Goethe

Wenn wir Verständnis haben für die Zeitentwickelung, so dürfen wir als den letzten großen Geist, der die Fülle der Wissenschaft, die Fülle des Christentums und die Fülle der Renaissancekultur in seiner Seele vereinigte, Goethe bezeichnen, und wir könnten dann erwarten, daß Goethe uns in seiner Seele darstellen würde den schönen Zusammenschluß der Renaissancekultur, der Wissenschaft, das heißt des Intellektualismus, wie er durch das Arabertum befruchtet worden ist, und des Christentums. Wenn wir nun Goethe so betrachten, wie wir es seit Jahren gewohnt sind, dann kann man leicht erkennen, daß wirklich in Goethes Seele diese Elemente zusammengeflossen sind. [1] Goethes Bewußtsein ist ein solches, das im Bilde selbst leben kann, es ist nicht jenes abstrakte Bewußtsein, das man heute einzig und allein als Bewußtsein erlebt. Heute verwechselt man den Verstand mit dem Bewußtsein überhaupt. Von demjenigen, der bildlich vorstellt, glaubt man, er ist dem Grade nach nicht so bewußt wie der andere, der verstandesmäßig vorstellt. Verstandesmäßiges Vorstellen verwechselt man heute mit Bewußtheit. [2]

Die eigentümliche Natur Goethes besteht darin, daß Goethe zum Beispiel immer wieder und wiederum den Ansatz dazu gemacht hat, Zeichner oder Maler zu werden. Er ist niemals dazu gekommen, wirklich Zeichner oder Maler zu werden; aber was er hinterlassen hat von seiner Zeichnerei, von seiner Malerei, das frappiert in einer gewissen Beziehung durch das Treffsichere. Und wenn man dann Goethes Dichtungen, namentlich manche in dieser Beziehung außerordentlich charakteristische, ins Auge faßt, dann sagt man sich: Goethe hat zwar kein Maler werden können, aber seine Dichtungen zeigen, daß sie gewissermaßen sich ausgelebt haben wie eine verschlagene Malerei. – Goethe malt viel in seinen Dichtungen. Man könnte sagen, wenn man das zum Beispiel nach den Talenten mancher modernen Kritiker ausdrücken möchte – aber ich will nicht behaupten, daß es sehr gut ist, das zu sagen –: Goethe hat die Anlage gehabt, ein schlechter Maler zu werden, und er hat die malerischen Anlagen in die Dichtung hineingetragen und ist deshalb eine Art bloß malender Dichter geworden. Weiter kann man wiederum sagen: Etwas recht haben doch diejenigen Menschen gehabt, die manche Dichtungen Goethes, schon in einem gewissen Sinne «Iphigenie» und «Tasso», aber noch mehr «Die natürliche Tochter», marmorglatt und marmorkalt genannt haben. Goethe hat so dramatische Dichtungen gegeben, in denen eigentlich ein Bildhauer lebt, und so sind sie als dramatische Dichtungen in gewisser Beziehung nicht von jenem inneren Leben durchhaucht, von denen einer gewissen Beziehung Dichtungen, die steckengeblieben sind und die sich ausgelebt haben in gewissen plastischen Formen. Kurz, Goethe kann einem gerade vielleicht deshalb als ein besonderes Genie erscheinen, weil er eigentlich niemals richtig ganz zur Welt gekommen ist. Er ist zur Welt gekommen als Maler, ist es aber nicht geworden. Da hat er sich wiederum zurückgewandt zur Dichtung und hat in einer Dichtung, die halb malerisch ist, die Sache zum Ausdrucke gebracht. Er hat nicht vollständig die dramatische Dichtung herausgesetzt; er war dazu dichterisch veranlagt, ist aber niemals eigentlich ein wirklich dramatischer Dichter geworden, sondern ist vorher steckengeblieben, hat sich wiederum zurückgewendet und hat das in einer plastischen Weise zum Ausdrucke gebracht. Man könnte sagen, und das ist wirklich etwas, was Goethe charakterisiert, was einem kommt, wenn man ihn so recht betrachtet: Goethe ist ein Mensch, der eigentlieh nie so recht geboren worden ist. – Er hat eine Farbenlehre verfaßt und war doch nicht im wirklichen Sinne ein Physiker. Er hat sich mit Naturwissenschaft befaßt, aber er hat es nicht in das vollständig Fachliche hineingebracht. Kurz, er ist eigentlich nirgends ganz in die Welt herausgetreten. Er ist nicht ordentlich zur Welt gekommen. Man könnte sogar noch weiter gehen, könnte zum Beispiel seine Beziehungen zu den Frauen ins Auge fassen. Die haben sich gewöhnlich auch nur bis zu einem gewissen Grade entwickelt und niemals bis zu demjenigen Punkt hin, bis zu dem sie sich bei ordentlichen Weltmenschen, die so recht ins physische Leben hereingeboren werden, entwickeln. Man kann ja selbstverständlich gegen die These, Goethe sei nicht ganz geboren worden, einwenden: Ja, er ist am soundsovielten in Frankfurt geboren. Nicht wahr, das kann man in allen Biographien verzeichnet finden. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß auch da die Sache wiederum einen Haken hat. Er ist nämlich halbtot zur Welt gekommen und ganz schwarz am Körper. Also auch da liegt nicht ein so robustes Hereingehen in die Welt vor, sondern eine Art halbtotes Hereinkommen in die Welt. Und wiederum, verfolgen Sie sein Leben, wie er überall nicht ankommt, zurückgeschleudert wird bis zum Erkranktsein. Alles ist so – ich möchte sagen, bis zu der Art und Weise, wie er in Weimar herumging: unnahbar in einer gewissen Beziehung – daß man sagen kann: Er ist nicht ganz herausgetreten zur Welt. Und das rührte doch davon her, daß er besonders viel mitbekommen hat von demjenigen, was da um die Mitternachtsstunde des Daseins (im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt) an pflanzlichem Bewußtsein sich entwickelt. Daher auch sein Hindrängen zur Metamorphose der Pflanzen, wo er sein Allergrößtes geleistet hat: dieses wunderbare Anschauen der Pflanzenwelt. [3]

