. Auf solchen wird man immer noch mehr wahrnehmen von seinem «höheren. Selbst». Nun ist aber die Versuchung ungeheuer groß, welche den Menschen befällt, wenn er zuerst irgend etwas von seinem höheren Selbst gewahr wird, dieses höhere Selbst gleichsam von dem Standpunkte aus zu betrachten, welchen man in der physisch-sinnlichen Welt gewonnen hat. Diese Versuchung ist sogar gut, und sie muß eintreten, wenn die Entwickelung richtig vor sich gehen soll. Man muß das betrachten, was als der Doppelgänger, der Hüter der Schwelle, auftritt, und es vor das höhere Selbst stellen, damit man den Abstand bemerken kann zwischen dem, was man ist, und dem, was man werden soll. Bei dieser Betrachtung beginnt der Hüter aber eine ganz andere Gestalt anzunehmen. Er stellt sich dar als ein Bild aller der Hindernisse, welche sich der Entwickelung des höheren Selbst entgegenstellen. Man wird wahrnehmen, welche Last man an dem gewöhnlichen Selbst schleppt. [18]

Und ist man dann durch seine Vorbereitungen nicht stark genug, sich zu sagen: Ich werde hier nicht stehen bleiben, sondern unablässig mich zu dem höheren Selbst hinaufentwickeln, so wird man erlahmen und zurückschrecken vor dem, was bevorsteht. Man ist dann in die seelisch-geistige Welt hineingetaucht, gibt es aber auf, sich weiterzuarbeiten. Man wird ein Gefangener der Gestalt, die jetzt durch den Hüter der Schwelle vor der Seele steht. Das Bedeutsame ist, daß man bei diesem Erlebnis nicht die Empfindung hat, ein Gefangener zu sein. Man wird vielmehr etwas ganz anderes zu erleben glauben. Die Gestalt, welche der Hüter der Schwelle hervorruft, kann so sein, daß sie in der Seele des Beobachters den Eindruck hervorbringt, dieser habe nun in den Bildern, welche auf dieser Entwickelungsstufe auftreten, schon den ganzen Umfang aller nur möglichen Welten vor sich; man sei auf dem Gipfel der Erkenntnis angekommen und brauche nicht weiter zu streben. Statt als Gefangener wird man sich so als der unermeßlich reiche Besitzer aller Weltengeheimnisse fühlen können.

Die Gestalt, welche man auf dieser Stufe der Entwickelung wahrnimmt, zeigt dem Geistesschüler noch etwas anderes als diejenige, in der sich ihm zuerst der Hüter der Schwelle dargestellt hat. In diesem Doppelgänger waren wahrzunehmen alle diejenigen Eigenschaften, welche das gewöhnliche Selbst des Menschen hat infolge des Einflusses der Kräfte des Luzifer. Nun ist aber im Laufe der menschlichen Entwickelung durch den Einfluß Luzifers die Macht (des Ahriman) in die Menschenseele eingezogen. Es ist dies die Kraft, welche den Menschen im sinnlich-physischen Dasein verhindert, die hinter der Oberfläche des Sinnlichen liegenden geistig-seelischen Wesenheiten der Außenwelt wahrzunehmen. Was unter dem Einflusse dieser Kraft aus der Menschenseele geworden ist, das zeigt im Bilde die Gestalt, welche bei den entsprechenden Erlebnissen auftritt. – Wer entsprechend vorbereitet an dieses Erlebnis herantritt, der wird ihm seine wahre Deutung geben; und dann wird sich bald eine andere Gestalt zeigen, diejenige, welche man den «großen Hüter der Schwelle» im Gegensatz zu dem gekennzeichneten «kleinen Hüter» nennen kann. Dieser teilt dem Geistesschüler mit, daß er nicht stehenzubleiben hat auf dieser Stufe, sondern energisch weiterzuarbeiten. Er ruft in dem Beobachter das Bewußtsein hervor, daß die Welt, die erobert ist, nur eine Wahrheit wird und sich in keine Illusion verwandelt, wenn die Arbeit in entsprechender Art fortgesetzt wird. – Wer aber durch eine unrichtige Geistesschulung unvorbereitet an dieses Erlebnis herantreten würde, dem würde sich dann, wenn er an den großen Hüter der Schwelle kommt, etwas in die Seele gießen, was nur mit dem «Gefühle eines unermeßlichen Schreckens», einer «grenzenlosen Furcht» verglichen werden kann. [19]

Wie die Begegnung mit dem kleinen Hüter dem Geistesschüler die Möglichkeit gibt, sich zu prüfen, ob er gegen die Täuschungen geschützt ist, welche durch Hineintragen seiner Wesenheit in die übersinnliche Welt entstehen können, so kann er sich an den Erlebnissen, die zuletzt zu dem großen Hüter führen, prüfen, ob er jenen Täuschungen gewachsen ist, welche oben auf die zweite gekennzeichnete Quelle zurückgeführt wurden. Vermag er jener gewaltigen Illusion Widerstand zu bieten, welche ihm die errungene Bilderwelt als einen reichen Besitz vorgaukelt, während er doch nur ein Gefangener ist, so ist er im weiteren Verlauf seiner Entwickelung auch davor bewahrt, Schein für Wirklichkeit zu nehmen.

