Egoismus

Der Egoismus wird stufenweise (im Laufe der Entwickelung) durch die Archai allen Gliedern der menschlichen Wesenheit eingepflanzt. [1] Wenn man das Verhältnis des Ich des Menschen zum Gliedmaßen-Stoffwechselsystem ins Auge faßt, so liegt eigentlich in diesem Verhältnisse der Ursprung des menschlichen Egoismus. Es gehört diesem System des menschlichen Egoismus ja auch das Sexualsystem an. Und das Ich wirkt gerade auch auf dem Umwege durch das Sexualsystem am meisten das menschliche Wesen mit Egoismus durchdringend. [2] Den Astralleib verdirbt man durch alles, was man nennen kann die Egoismen in der Menschennatur, Neid, Haß, Selbstsucht im allgemeinen, Hochmut, Stolz und so weiter. Durch alle diese Dinge verdirbt man den Astralleib, auch durch alle niederen Triebe und so weiter. [3] Der Mensch kann im gewöhnlichen Bewußtsein nur egoistisch träumen. Wenn er in der Nacht träumt, so träumt er in Gebundenheit an seinen eigenen Organismus; er ist im Traume nicht verbunden mit der Umgebung. Kann er verbunden sein mit der Umgebung und dieselben Kräfte entwickeln, die er sonst im Traume entwickelt, so ist er eben im imaginativen Vorstellen (siehe: Imagination). [4]

Das übersinnliche Bewußtsein muß die Entdeckung machen, daß beim Eintritte in die übersinnliche Welt das notwendige Ich-Gefühl um so schwächer ist, je stärker der Egoismus im Erleben innerhalb der Sinneswelt ist. Der Egoismus macht den Menschen in seinen Seelentiefen nicht stark, sondern schwach. Und wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, so tritt die Wirkung des Egoismus, welcher in dem Leben zwischen Geburt und Tod entwickelt worden ist, so ein, daß dieser die Seele schwach für die Erlebnisse der übersinnlichen Welt macht. [5] Nur wenn der Mensch die Ichsucht überwindet, erlangt er die Unsterblichkeit. [6]

Die menschliche Seele erscheint uns in ihrer Bedeutung für die physisch-sinnliche Welt so, daß diese für sie die große Lehrstätte ist, wo sie aus sich herausgehen muß, wo Egoismus sich in Altruismus verwandeln kann, so daß sie etwas wird für den weiten Umkreis des Daseins. Und die Welt zwischen dem Tode und der nächsten Geburt erscheint uns als diejenige, in welcher die Seele in sich erkraftet leben muß, und für welche die Seele gerade wertlos sein würde, wenn sie in dieser Welt schwach und nicht erkraftet eintreten würde. Es folgt daraus, daß die Seele diese zwei Wesenszüge hat, daß sich der Mensch in der Tat wohl hüten muß, dasjenige, was auf dem einen Felde, in der einen Welt ein Vorzügliches ist, nämlich die Erhöhung des Seeleninneren, in der anderen Welt zu etwas anderem anzuwenden als höchstens auch zur Erreichung der geistigen Welt; daß es aber vom Übel sein muß und in das Schlimmere umschlägt, wenn der Mensch das, was hier in der physisch-sinnlichen Welt sich als sein Wesen ausleben muß, von dem durchdringen läßt, was ihm gerade im Reich des Geistes zur würdigen Bereitung dient. Gerade deshalb müssen wir stark sein im Geistigen zwischen Tod und neuer Geburt, in der Erstarkung und Erkraftung unseres Ich, daß wir uns ein solches physisches Dasein vorbereiten, das im äußeren Dasein, in den Taten und Gedanken der physischen Welt möglichst unegoistisch ist. Wir müssen unseren Egoismus vor unserer Geburt in der geistigen Welt dazu verwenden, um uns so selbst zu bearbeiten, müssen so auf uns selbst hinschauen, daß wir in der physischen Welt selbstlos, das heißt moralisch werden.