Wie kann zum Beispiel ein Mensch wie Goethe auf der einen Seite in seiner Seele gewisse Geheimnisse dieser Menschenseele tragen, und auf der anderen Seite oftmals so von Leidenschaft durchwühlt sein, wie es die Menschen nun eben finden, die in einer etwas äußerlichen Weise die Goethe-Biographie verfolgen. Und in der Tat: Wir haben ja in Goethe, wenn wir ihn so zunächst betrachten, etwas vor uns, was im krassen Sinne eine «Doppelnatur» ist. Für einen oberflächlichen Blick lassen sich auch kaum die beiden Seiten bei ihm in Einklang bringen: Auf der einen Seite steht die hochsinnige große Seele, welche gewisse Partien des zweiten Teiles des «Faust» aushauchen durfte, die manche tiefe Geheimnisse des Menschenwesens zum Ausdruck gebracht hat in dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», und man möchte alles vergessen, was man vielleicht aus der Biographie Goethes weiß, und sich ganz nur hingeben der Seele, die so etwas vermochte, wenn man eingeht auf eben diese Seele. Und dann wiederum tritt auf bei Goethe, ihn selbst quälend, ihn in vieler Beziehung mit Gewissensbissen durchdringend, die andere Natur, «menschlich allzu menschlich» in vieler Beziehung. So auseinandergefaltet sind die beiden Naturen des Menschen in den alten Zeiten nicht gewesen; sie konnten nicht so auseinanderfallen. Es konnte nicht ein Mensch, dessen Biographie in einer solchen Weise darzustellen ist wie die Goethes, zu solchen Höhen hinaufkommen, wie sie sich ausleben in gewissen Partien des zweiten Teiles des «Faust» oder in dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», und in seiner Seele so auseinanderfallen. Das war in älteren Zeiten unmöglich. Erst in den neueren Zeiten ist es möglich geworden, weil in der menschlichen Natur sich der angedeutete unbewußt gewordene Teil der Seele und der tote Teil des Organismus findet. Was lebendig geblieben ist, kann sich so weit hinauf läutern und reinigen, daß in ihm Platz haben kann, was zum «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» führt, und das andere kann den Attacken der äußeren Welt eben ausgesetzt sein. Und weil sich da die charakterisierten Kräfte einnisten können, deshalb kann unter Umständen eine recht geringe Übereinstimmung mit dem höheren Ich des Menschen vorhanden sein. Man muß nur verstehen, wie die Seele, die in Goethe lebte, einst auch zu den ägyptischen Initiierten gehörte, dann in Griechenland lebte, dort Bildhauer war und zu gleicher Zeit ein Philosophenschüler. Dann kommt eine Inkarnation – wahrscheinlich nur eine – zwischen dieser griechischen Inkarnation und der als Goethe, die ich noch nicht finden konnte. Wenn wir uns dies vor die Seele halten, dann können wir sehen, wie eine solche Seele, die in den alten Inkarnationen den ganzen Menschen beherrschen konnte, hinuntergeführt wird, dann aber von der gesamten Menschennatur zunächst etwas übrig lassen muß, worauf die schlimmen Kräfte Einfluß haben können. Das ist das Geheimnisvolle und so schwierig zu Verstehende in Naturen wie Goethe. Das ist es aber auch, was soviele Geheimnisse in der Menschenseele der modernen Zeit zum Ausdruck bringt. Alles, was sich da an Zweiheiten der Menschennatur abspielt, greift zunächst an die Verstandes- oder Gemütsseele, und diese spaltet sich eigentlich in jene «zwei» Seelen», wovon die eine ziemlich stark untertauchen kann in die Materie, die andere hinaufgehen kann in das Spirituelle. [4]

Die drei Geister: Shakespeare, Spinoza und der Botaniker Linné konnten Goethe im Grunde genommen dasjenige geben, was nun nicht in seinem innersten Lebenszentrum war, sondern was er von außen bekommen mußte, gerade diese Geister sind es, die den stärksten Einfluß auf ihn gehabt haben. Goethe selbst hatte nichts Shakespearisches, denn als er auf die Höhe seiner Kunst kam, schuf er seine «Natürliche Tochter», die wahrhaftig nichts von Shakespeares Kunst hat, sondern nach einer ganz anderen Seite hin strebt; aber er konnte dieses sein innerstes Wesen nur dadurch entwickeln, daß er an Shakespeare sich heranbildete. Goethes Weltanschauung hat nichts von einem abstrakten Spinozismus, aber das, was Goethe in seinem Innersten hatte als seinen Weg zu Gott, konnte er nur an Spinoza gewinnen. Goethes Morphologie hat nichts von dem Nebeneinanderstellen der organischen Wesen wie bei Linné, aber Goethe brauchte es, bei Linné nehmen zu können, was er selbst nicht hatte. Und dasjenige, was er dazugegeben hatte, war neu. Und so wuchs denn Goethe heran, wuchs hinein in seine Vierzigerjahre, herangebildet an Shakespeare, Linné und Spinoza, durchgegangen durch die Anschauungen der Kunst, die sich ihm in Italien geboten hat, wo er gegenüber den Kunstwerken sprach: «Da ist die Notwendigkeit, da ist Gott.» Und wie es seiner Zeit gemäß war, ging in ihm in einer stark unbewußten Weise, aber auch bis zu einem gewissen Grade bewußten Weise, das vor sich, was man nennen kann seinen Vorübergang an dem Hüter der Schwelle. Und nun vergleichen Sie, wenn Sie sein Vorübergehen an dem Hüter im Beginne der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts ins Auge fassen, Worte, die wie die Anbetungsworte an die Isis im alten Ägypten klingen in dem Prosahymmnus «Die Natur», wo Goethe noch ganz heidnisch fühlt, mit demjenigen, was Ihnen entgegentritt in einer gewaltigen Imagination im «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie»: dann haben Sie den Goetheschen Weg aus dem Heidentum heraus in das Christentum. Das steht in Bildern da, die er selber nicht zergliedern konnte, die aber doch gewaltige Bilder sind. [5]