Der Hüter der Schwelle wird für jeden einzelnen Menschen eine individuelle Gestalt bis zu einem gewissen Grade annehmen. Die Begegnung mit ihm entspricht ja gerade demjenigen Erlebnis, durch welches der persönliche Charakter der übersinnlichen Beobachtungen überwunden und die Möglichkeit gegeben wird, in eine Region des Erlebens einzutreten, die von persönlicher Färbung frei und für jede Menschenwesenheit gültig ist. Wenn der Geistesschüler die beschriebenen Erlebnisse gehabt hat, dann ist er fähig, in der seelisch-geistigen Umwelt dasjenige, was er selber ist, von dem, was außer ihm ist, zu unterscheiden. [20]

Wenn der Mensch seinen physischen Leib verläßt, in welchem er die physische Welt zur Umwelt hat, er die elementarische Welt (siehe: Astralplan) betritt; und dann, wenn er diese elementarische Welt zur Umwelt hat, lebt er im ätherischen Leibe. Wenn er dann hellsichtig aus dem ätherischen Leibe herausgeht, dann lebt er im astralischen Leibe und hat zur Umwelt die geistige Welt (siehe: Devachan unteres). Und der Mensch kann auch aus seinem astralischen Leibe herausgehen und kann in seinem wahren Ich sein. Dann hat er zur Umgebung die übergeistige Welt (siehe: Devachan oberes). Indem der Mensch in diese Welten eintritt, gelangt er zuletzt zu dem, was er in seinen Seelentiefen immer hat, zu seinem wahren Ich, während er schon in der geistigen Welt (unterem Devachan) zu der Art gelangt, wie in ihr das wahre Ich, das andere Selbst sich offenbart, nämlich umhüllt von Gedankenlebewesenheit. Im Grunde genommen tragen wir also wie unseren ständigen Begleiter dieses wahre Ich immer in uns. An der Schwelle zur geistigen Welt kann sich dieses wahre Ich kleiden in alles das, was unsere Schwächen, unsere Mängel sind, in alles das, was uns sozusagen geneigt macht, hängen zu bleiben mit unserem ganzen Wesen an der physisch-sinnlichen Welt oder wenigstens an der elementarischen Welt. Und dieses andere Selbst kleidet sich in unsere Schwächen, in all das, was wir eigentlich verlassen müssen und nicht verlassen wollen, weil wir gewohnheitsmäßig als physisch-sinnliche Menschen daran hängen, wenn wir die Schwelle überschreiten wollen. Wir begegnen also eigentlich an der Schwelle zur geistigen Welt einem Geistwesen, das sich unterscheidet von allen anderen Geistwesen, denen wir in den übersinnlichen Welten begegnen können. Alle anderen Geistwesen erscheinen gleichsam mehr oder weniger mit Hüllen, die doch ihrem Eigensein mehr angemessen sind, als es mit den Hüllen des Hüters der Schwelle der Fall ist. Er kleidet sich in dasjenige, was uns nicht nur Sorgen und Kummer, sondern oft Abscheu und Widerlichkeit erweckt. Er kleidet sich in unsere Schwächen, in das, von dem wir sagen können, wir erbeben in Furcht, uns nicht von ihm zu trennen, oder auch, wir erröten nicht nur, wir vergehen fast in Scham, wenn wir hinschauen müssen auf das, was wir sind und in was sich der Hüter der Schwelle kleidet. [21]

