Hochmut

Gerade diejenigen, die auf dem Boden der Geisteswissenschaft stehen, haben alle Veranlassung, so intensiv, als es nur möglich ist, immer wieder zu betonen, daß es uns als Erdenmenschen nicht geziemt, zu übersehen, was uns gerade durch das Erdenleben gegeben werden soll. [1] Es gibt ja kaum etwas, was den Hochmut so sehr züchtet, wie ein nicht von Gedanken erhelltes Hellsehen, und es ist deshalb so besonders gefährlich, weil der Betreffende in der Regel gar nicht weiß, daß er hochmütig ist, sondern sich sogar für demütig hält. Er weiß gar nicht zu beurteilen, was für ein ungeheurer Hochmut dazugehört, die denkerische Arbeit der Menschen gering zu achten, und auf gewisse Eingebungen den Hauptwert zu legen. Es steckt darin ein maskierter Hochmut der ungeheuerlich ist. [2]

Wenn aus der Erkenntnis Hochmut kommt, dann ist das immer ein Zeichen davon, daß es eigentlich mit der Erkenntnis gewaltig hapert. Denn wenn die Erkenntnis wirklich da ist, dann macht sie auf ganz naturgemäße Weise demütig. Hochmütig wird man heute durch so ein Reformprogramm. Da weiß man alles, um was es sich handelt, da denkt man gar nicht daran, hochmütig zu sein, indem man sich zugleich, jeder einzelne, für allwissend erklärt. Aber bei einer wirklichen Erkenntnis bleibt man hübsch demütig, denn man weiß, daß eine wirkliche Erkenntnis nur erlangt wird im Laufe der Zeit. Lebt man in der Erkenntnis, so weiß man, wie schwer man sich die einfachsten Wahrheiten manchmal Jahrzehnte hindurch errungen hat. Da wird man schon innerlich durch die Sache selber nicht hochmütig. Der Mensch bedarf heute eines starken Hinneigens dazu, das Wesen der Erkenntnis wirklich zu erfassen, damit er nicht mit ein paar anthroposophischen Formeln über physischen Leib und Ätherleib und Reinkarnation und so weiter sogleich ein Ausbund von Hochmütigkeit wird. Diese Wachsamkeit gegenüber dem gewöhnlichen Hochmut muß als ein neuer moralischer Inhalt wirklich gepflegt werden. [3]

Zitate:

[1]  GA 120, Seite 141   (Ausgabe 1975, 230 Seiten)
[2]  GA 117, Seite 87   (Ausgabe 1966, 227 Seiten)
[3]  GA 220, Seite 139f   (Ausgabe 1966, 214 Seiten)

Quellen:

GA 117:  Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien (1909)
GA 120:  Die Offenbarungen des Karma (1910)
GA 220:  Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung (1923)