Die (eigentliche) Initiation Goethes fand statt zwischen seinem Leipziger und Straßburger Aufenthalt, wo er dem Tode nahe war. Es kam ihm aber damals nicht zum Bewußtsein. Dies geschah erst 1795. Schon 1784 tauchte es wieder neu in ihm auf, aber noch undeutlich. Damals schrieb er das Fragment gebliebene Gedicht «Die Geheimnisse» in einem erleuchteten Augenblick. Erst im «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» legt er sein Bekenntnis nieder. Seine Einweihung auf dem physischen Plan geschah durch eine bestimmte Persönlichkeit. [6] Als er einige Jahre in Leipzig Student gewesen war, da wird er krank, schwer krank und steht dem Tode gegenüber. Er schaut wirklich sozusagen dem Tode ins Angesicht. Diese Krankheit ist ja gewiß eine organische Naturerscheinung, aber man lernt nie einen Menschen, der aus dem Elementarischen der Welt heraus schafft, eigentlich überhaupt keinen Menschen kennen, wenn man solche Ereignisse nicht im Verlauf ihres Karmas in Erwägung zieht. Was geschah denn eigentlich mit Goethe, als er so in Leipzig krank war? Das geschah, was man nennen kann eine völlige Lockerung des ätherischen Leibes, in dem die seelische Lebenskraft wirksam gewesen war bis dahin. Der lockerte sich so, daß nach dieser Krankheit Goethe nicht mehr jenen strammen Zusammenhang hatte zwischen dem ätherischen Leib und dem physischen Leib, den er vorher gehabt hatte. Der Ätherleib ist aber dasjenige Übersinnliche in uns, was uns eigentlich möglich macht, Vorstellungen zu haben, zu denken. Abstrakte Vorstellungen, wie wir sie im gewöhnlichen Leben haben, wie sie die meisten Menschen, die materialistisch gesinnt sind, allein lieben, hat man dadurch, daß der ätherische Leib eng verbunden ist mit dem physischen Leib, gewissermaßen durch ein starkes magnetisches Band mit dem physischen Leib verbunden ist. Dadurch aber, daß dies der Fall ist, hat man den starken Impuls, seinen Willen in die physische Welt hineinzutragen. Man hat diesen Impuls mit dem Willen, wenn außerdem der astralische Leib besonders stark entwickelt ist. Sehen wir hin nach Robespierre, nach Mirabeau, nach Danton, so haben wir einen mit dem physischen Leib stark verbundenen Ätherleib, aber auch einen stark entwickelten Astralleib, der seinerseits auf den Ätherleib wirkt und diese Menschenindividualitäten stark in die physische Welt hineinstellt. So war auch Goethe organisiert. Aber nun wirkte in ihm eine andere Kraft, die eine Komplikation hervorbrachte. Die wirkte dahin, daß der ätherische Leib durch die Krankheit, die ihn dem Tode ganz nahe brachte, sich lockerte und gelockert blieb. Dadurch aber, daß der Ätherleib nicht mehr so innig mit dem physischen Leib verbunden ist, stößt er nicht mehr seine Kräfte in den physischen Leib hinein, sondern behält sie innerhalb des Ätherischen. 172.41fDie revolutionäre Kraft wäre bei Goethe sicherlich so zum Vorschein gekommen, daß sie ihn früh verzehrt hätte. Da ja in seinem Milieu ein Ausleben der revolutionären Kraft äußerlich nicht möglich gewesen wäre und Goethe nicht Dramen hätte schreiben können wie Schiller, so hätte er sich verzehren müssen. Sie wurde abgeleitet durch die Lockerung des Zusammenhanges, des magnetischen Bandes zwischen seinem Ätherleib und dem physischen Leib. [7]

Dann, wenn der ätherische Leib gelockert wird, dann tritt eine ganz andere Beziehung ein im Wachen zwischen dem Seelisch-Geistigen und dem Organischen, dem Physischen des Menschen. Der Mensch wird, so wie ich es beschrieben habe, auf eine Art Isolierschemel gestellt. Aber es kann niemals eine solche Wirkung eintreten, ohne eine andere nach sich zu ziehen. Das ist sehr wichtig ins Auge zu fassen. Eine solche Beziehung tritt nicht einseitig ein, sondern sie zieht eine andere nach sich. Wenn man diese Beziehung etwas gröber ausspricht, so könnten wir auch sagen: Dadurch, daß der ätherische Leib gelockert ist, wird das ganze Wachleben des Menschen in einer gewissen Weise beeinträchtigt, beeinflußt. Aber das kann nicht sein, ohne daß zu gleicher Zeit das Schlafleben des Menschen beeinflußt wird. Die Folge davon ist einfach, daß der Mensch in losere Beziehungen tritt zu seinen Gehirneindrücken, wenn so etwas bei ihm auftritt wie bei Goethe. Dadurch tritt er auch in intimere, in stärkere Beziehungen während des Wachens zu seinen Rückenmarksnerven und zu dem Gangliensystem. Das ist damals, als Goethe krank wurde, zu gleicher Zeit eingetreten, daß er gewissermaßen eine losere Beziehung zu seinem Gehirn entwickelt hat, aber zugleich eine intimere Beziehung zu seinem Gangliensystem und zu seinem Rückenmarkssystem. Dadurch tritt der Mensch nämlich in eine ganz andere Beziehung zur Außenwelt. Wir sind ja immer in inniger Beziehung zur ganzen Außenwelt; wir achten nur nicht darauf, in welch inniger Beziehung wir eigentlich zur Außenwelt stehen. Dadurch müßte eigentlich die niedere Natur des Menschen bei einer solchen Persönlichkeit wie Goethe – denn man bezeichnet gewöhnlich dasjenige, was an Rückenmark und Gangliensystem gebunden ist, als die niedere Natur – nun besonders stark hervortreten. Vom Haupte ziehen sich die Kräfte zurück; das Gangliensystem und das Rückenmarkssystem nehmen sie mehr in Anspruch. [8]