Nun kommt man nicht so leicht an dem Hüter der Schwelle vorbei. Man kann sagen: Im Verhältnis zu einer wahren, richtigen Anschauung der geistigen Welten ist es leicht, überhaupt eine Anschauung der geistigen Welten zu gewinnen. Irgendwelche Eindrücke der geistigen Welt zu haben, ist eigentlich, besonders in unserem heutigen Zeitpunkt, nicht so ganz besonders schwierig. Aber in die geistige Welt so einzutreten, daß man sie in ihrer Wahrheit schaut, das macht notwendig, wenn es einem vielleicht auch erst spät aufbewahrt ist, die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle zu haben, daß man sich doch gut vorbereitet haben muß, um sie, wenn man sie haben kann, in der richtigen Weise zu erleben. – Die meisten Menschen oder wenigstens sehr viele kommen sozusagen bis zum Hüter der Schwelle. Es handelt sich aber immer um das wissende Kommen zum Hüter der Schwelle. Unbewußt stehen wir jede Nacht vor ihm. Und dieser Hüter der Schwelle ist eigentlich ein recht großer Wohltäter, daß er sich nicht sehen läßt, denn die Menschen würden ihn nicht ertragen. Was wir unbewußt in jeder Nacht der Tatsache nach erleben, zum Wissen zu bringen, heißt eigentlich, die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle haben. Für gewöhnlich gehen die Menschen gerade so weit, daß sie gerade bis zu der Grenze kommen, wo sozusagen der Hüter steht. Die Seele erlebt nämlich diesen Augenblick im Dämmerzustand zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit, sie läßt ihn nicht ganz zum Bewußtsein kommen. Die Seele neigt dazu, an der Grenze sich selber zu sehen, wie sie ist, wie sie hängt an der physischen Welt mit ihren Schwächen und Mängeln. Aber die Seele kann das nicht ertragen, und noch früher, als der ganze Vorgang zum Bewußtsein kommen kann, betäubt sich sozusagen diese Seele das Bewußtsein durch den Abscheu, den sie hat. Und solche Momente, wo die Seele ihr Bewußtsein betäubt, sind die besten Angriffspunkte für die ahrimanischen Wesenheiten. Wir kommen in der Tat hin zum Hüter der Schwelle, indem mit einer ganz besonderen Stärke und Kraft sich zum Beispiel unser Selbstgefühl ausgebildet hat. Dieses Selbstgefühl müssen wir erstarken, wenn wir uns in die geistige Welt hinaufleben wollen. Mit der Erkraftung dieses Selbstgefühls erkraften sich auch alle Neigungen und Gewohnheiten, die Schwächen und Vorurteile, die sonst in der äußeren Welt durch Erziehung, durch Gewöhnung, durch die äußere Kultur in ihren Grenzen zurückgehalten werden. An der Schwelle der geistigen Welt machen sich von innen heraus die luziferischen Impulse recht geltend, und, indem die Menschenseele die Tendenz hat, sich zu betäuben, verbindet sich sogleich Luzifer mit Ahriman, und die Folge ist dann, daß dem Menschen der Eintritt in die geistige Welt verwehrt wird. Wenn aber eine besondere Gier da ist, in die geistige Welt hineinzukommen, dann nascht man an der geistigen Welt. Und das, was man genascht hat, verdichtet Ahriman, daß es ganz nach den Mustern von physischen Eindrücken aussieht. Kurz, er hat Halluzinationen, Illusionen, er glaubt vor einer geistigen Welt zu stehen. Und das, was er da genascht hat, verdichtet sich zu dem, was durchaus wahre Bilder der geistigen Welt enthalten kann, aber was das Wichtigste nicht enthält, wodurch die Seele ein klares Anschauen über die Wahrheit und den Wert dessen, was sie sieht, haben kann. [22]

Es steht abends, wenn wir einschlafen ein Hüter, das ist der große Hüter der Schwelle, der uns nicht hineinläßt in die geistige Welt (Makrokosmos) solange wir unreif sind. [23] In dem Augenblick, wo der Mensch des Morgens aufwacht, tritt er eigentlich ein in das Tor der eigenen Wesenheit (Mikrokosmos). An diesem Tor steht ein Wächter; dieser Wächter ist der kleine Hüter der Schwelle. Er läßt den Menschen nicht eintreten in die eigene Wesenheit (in den Mikrokosmos), sondern lenkt ihn sogleich in die äußere Welt ab. Jeden Morgen trifft der Mensch diesen kleinen Hüter der Schwelle. [24] Wenn wir allen äußeren Eindrücken Stillstand gebieten, dann kommen wir vorbei an dem kleinen Hüter der Schwelle. [25] In ganz anderer Weise werden Angst und Besorgniszustände (bei der Begegnung mit dem Hüter) überwunden, wenn man vorher durch das Erfassen der Erzählungen der höheren Welten hindurchgegangen ist, als wenn dies nicht geschehen ist. Dann aber, wenn der Mensch dieses Erlebnis gehabt hat, daß er sich selbst gegenübergetreten ist, daß er also dem Hüter der Schwelle begegnet ist, dann beginnt für ihn die Welt eine ganz andere zu werden; dann erfahren in einer gewissen Beziehung alle Dinge der Welt eine neue Gestalt. [26] Die zwei Warnungen (des Hüters) sind sehr verschieden. Beim Eintritt in die geistige Welt spricht der Hüter der Schwelle: Vergiß für die Momente deines geistigen Erkennens die physisch-sinnliche Welt. Für den Austritt aus der geistigen in die physisch-sinnliche Welt spricht der Hüter: Vergiß niemals, erinnere dich stets auch wiederum in der physisch-irdischen Welt deiner Erfahrungen in der geistig-himmlischen Welt. [27]

