Chaldäer

Durch die Kunst hindurch sah Goethe auf den Grund der Imagination. Und er suchte, sich anlehnend an das Naturwerden, diejenige Seelenstimmung, die der Mensch hat, wenn er mit dem Werden eins wird. Versuchen wir nun es zurückzuverfolgen nach seinen Ursprüngen, wie wir den Spinozismus zurückverfolgt haben nach dem alten Ägypten, so werden wir zu den Griechen geführt und von da weiter nach dem Orient. Wir kommen vom Griechentum aus hinüber nach der im Werden lebenden Weltanschauung der Chaldäer, die ihrerseits wiederum aus der persischen Welt und aus der ganzen asiatischen Welt, die eine besondere Stufe auch im Chinesischen hat, geschöpft haben. [1]

Es erscheint im Beginne des 3. Jahrtausends als die bildhafte Chaldäerkultur, von der wir sagen können, jetzt ist der Mensch schon so weit, daß er nicht nur das Obere und Untere unterscheidet, sondern auf die Sternbilder eingeht; daß er allerlei Instrumente erfindet, Wasseruhren und so weiter. Aber wenn wir innerhalb des Chaldäischen stehenbleiben, so finden wir überall, wie der Mensch stark in der Außenwelt lebt, wie er sozusagen schwer ein inneres Erleben gewinnt. [2]

Die Chaldäer empfanden den Unterschied zwischen Tag und Nacht nicht so wie wir heute. Sie empfanden bei Tag nicht eine solche Klarheit und Helligkeit wie wir heute. [3] Man sah auch im Schlafe die Traumgestalt der aurischen Wolke links und rechts, und darinnen die einzelnen Menschen als Lichtgestalt, bei Tag in der aurischen Wolke dunkel, bei Nacht in der aurischen Wolke als Lichtgestalt. Also einen so großen Unterschied im Anschauen der täglichen und der nächtlichen Verhältnisse, wie das heute der Fall ist, gab es dazumal nicht. Und so hatte man auch nicht den Unterschied zwischen der am Himmel stehenden Sonne und der in der Nacht abwesenden Sonne empfunden, sondern man hat die Sache so empfunden, daß man die Sonne bei Tag als eine Lichtkugel, als einen Lichtkreis gesehen hat, ringsherum aber eine wunderbare Sonnenaura. Man hat sich vorgestellt: da unten ist die Erde, oben überall Wasser, ganz oben Schnee liegend; von da oben, stellte man sich vor, kommt der Euphrat. Dann dachte man sich über dem Ganzen die Luft. Man sah da oben gehen die Sonne, umhüllt von einer wunderschönen Aura. So ging die Sonne von Osten nach Westen. Dann stellte man sich vor, daß es etwas gibt, wovon man etwa sagte, so, wie wenn man heute von einem Rohre sprechen würde: abends geht die Sonne in dieses Rohr hinein, morgens kommt sie aus diesem Rohre heraus. Aber man sah die Sonne in diesem Rohr darinnen. Und man sah die Nachtsonne etwa so: in der Mitte einen grünblauen und ringsherum einen gelbroten Schein. So stellte man sich die Sonne vor, morgens aus dem Rohre heraus, in der Mitte hell, ringsherum von einer Aura umgeben. Sie geht über das Himmelsgewölbe, schlüpft im Westen des Himmels, in das Rohr hinein, wird dunkel, hat eine Aura, die aber über das Rohr herausragt, und so geht sie unten weiter. Man sprach von einem Rohre, von einem Hohlraum, weil man eben die Sonne dunkel, schwarz sah. Man sprach das aus, was man sah. [4]

Dagegen sah man etwas anderes in der damaligen Zeit sehr stark. Man sah hin auf seine Kindheit. Da hatte man die ersten sechs, sieben Jahre des Lebens zugebracht, da sah man sich förmlich drinnenstecken noch in dem Göttlichen, in dem man darinnen war, bevor man auf die Erde herabgestiegen war. Dann sah man sich zwischen dem 7. und 14. Lebensjahre etwas herausschlüpfen aus dem aurischen geistigen Ei, weiter herausschlüpfen bis zu seinen Zwanzigerjahren; und erst dann fühlte man sich so recht auf der Erde. Da sah man dann etwas stärker den Unterschied zwischen Tag und Nacht.

(Daher) hatte die Sonne für die alten Chaldäer in ihrer Mysterienweisheit nicht diese Wichtigkeit, sondern der Mond hatte diese Wichtigkeit, weil er in seinen Gestalten ein Abbild zeigte von dem, wie man selbst als Mensch heranwuchs. Die alten Chaldäer wachten auf mit dem 21., 22. Lebensjahre, wurden hell in ihrem Anschauen der Welt und sagten: Ich habe geschlafen bis zum 21. Jahre. Sie glaubten dann, daß sie bis in die Fünfzigerjahre wach lebten, daß sie dann allerdings nicht einschliefen als Greise, sondern in ein viel heller bewußtes Leben kämen. Daher wurden die Greise angesehen als diejenigen, welche weise waren, welche mit dem, was sie sich als Bewußtsein seit dem 20. Jahre erworben hatten, nun hineingingen in die Schlafeswelt, aber da ungemein hellsichtig wurden. So erlebte der alte Chaldäer drei Bewußtseinszustände. [5]

Und von denen, die in den Mysterien immer höher und höher stiegen, von denen wurde gesagt: In den Fünfzigerjahren besiegen sie das bloß Sonnenhafte, treten ein in das eigentlich Geisteshafte, werden von Sonnenhelden zu Vätern (siehe: Vater der Mysterien), die mit der geistigen Heimat der Menschen in Verbindung stehen. [6]

Zitate:

[1]  GA 325, Seite 86   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[2]  GA 325, Seite 106   (Ausgabe 1969, 173 Seiten)
[3]  GA 243, Seite 29   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[4]  GA 243, Seite 31f   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[5]  GA 243, Seite 32f   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)
[6]  GA 243, Seite 35   (Ausgabe 1983, 246 Seiten)

Quellen:

GA 243:  Das Initiaten-Bewußtsein. Die wahren und die falschen Wege der geistigen Forschung (1924)
GA 325:  Die Naturwissenschaft und die weltgeschichtliche Entwickelung der Menschheit seit dem Altertum (1921)