Auf jemanden, bei dem ein kompakter Zusammenhang ist, zwischen physischem und Ätherleib, wirkt die Außenwelt ein, aber indem sie Eindrücke macht auf den physischen Leib, gehen die Eindrücke gleich in den Ätherleib über, das ist eins; und der lebt dann mit den Eindrücken der Außenwelt einfach flott mit. Bei einer solchen Natur wie Goethe es war, werden die Eindrücke selbstverständlich auf den physischen Leib gemacht, aber der Ätherleib geht nicht gleich mit, weil er gelockert ist. Die Folge davon ist, daß ein solcher Mensch isolierter sein kann gegenüber seiner Umgebung, daß ein komplizierterer Vorgang vorliegt, wenn ein Eindruck auf seinen physischen Leib gemacht wird. Goethe nimmt die Biographie des Gottfried von Berlichingen, läßt sich nur beeinflussen von Shakespeares dramatischen Impulsen und verändert gar nicht viel die nicht besonders gut geschriebene Selbstbiographie des Gottfried von Berlichingen, so daß er sein Drama auch nicht «Drama» nennt, sondern «Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisiert»; er veränderte nur etwas. Sehen Sie, dieses, ich möchte sagen, sanfte und zaghafte Anrühren der Dinge, so daß er nicht gewaltsam zufaßt, das ist bewirkt durch diesen ganz besonderen Zusammenhang zwischen Ätherleib und physischem Leib. Dieser Zusammenhang war bei Schiller nicht vorhanden. Daher stellt er solche Gestalten hin, die er wahrhaftig nicht auf einen äußeren Eindruck hin hingestellt hat, sondern die er ganz gewaltsam aus seiner Natur heraus formt: Karl Moor (in den Räubern). Goethe braucht die Wirkung des Lebens. Aber das Leben vergewaltigt er nicht; er hilft nur leise nach, um das Lebendige zum Kunstwerk zu erheben. So ist es auch, als die Lebensverhältnisse an ihn herantreten, die er dann im «Werther» gestaltet hat. Eigene Lebensverhältnisse, Lebensverhältnisse seines Freundes Jerusalem, sie biegt er nicht, formt er nicht viel, sondern er nimmt das Leben und hilft nur nach. Und durch die sanfte Art, wie er nachhilft eben aus seinem Ätherleib heraus, wird aus dem Leben ein Kunstwerk. Aber er kommt durch dieselbe Organisation dem Leben auch, ich möchte sagen, nur mittelbar nahe und bereitet sich in dieser Inkarnation sein Karma durch dieses nur mittelbare Nahekommen dem Leben. [9]

So wie er das Lebendige der Außenwelt nicht vergewaltigt, sondern nur sanft umformt, so bringt er gewissermaßen auch sein Fühlen und Empfinden, wie er es nur in seinem Ätherleibe erleben kann, nicht durch den physischen Leib gleich zu einem solch festen Zusammenhang mit der Außenwelt, daß bei ihm dasjenige, was bei anderen zu ganz bestimmten Lebensereignissen geführt hätte, auch dazu hätte führen können. Und so zieht er sich wieder zurück von Friederike Brion. Aber man soll nur so etwas seelisch nehmen. Als er ein letztes Mal (von Straßburg nach Sesenheim) hinausreitet, begegnet er sich auf dem Rückwege – Sie können das in seiner (Selbst-) Biographie nachlesen – selber. Goethe kommt Goethe entgegen. Er sieht sich selber, aber nicht in der Kleidung, die er anhat, sondern in einer anderen Kleidung. Und als er später, nach Jahren wiederum dahin kommt, die alten Bekannten aufsucht, da erkennt er, daß er wirklich in dem Kostüm, ohne daß er es gesucht hat, daß er vor Jahren voraus an sich gesehen hat, als er sich begegnete, wieder hinausging.

Wie kommt es, daß er sich da selber begegnete? Nun, bei einem Menschen, der etwas im ätherischen Leib erlebt, verobjektiviert sich sehr leicht das Erlebnis, wenn dieser ätherische Leib gelockert ist. Er sieht es als etwas Äußeres, es projiziert sich nach außen. Das ist bei Goethe wirklich eingetreten. Er hat in einem besonders dazu geeigneten Momente den anderen Goethe gesehen, den ätherischen Goethe, der in ihm lebte, der verbunden blieb durch sein Karma mit (der) Friederike von Sesenheim. [10] So tritt ein viel regerer Verkehr ein mit dem, was uns immer umgibt und umspielt und was uns allein dadurch verhüllt ist, daß wir nur zu nachtschlafender Zeit im normalen Menschenleben mit unserer geistigen Umwelt in Beziehung treten. Dadurch aber kommen Sie darauf, zu verstehen, wie so etwas, wie Goethe es beschrieben hat (das obige Doppelgänger-Erlebnis), für ihn einfach wahrzunehmen war, wirkliche Wahrnehmung war, eine Wahrnehmung die natürlich nicht so brutal hell sein konnte, wie die Wahrnehmungen sind, die wir durch unsere Sinne von der Außenwelt beziehen, aber die doch heller war als die Wahrnehmungen, die sonst ein Mensch von seiner Umgebung hat, insofern diese Umgebung geistig ist.