Hier an diesem Punkte liegt alles, was man nennen kann das Wertvollste für den, der in die geistige Welt vordringen will. In der Tat muß man sich klar sein, daß man sein Böses und Unvollkommenes nicht umsonst wie sein Schattenbild sieht, wenn man in der geistigen Welt ist. Das ist es, was uns zeigt, wie wir mit der Sinneswelt verbunden bleiben müssen, wie unser Karma, unser Schicksal uns an die Sinneswelt binden muß, bis wir es in der geistigen Welt so weit gebracht haben, daß wir nicht nur mit uns allein, sondern mit der ganzen Welt leben können. Es zeigt sich, wie es vom Übel ist, dasjenige, was im geistigen Fortschritt das Wesentliche ist, nämlich Selbstvervollkommnung, unmittelbar auf die Dinge des äußeren Lebens anzuwenden. [7] Man muß also ein unegoistischer Mensch zu werden trachten mit den Mitteln des physischen Lebens, weil man in der geistigen Welt nicht mehr Gelegenheit hat, unegoistisch zu werden, weil es dort auf die Erkraftung des seelischen Lebens ankommt. [8]

Das Böse, das Verbrechen ist dadurch vorhanden in der Welt, daß der Mensch seine bessere Natur, nicht die schlechtere, untertauchen läßt im Physisch-Leiblichen. Lassen Sie diejenigen Eigenschaften, die sich in Grausamkeit, meinetwillen in Heimtücke und in anderem in der physischen Welt ausleben, herausgenommen sein aus der physisch-sinnlichen Welt, lassen Sie die Seele sich von ihnen durchdringen und sie ausleben statt in der physisch-sinnlichen Welt in der geistigen Welt, dann sind sie dort die uns weiterbringenden, die uns vervollkommnenden Eigenschaften. [9]

Wenn in der Seele statt Starkmut, statt moralischem Mut, eine gewisse innere Gleichgültigkeit entwickelt wird, eine gewisse innere Leichtigkeit, ein gewisses Zurückweichen vor dem Sichtreusein in der Seele, vor dem Durchbringen desjenigen, was man als wahr und richtig erkannt hat, so wird, weil dies auf die Inspiration wirkt, ein solches Leben wird dadurch gleichsam solche Ursachen legen, die wie inspirierend ins nächste Leben hinüberwirken und dort die Seele zu einem Selbstling, zum Egoisten machen. Egoismus in einem Leben ist gleichsam inspiriert aus dem vorhergehenden Leben dadurch, daß in diesem nicht in der Seele moralischer Mut gewaltet hat. [10]

Wenn der Mensch durch ein willkürliches Stumpfsein über die Erde geht, dann tritt in dem Leben nach dem zweiten Erdenleben an ihn heran Luzifer mit seiner Macht; und er beleuchtet ihm jetzt diejenigen Kräfte und Wesenheiten, welche er für das nächste Erdenleben braucht. Er tritt dann nach dem stumpfsinnigen Dasein und nachdem er geführt wurde von Luzifer durch das Leben zwischen Tod und neuer Geburt in ein neues Erdenleben ein: dann ist er ganz und gar mit Fähigkeiten begabt, die seine Organe so zubereiten, welche ihn überall den Versuchungen des Luzifer auf der Erde aussetzen. Solch ein Mensch kann dann klug und verständig sein, aber sein Verstand wird kalt berechnend sein, vor allen Dingen durchdrungen sein von Selbstsucht, von Egoismus. Dem Seher zeigt sich bei so vielen Menschen in der Welt, die eigentlich klug und verständig sind, aber kalt und selbstsüchtig in ihrer Betätigung, so daß sie, wenn man mit ihnen zusammenkommt, einen übervorteilen, damit sie selbst möglichst vorwärts kommen und sich in Szene setzen können, – es zeigt sich ihm bei der Betrachtung solcher Menschen, daß sie in ihrem früheren Leben in der geistigen Welt von Luzifer geführt waren, und daß sie ein stumpfsinniges Leben in der vorhergehenden Erdeninkarnation geführt haben: ein Tappen in Finsternis (nachtodlich), in dem weiteren Leben vorher, ein willkürliches Sichverschließen gegen die spirituelle Welt.– Und man muß sagen: Bei einer solchen Erkenntnis eröffnet sich einem eine traurige Perspektive für die materialistische Menschheit. [11]