Die Begriffe und Ideen, mit denen der Mensch heute aufwachsen muß, sie haben die Eigentümlichkeit: wenn man mit ihnen, so wie man mit ihnen geworden ist durch die gegenwärtige Zivilisation und Schule, in die geistige Welt eintritt, wird man seelisch paralysiert. Denn so ist die Welt der abstrakten Ideen, die der Mensch heute anknüpft an alles: man kann mit ihnen hinein in die geistige Welt, aber nicht wieder mit ihnen heraus. Und wenn man diese Szene sieht, die wirklich heute im Schlafe mehr Seelen erleben, als man gewöhnlich glaubt, dann sagt man sich: Oh, wenn es nur gelänge, diese Seelen davor zu behüten, daß, was sie im Schlafe erleben, sie nicht auch im Tode erleben müssen. Denn wenn der Zustand, der so erlebt wird vor dem Hüter der Schwelle, lange genug fortdauern würde, das heißt, wenn die menschliche Zivilisation lange unter demjenigen bliebe, was man heute in den Schulen aufnehmen, durch die Zivilisation überliefert erhalten kann, dann würde aus dem Schlafe Leben werden. Die Menschenseelen würden hinübergehen durch die Pforte des Todes in die geistige Welt, aber nicht wieder eine Kraft der Ideen in das nächste Erdenleben bringen können. Zuletzt würde das bewirken, daß ein Menschengeschlecht in der Zukunft geboren würde, welches keinen Verstand, keine Möglichkeit, Ideen im Leben anzuwenden, in diesen künftigen Erdenleben zeigen, und das Denken, das Leben in Ideen würde von der Erde verschwinden. Ein krankhaftes, bloß instinktives Menschengeschlecht würde die Erde bevölkern müssen. [28]

Zitate:

[1]  GA 324a, Seite 34ff   (Ausgabe 1995, 1922 Seiten)
[2]  GA 324a, Seite 37uf   (Ausgabe 1995, 1922 Seiten)
[3]  GA 54, Seite 377   (Ausgabe 1966, 540 Seiten)
[4]  GA 138, Seite 133f   (Ausgabe 1986, 168 Seiten)
[5]  GA 94, Seite 43   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[6]  GA 17, Seite 50   (Ausgabe 1956, 102 Seiten)
[7]  GA 35, Seite 356   (Ausgabe 1965, 484 Seiten)
[8]  GA 113, Seite 40f   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[9]  GA 227, Seite 112f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[10]  GA 94, Seite 56   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[11]  GA 93a, Seite 141   (Ausgabe 1972, 286 Seiten)
[12]  GA 94, Seite 56f   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[13]  GA 181, Seite 426   (Ausgabe 1967, 480 Seiten)
[14]  GA 98, Seite 37   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[15]  GA 13, Seite 376f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[16]  GA 13, Seite 378f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[17]  GA 13, Seite 380f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[18]  GA 13, Seite 387f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[19]  GA 13, Seite 389f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[20]  GA 13, Seite 390f   (Ausgabe 1962, 444 Seiten)
[21]  GA 147, Seite 137f   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[22]  GA 147, Seite 138ff   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[23]  GA 124, Seite 103   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[24]  GA 124, Seite 95   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[25]  GA 119, Seite 102   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[26]  GA 113, Seite 43   (Ausgabe 1982, 228 Seiten)
[27]  GA 227, Seite 112   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[28]  GA 233, Seite 151f   (Ausgabe 1980, 174 Seiten)

Quellen:

GA 13:  Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910)
GA 17:  Die Schwelle der geistigen Welt (1913)
GA 35:  Philosophie und Anthroposophie (1904-1923)
GA 54:  Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906)
GA 93a:  Grundelemente der Esoterik (1905)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 113:  Der Orient im Lichte des Okzidents. Die Kinder des Luzifer und die Brüder Christi (1909)
GA 119:  Makrokosmos und Mikrokosmos.. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen (1910)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 138:  Von der Initiation. Von Ewigkeit und Augenblick. Von Geisteslicht und Lebensdunkel (1912)
GA 147:  Die Geheimnisse der Schwelle (1913)
GA 181:  Erdensterben und Weltenleben. Anthroposophische Lebensgaben. Bewußtseins-Notwendigkeiten für Gegenwart und Zukunft (1918)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)
GA 233:  Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung und als Grundlage der Erkenntnis des Menschengeistes (1923/1924)
GA 324a:  Die vierte Dimension. Mathematik und Wirklichkeit (1905-1922)