Nun, was nahm denn Goethe auf diese Art besonders rege wahr? Goethe war durch sein besonderes Karma dazu verurteilt, ins Gelehrtenleben, ins Erkenntnisleben hineinzuwachsen – durch Komplikationen des Karmas – wiederum nicht so wie ein Duzendgelehrter. Seit langen Jahrhunderten erlebt ein Mensch, der ins Gelehrtenleben hineinwächst, einen bedeutsamen Zwiespalt. Dieser Zwiespalt ist heute sogar mehr verborgen als zu Goethes Zeiten. Aber es erlebt jeder einen gewissen Zwiespalt dadurch, daß man in dem, was niedergelegte Wissenschaft ist, ein ungeheuer breites Feld hat, in dem das zu finden ist, was mehr oder weniger vom vierten nachatlantischen Zeitraum aufbewahrt worden ist. Es wird aufbewahrt in den Terminologien, in den Wortsystemen, die man genötigt ist aufzunehmen. Man kramt viel mehr, als man meint, in Worten. Als noch Jurisprudenz und Theologie die ganz besonders hohen Sitze einnahmen, da war wirklich ein umspannendes Wortsystem dasjenige, in das man sich zunächst einlebte. Daneben machte sich geltend immer mehr und mehr, was aus den Bedürfnissen des fünften nachatlantischen Zeitalters herkommt, das unmittelbare Leben, das aus den großen Errungenschaften der neueren Zeit stammt. Das empfindet derjenige nicht, der so einfach geschoben wird von Klasse zu Klasse, aber ein Mensch wie Goethe, der empfand das im allerhöchsten Maße. Und würden diese Menschen, die diese ineinandergewobenen Schichten – vierter und fünfter nachatlantischer Zeitraum – durchmachen, wissen, was ein gewisses Glied ihres Wesens, ohne daß sie es wissen, mit ihnen durchmacht, dann würden sie noch ein ganz anderes Verständnis für dasjenige haben, was Goethe jugendlich schon in seinen «Faust» hineingeheimnißt hat, denn unbewußt machen das Unzählige mit, die sich hineinleben in den heutigen Bildungsweg. So daß man sagen muß: Durch alles das, was Goethe sich heranerzogen hat vermöge seines besonderen Karmas, waren ihm die Menschen, denen er nahetrat während seines noch jugendlichen Lebens, etwas ganz anderes, denn er fühlte und empfand, wie eigentlich die Menschen, mit denen zusammen er da aufwuchs, betäubt werden mußten, um das Faustische Leben in sich eben betäubt zu haben, nicht in Wirklichkeit zu haben. Das konnte er dadurch empfinden, weil dasjenige, was auf geheimnisvolle Weise in seinen Mitmenschen lebte, auf ihn einen solchen Eindruck machte, wie sonst nur der Eindruck gemacht wird von einem Menschen auf den anderen Menschen, wenn besonders intime Verhältnisse auftreten, ich will sagen, wenn sich Liebe entwickelt zwischen dem einen und dem anderen Menschen. [11]

Diese Erfahrungen wurden zu den Vorstellungen, die Goethe in seinem «Faust» herausbrauste. Es sind nichts anderes als Erfahrungen, die er im weitesten Umkreise machte dadurch, daß gewissermaßen sein Ganglien- und Rücken-marksleben aufgerufen wurde zu einer größeren Wachheit als sonst. Das war der andere Pol zu dem Herabgedämmertwerden des Kopflebens. Er wachte mehr am Tage in der Zeit; in der er jugendlich am «Faust» arbeitete. Daher brauchte er auch das, was ich als die Schlafenszeit der 10 Jahre Weimar charakterisiert habe. Das war notwendig – ein Abdämpfen. [12]

Solche Leute wie Goethe kommen während des Wachlebens ins Träumen hinein. Dadurch wird bei ihnen gewissermaßen Lebenstraumgebilde, was bei den übrigen Menschen nur unbewußt bleibt. Sie können sich freilich nach dieser Darstellung eine sehr hochmütige Vorstellung bilden, Sie können sich sagen: Also könnten wir alle einen Faust schreiben, denn wir erleben den Faust, indem wir während des Tageslebens in die Umwelt hineinragen, mit der geistigen Umwelt zusammenleben. Das ist auch wahr, wir erleben den Faust; nur erleben wir ihn so, wie man sonst eben den entgegengesetzten Pol in der Nacht erlebt mit dem Ich und mit dem Astralleib, wenn man nicht träumt. Und Goethe träumte dieses Erlebnis, und dadurch konnte er es ausdrücken im Faust. Bei solchen Menschen wie Goethe verhält sich das, was sie schaffen, zu dem, was die übrigen Menschen unbewußt erleben, wirklich nur so wie Traum und tiefer Schlaf auf der anderen Seite des Lebens. Das ist eine volle Realität: Wie Traum und tiefer Schlaf, so verhalten sich die Schöpfungen der großen Geister zu den unbewußten Erlebnissen der anderen Menschen. [13]

Dadurch aber, daß Goethe gewissermaßen sein Inneres so herausgerissen hat aus dem körperlichen Zusammenhang, dadurch war ihm in früher Jugend schon möglich, die tiefen Wahrheiten in seiner Seele zu hegen, die uns in seinem Faust so überraschen. Ich sage absichtlich überraschen, (denn) Faust wächst immer über Goethe hinaus. Denn solche Werke wie «Faust» sind nicht Dichtungen wie andere Dichtungen. Der «Faust» quillt gleichsam hervor aus dem ganzen Geiste der fünften nachatlantischen Kulturperiode; er wächst weit über Goethe hinaus. [14]