Der Egoismus wird im Menschen eigentlich von außen erzeugt, nicht von innen. Der Egoismus wird vielfach gerade durch das Gemeinschaftsleben erzeugt. Das beachtet man bei der Behandlung der sozialen Frage viel zu wenig. Und so hat sich auch herausgebildet, daß ein rechtes Mißverhältnis besteht in der neueren Zeit zwischen der selbstverständlichen Egoismuslosigkeit und Freigebigkeit in geistigen Dingen und dem Egoismus und dem Geiz in allen materiellen Dingen. In bezug auf das, was die Menschen geistig hervorbringen, sind sie ihrer Naturanlage nach nicht gerade geizig; davon möchten sie soviel als möglich jedem Menschen mitteilen. [12]

Was man als Egoismus ausbildet in der physischen Welt und worüber man sich so wenig gern Selbsterkenntnis verschafft, das zeigt sich, wenn man es hinaufträgt in die geistigen Welten. Nichts ist so störend, nichts ist auch so wirklich verbitternd und schlimm zu erleben wie das, was man hinaufträgt als die Folgen von Lieblosigkeiten und von Gefühlsmängeln, die man in der physischen Welt entwickelt. Denn übertritt man die Schwelle der geistigen Welt, so zeigt sich alles das, was man so hineinträgt an nicht nur offenem, sondern an verstecktem, in der Tiefe der Seele wütenden Egoismus, den die Menschen haben. Und während sie sich dem Traum hingeben, selbstlos zu sein, ist vielleicht derjenige, der einen äußeren Egoismus zutage trägt und ruhig gesteht, daß er dieses oder jenes haben will, viel weniger egoistisch als diejenigen, welche aus anthroposophischen Abstraktionen heraus eine gewisse egoistische Selbstlosigkeit in ihrem Oberbewußtsein zutage treten lassen, insbesondere wenn sie von dieser Selbstlosigkeit deklamieren. Was man so hinaufträgt in die höheren Welten an Lieblosigkeit, an Mangel an Mitgefühl, verwandelt sich in häßliche, oftmals grauenvolle Gestalten, die man erlebt, wenn man in die geistigen Welten eintritt. Diese Gestalten sind wirklich sehr störend, sehr widerwärtig für die Seele.

Es wäre noch das beste, wenn der Mensch, sobald er hinaufkommt in die höheren Welten und nun in einer Sphäre von Widerlichkeiten ist, diese mutvoll und kühn anzuschauen und sich gestehen würde: Nun, du trägst eben so viel an Egoismus in die höheren Welten herauf. – Es wäre wirklich noch das beste, kühn und frank und frei sich diesem Egoismus gegenüberzustellen. Aber die menschliche Seele hat gewöhnlich die Tendenz, bevor noch diese Widerlichkeiten so recht zum Bewußtsein kommen, sie abzustreifen.

In dem Augenblick, wo man das wegstreift, was Folgen des Egoismus sind, haben Luzifer und Ahriman ein leichtes Spiel mit der Menschenseele. Da können sie in ihrem Bündnis sehr leicht die Menschenseele in ihr besonderes Reich führen (siehe: Achte Sphäre), wo sie ihr alle möglichen geistigen Welten vorführen können, die der Mensch dann für die wahren, echten, in der Weltenordnung begründeten geistigen Welten hält. Man darf sagen: Die Entwickelung wahrer, echter Liebe, ernsten und ehrlichen Mitgefühls sind zugleich gute Vorbereitungen für die Seele, die sich hellsichtig in die geistigen Welten hinaufleben will. Daß dieses Wort nicht so ganz unwichtig ist, wird derjenige einsehen, der ein bißchen nachsinnt über die Schwierigkeit, mit der echtes Mitgefühl und echte Liebefähigkeit in der Welt zu erzielen sind. [13]