Er mußte die ersten Partien in den Jugendjahren schreiben nach seiner Individualität, aber er konnte so nicht weiterleben. Er brauchte etwas, was wie eine Dämpfung, wie eine Art partieller Seelenschlaf war, um abzuschwächen das Feuer, das in seiner Seele gebrannt hat, als er die ersten Partien des Faust schrieb. Er konnte als Minister (in Weimar), indem er viel emsige Arbeit leistete, partiell verschlafen – sich ausruhend – dasjenige, was gebrannt hat in seiner Seele. [15] Und die innersten Kräfte streben bei Goethe auch, aus der weimarischen Dumpfheit zum vollen Leben wieder zu erwachen in einer Umgebung, die ihm nun wirklich bringen konnte, was ihm fehlte. Das war in Italien, als er erwachte. In Weimar selber hätte er nach seiner besonderen Konstitution nicht aufwachen können. Sehen Sie, einer, der kein großer Künstler ist, der kann ein Drama so glattweg nach und nach, Seite für Seite hinschreiben. Der große Dichter kann es nicht, denn der braucht: tief drinnenzuwurzeln im Leben. Goethe konnte daher tiefste Wahrheiten in seinem Faust zum Ausdrucke bringen in verhältnismäßig früher Jugend, Wahrheiten, die weit über sein Seelenvermögen hinauswuchsen. Aber er mußte eine Verjüngung beim Faust zum Ausdruck bringen. Schließlich, trotz aller Tiefe, hat ihn dasjenige, was er bis dahin in seine Seele aufgenommen hat, dem Selbstmorde nahegebracht. Faust mußte verjüngt werden. Ein kleiner Mensch kann recht gut schildern in vielleicht recht schönen Versen, wie ein Mensch verjüngt wird. Goethe konnte es nicht so ohne weiteres; er mußte selbst erst in Rom verjüngt werden. Daher ist die Verjüngungsszene der «Hexenküche» in Rom geschrieben, im Garten der Villa Borghese. Goethe würde es nicht gewagt haben, diese Szene früher zu schreiben. Verbunden mit einer solchen Verjüngung ist ein wenn auch noch dumpfes Bewußtsein. [16]

Es ist Goethe eigentlich immer nicht gelungen, in der richtigen Weise mit seinem Ich und mit seinem astralischen Leib den Ätherleib anzufassen und zu gebrauchen. Schauen Sie sich die Goetheschen Zeichnungen an, da haben Sie unmittelbar das Gefühl: Das zeichnet ein Ich und ein astralischer Leib, und da ist es genial; aber es ist nichts drinnen von richtig Zeichnerischem, von dem, was man sich aneignen muß, indem man sich in der richtigen Weise des physischen und des Ätherleibes bedient.

(Exkurs: Zu diesem vorigen Punkte muß unbedingt etwas angemerkt werden. Wenn man die bestehenden Goethebildnisse genau betrachtet, so sieht man, daß die Sehachsen der beiden Augen nicht konvergieren sondern auseinanderstreben. Das führt dazu, daß Goethe gar nicht direkt räumlich sehen konnte, dafür ein besseres peripheres Sehen hatte, also das ganze Sehfeld von 180 Grad bewußter wahrnahm. Ein solcher Künstler hat daher von Natur aus einen ausgezeichneten kompositionellen Sinn, da er gewohnheitsmäßig Gesamtheiten überschaut und nicht so sehr von Einzelheiten hypnotisiert wird, wie der Normalseher.

Der Herausgeber, der genau gleich veranlagt ist – heute allerdings korrigiert ist – machte die Erfahrung, daß eine solche Sehgewohnheit das ganze Seelenleben nachhaltig prägt. Man bekommt dadurch ganz natürlich immer eine innere Distanz zu allen Eindrücken. Er möchte allerdings die Frage nicht entscheiden, ob nun die Eigentümlichkeit des Sehens das Seelenleben geprägt hat oder ob nicht die seelische Konstitution das Sehvermögen geformt hat.)

Goethe bekam dann eines schönen Tages, wiederum nicht ganz vollbewußt, aber deshalb nicht weniger intensiv das Gefühl: Ja, hätten dich Griechen geboren, da wärest du ein richtiger Kerl geworden. Das veranlaßte ihn, seine italienische Reise zu machen, um wenigstens noch in Italien eine lebendige Beziehung zu einer anderen Vorfahrenschaft zu bekommen, als er sie in seiner Umgebung hat bekommen können. Griechische Ahnen suchte er sich. Denn für ihn wirkte das nicht gut, was da seit der Griechenzeit sich allmählich hineingeschlängelt hatte in die intellektualistische Welt. Und als er dann nach Italien kam, da fühlte er in der Tat so, als ob ihn Griechen geboren hätten. Da fühlte er, daß ihm die Kraft kam, die er brauchte, um seinen Ätherleib richtig in seine Gewalt zu bekommen. Dadurch wurde Goethe ein anderer, als die Menschen des materialistischen Zeitalters sonst sind. (Denn) gerade dadurch wird man Materialist, daß man nicht an den physischen und Ätherleib herankommt, daß der Geist zu schwach ist, um den Leib in der richtigen Weise zu ergreifen. Goethe arbeitete eigentlich in der ganzen ersten Hälfte seines Lebens daran, seinen Ätherleib in der richtigen Weise zu erfassen. [17] Goethe hat als junger Mensch hineinwachsen müssen in die Art und Weise, wie man zu seiner Zeit die Dinge der Welt und die Angelegenheiten der Menschen um sich herum ansah. Man kann sagen, ganz heimisch hat er sich in dieser Seelenverfassung eigentlich nicht gefühlt. In dem jungen Goethe ist etwas Stürmisches. Aber dieses Stürmische ist von besonderer Art. Man braucht bloß auf seine Jugendgedichte zu sehen und man wird finden, daß bei Goethe auf der einen Seite eine Art innerer Opposition ist gegen das, was eigentlich seine Zeitgenossen über Welt und Leben denken. Dann ergreift ihn eine große Sehnsucht, die Sehnsucht nach Italien. Und wir sehen ja merkwürdigerweise, wie die ganze Seelenstimmung Goethes sich umändert. Eigentlich versteht Goethe nur der, welcher diesen gewaltigen Umschwung ins Seelenauge faßt, der sich vollzieht mit Goethe, als er Italien betritt. Man braucht nur einen solchen Ausspruch zu nehmen wie den, der sich in seinen Briefen an die weimarischen Freunde findet bei Betrachtung der Kunstwerke, die er da sieht und die ihm das griechische Kunstschaffen vor die Seele zaubern. Goethe ist einmal mit seiner Umgebung zufrieden, und er ist deshalb zufrieden, weil in diese – er meint in die Umgebung der Kunst – Anschauungen eingeflossen sind, die der Natur näherstehen als diejenigen Anschauungen, die er in seiner Jugend um sich herum hat wahrnehmen können. Und wir sehen, wie nun im Verlaufe der italienischen Reise aus dieser Seelen Stimmung heraus der Metamorphosegedanke entsteht, wie Goethe gerade da anfängt, die Umwandelung des Laubblattes in das Blütenblatt so anzuschauen, daß ihm der Metamorphosegedanke, der Gedanke der Umwandelung in aller Natur aufgeht. Goethe fühlt sich mit seiner Seele in der Welt eigentlich erst jetzt richtig heimisch. Und wenn man alles das nimmt, was nun Goethe seit jener Zeit als Dichter, als Wissenschafter produziert, wenn man das ansieht, kann man nicht anders, als sich sagen: Goethe lebt jetzt wiederum in Ideen und Begriffen, die nicht so ohne weiteres wiederum für die Zeitgenossen, namentlich nicht so ohne weiteres für den modernen Menschen begreifbar sind. Wer mit dem, was er sich angeeignet hat aus dem ganzen modernen Lernen heraus, von der Volksschule bis herauf zu den höchsten Bildungsanstalten, wer mit dem, was da Denkgewohnheiten, Empfindungsgewohnheiten geworden sind, an Goethe herantritt, der versteht eigentlich Goethe doch nicht. Man muß sich erst in einer gewissen Weise innerlich umschaffen, wenn man nachkommen will mit der eigenen Auffassung dem, was Goethe eigentlich meint, wenn er die «Iphigenie», die er zunächst verfaßt hat aus der Stimmung des germanischen Nordens, in Italien umschreibt in das Metrum des griechischen Volkes. Man begreift Goethe erst nach dieser eigenen Umschaffung der Seele in seiner ganzen Stellung zu seinem Faust». [18]

Goethe wurde schon durch die italienische Reise ein emsiger Student, der alles im einzelnen beobachtete, der im Kleinsten das Größte suchte und sich sagte: wenn der Künstler im Sinne der Griechen verfährt, nämlich «nach den Gesetzen, nach welchen die Natur selbst verfährt», dann liegt in seinen Werken das Göttliche, das in der Natur selbst zu finden ist, – für Goethe ist die Kunst «eine Manifestation geheimer Naturgesetze». Was der Künstler schafft, sind Naturwerke auf einer höheren Stufe der Vollkommenheit. Kunst ist Fortsetzung und menschlicher Abschluß der Natur. [19]

Goethe konnte bis zu einem gewissen Grade astralisch schauen. [20] Er nimmt für sich in Anspruch so seine Ideen in der Welt zu sehen, wie die Griechen die Ideen in der Welt gesehen haben, wie die Sinneswahrnehmungen. [21] Als ihm in seiner Jugend Jacobi vom Glauben sprach, da sagte er: Ich halte mich ans Schauen. – Vom Glauben wollte Goethe nichts wissen, er wollte schauen. Und er war schon auf dem Wege, von seinen Imaginationen herauf auch zu den Inspirationen zu kommen und zu den Intuitionen. Er kam bloß bis zur Anschauung des Übersinnlichen in der Pflanzenwelt. Und so kam er im Grunde genommen nur eigentlich bis zu einer imaginativen Darstellung der Welt, wenn er in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie vom Seelischen sprach. [22]

Goethe konnte nicht bis zu einem wirklichen Ergreifen der geistigen Welt vorrücken, daher wandte er sich zurück. Allerdings in wesentlich metamorpho-sierter Umgestaltung ist Goethe doch zurückgegangen zu dem katholischen Symbolismus, zu dem katholischen Kultus. So daß wir förmlich an die Theophiluslegende der guten Nonne Hroswitha (siehe: karmische Reihen) aus dem 9. Jahrhundert erinnert werden, wenn auch Goethe Faust zuletzt in einem christianisierenden Tableau erlöst sein läßt. Man möchte sagen, man spürt noch – wenn auch allerdings mit Goetheschem grandios-künstlerischem Sinn ausgestaltet – in dem: «Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan!» das Hinaufziehen des Theophilus aus dem 9. Jahrhundert durch die Jungfrau Maria. [23]

In Goethe steckt seiner ganzen Veranlagung nach etwas tief Christliches. Goethe war sich immer klar darüber, daß er das, was er eigentlich zu sagen hatte, doch nur bis zu einem gewissen Grade seiner Mitwelt beibringen könne; daß für gewisse Dinge die Zeit doch zu wenig reif sei. Und da stellte es sich denn heraus, daß auch andere sich anregen ließen, die nun spezielle Naturforscher waren. Zum Beispiel Schelver, der Botaniker, Henschel (sein Schüler) ließen sich anregen von Goethes Metamorphosenlehre. Sie schrieben merkwürdige Dinge über das Pflanzenwachstum. [24]

Goethe war sich klar, daß, wer den Geist zu finden vermag, ihn nicht in einer anderen Welt zu suchen brauche (wie die Metaphysiker), und umgekehrt, daß derjenige, der die Natur so wenig vom Geiste durchdrungen empfindet, daß er nötig hat, auf eine andere Welt zu reflektieren, auch in einer anderen Welt höchstens Phantastisches, Träumerisches, niemals aber wirklich den Geist finden könne. Schon das Gefühl, man müsse aus dieser Welt herausgehen, um zum Geiste zu kommen, empfand er als etwas Geistloses. [25]