Für eine mißlungene Handlung gilt unbedingt, daß wir nur dann das Rechte daraus wissen, wenn wir es objektiv so anschauen können, als ob es absolut notwendig gewesen wäre. Denn es ist, sobald es vergangen ist, im Reiche der absoluten Notwendigkeit. Wenn uns irgend etwas mißlungen ist, und wir empfinden nachher Unbehagen darüber, daß diese Tat mißlungen ist, so gilt es durchaus, daß dieses Unbehagen aus dem Egoismus stammt: wir haben eigentlich ein besserer Mensch sein wollen oder möchten ein besserer Mensch gewesen sein, ein Mensch, der die Sache besser gekonnt hätte. Das ist eben der Egoismus, der drinnensteckt. Und solange dieser Egoismus nicht mit der Wurzel ausgerottet ist, so lange kann das Erlebnis unserer Weiterentwickelung als Seele nicht die schwerwiegende Bedeutung haben, die es haben sollte. [14] Denn in dem Augenblicke, wo man zwischen sich und seine Tat den Egoismus hineinstellt, in dem Augenblicke tut man dasselbe, was man macht, wenn man vor das Auge den Spiegel hält, so daß das Auge den Gegenstand nicht sehen kann. [15]

Gotteslästerung ist alles Auflehnen gegen die Weisheit der Welt, gegen alles, was uns zustößt. Dankbar für seine Fehler sollte der Mensch den Göttern sein, weil durch die Überwindung der Fehler die stärkere Kraft ausgebildet wird. [16]

Zitate:

[1]  GA 11, Seite 177   (Ausgabe 1955, 252 Seiten)
[2]  GA 313, Seite 22   (Ausgabe 1984, 176 Seiten)
[3]  GA 124, Seite 97   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[4]  GA 179, Seite 106   (Ausgabe 1977, 164 Seiten)
[5]  GA 17, Seite 64f   (Ausgabe 1956, 102 Seiten)
[6]  GA 101, Seite 222   (Ausgabe 1987, 288 Seiten)
[7]  GA 63, Seite 244f   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[8]  GA 63, Seite 246   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[9]  GA 63, Seite 247   (Ausgabe 1959, 439 Seiten)
[10]  GA 62, Seite 440   (Ausgabe 1960, 499 Seiten)
[11]  GA 140, Seite 229   (Ausgabe 1980, 374 Seiten)
[12]  GA 338, Seite 112   (Ausgabe 1986, 336 Seiten)
[13]  GA 147, Seite 143f   (Ausgabe 1969, 168 Seiten)
[14]  GA 166, Seite 87   (Ausgabe 1982, 142 Seiten)
[15]  GA 166, Seite 89   (Ausgabe 1982, 142 Seiten)
[16]  GA 266/2, Seite 117   (Ausgabe 1996, 517 Seiten)

Quellen:

GA 11:  Aus der Akasha-Chronik (1904/1908)
GA 17:  Die Schwelle der geistigen Welt (1913)
GA 62:  Ergebnisse der Geistesforschung (1912/1913)
GA 63:  Geisteswissenschaft als Lebensgut (1913/1914)
GA 101:  Mythen und Sagen. Okkulte Zeichen und Symbole (1907)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 140:  Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Die lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten (1912/1913)
GA 147:  Die Geheimnisse der Schwelle (1913)
GA 166:  Notwendigkeit und Freiheit im Weltengeschehen und im menschlichen Handeln (1916)
GA 179:  Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten (1917)
GA 266/2:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band II (1910-1912)
GA 313:  Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie (1921)
GA 338:  Wie wirkt man für den Impuls der Dreigliederung des sozialen Organismus?. Zwei Schulungskurse für Redner und aktive Vertreter des Dreigliederungsgedankens (1921)