In der Goetheschen Weltanschauung liegt der Anfang dessen, was eigentlich, nur mit Frontänderung nach der Naturwissenschaft hin, aus dem Thomismus werden muß, indem er sich herauferhebt zu der Entwickelungshöhe der Gegenwart, indem er eine wirkliche Entwickelungsströmung wird. Thomas von Aquino konnte es nur bis zu einem abstrakten Statuieren dessen bringen, daß das Seelisch-Geistige wirklich bis in die letzten Tätigkeiten der menschlichen Organe hinunter wirkt. In abstrakter Form sprach das Thomas aus: Alles das, bis in die vegetativen Tätigkeiten hinein, was im menschlichen Leibe lebt, wird vom Seelischen aus dirigiert und muß vom Seelischen aus erkannt werden. – Goethe macht den Anfang zur Frontänderung in seiner «Farbenlehre», die deshalb so ganz und gar nicht verstanden wird; Goethe macht den Anfang mit seiner «Morphologie», mit seiner Pflanzen- und Tierlehre. Die völlige Erfüllung dieses Goetheanismus wird aber erst gegeben, wenn man eine Geisteswissenschaft hat, die aus ihrer eigenen Kraft Aufklärung über die naturwissenschaftlichen Tatsachen hervorbringt. [26] Nicht auf dem Wege logischer Schlußfolgerung, sondern durch Betrachtung des Wesens der Kunst gelangt Goethe zu seiner Weltanschauung. Und was er in der Kunst gefunden hat, das sucht er auch in der Natur. [27] (Siehe: Goethes Naturanschauung).

Goethe sah den Aufgang eines ganz neuen Zeitalters, indem sich Geoffroy de Saint-Hilaire in seinen Gedanken ein naturwissenschaftliches Denken zurechtlegte, welches übergehen muß, wenn es sich wirklich entwickelt, in übersinnliche Aufklärung über die Natur, welches gar nicht anders kann, als endlich in übersinnliche Erkenntnisse, in hellseherische Erkenntnisse überzugehen. Darin sah Goethe die Revolution von 1830, nicht in dem, was politisch in Paris vorgeht. Darin bewies Goethe sich als einer der intensivsten prophetischen Geister seiner Zeit. Er bewies, daß er fühlte und empfand, um was es sich in dieser neueren Zeit handelt. [28]

Man kann sprechen von Goethes Genie. Dieses Goethesche Genie spricht sich schon in seiner Jugend aus. Aber, was da an Fähigkeiten bei ihm hervortritt in seiner Jugend, das hat, ich möchte sagen, den Wert wie etwas vom Himmel Gefallenes. Aber indem Goethe ein alter Mann wird und immer reifer und reifer wird, nie aufhört reifer zu werden, da gestaltet sich nach und nach das, da evolutioniert sich dasjenige, was er aus seinen früheren Inkarnationen mitgebracht hat. Das hassen aber auch die Menschen heute. Goethe selbst mußte sich schon beklagen darüber, daß dasjenige, was er nicht sich als Verdienst anrechnete, die Produktionen seiner Jugend, den Leuten besonders wertvoll war, dagegen dasjenige, was er sich durch seine Lebenserfahrung angeeignet hat, daß sie das ablehnen. [29]

Man muß ein Gefühl dafür haben, wie ein moderner Mensch wie Goethe, der ja nicht in jenen Mechanismus, in dem wir heute drinnen stehen, hineingestellt war, sondern noch in das Zeitalter, in dem dieser Mechanismus erst seine ersten Triebe entfaltete, wie Goethe sich mit jeder Faser seiner Seele heraussehnte aus diesem europäischen Leben und zurücksehnte nach dem, was die europäische Zivilisation einmal gewesen ist. Das ist es ja, was in den Gefühlen Goethes lag, als er in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts sich nach Italien sehnte, um durch das, was da in der Dekadenz noch vorhanden war, zu erahnen dasjenige, woraus eigentlich die europäische Zivilisation entsprungen ist. [30]

Bis zum Jahre 1862, also dreißig Jahre nach Goethes Tode, war überhaupt für die wenigsten Menschen ein Exemplar von Goethes (Werken) zu beschaffen. Goethe war nicht frei (da die Autorenrechte gebunden waren); nur ganz wenige Menschen besaßen irgendwie ein Exemplar von Goethes Schriften. Es war also dasjenige, was Goetheanismus ist, etwas, was ganz wenigen eigen geworden war. Erst in den sechziger Jahren konnte eine größere Anzahl von Menschen überhaupt Kunde erlangen von dem, was in Goethe lebte, und da war im Grunde genommen schon das Verständnis, die Verständnisfähigkeit wiederum hinuntergeschwunden. Es ist zu einem richtigen Verständnis Goethes im Grunde genommen gar nicht gekommen. [31]

Goethe konnte alles, was in seinem Karma lag, ausgestalten bis ins höchste Lebensalter hin. Da hat sich eigentlich alles ausgelebt. Goethe muß neu anfangen, wenn er wieder in einem Erdenleben erscheint, unter ganz neuen Bedingungen. Das alles drückte sich in einem so gestalteten Körper aus, wie ihn Goethe hatte. Denn das, was der Mensch aus dem vorigen Erdenleben veranlagt hat, kommt zunächst als Ursache in der Kopfbildung zum Vorschein. Nun hatte Goethe von Jugend auf diesen wunderbaren Apollo-Kopf, der nur die harmonischen Kräfte in die Körperlichkeit hineingoß. Er hatte aber diesen von der Last des Oberleibes beeindruckten Oberkörper mit den zu kurzen Beinen, so daß er diesen Gang (etwas vornübergebeugt, die Hände auf dem Rücken) wieder hatte, der in seinem ganzen Lebenswandel zum Vorschein kommen konnte. Dieser ganze Mensch war karmische Voraussetzung und karmische Erfüllung im wunderbar Harmonischen. Alles einzelne, was man im Goethe-Leben hat, spricht ja das aus. [32]

Zitate:

[1]  GA 124, Seite 176   (Ausgabe 1963, 254 Seiten)
[2]  GA 342, Seite 34   (Ausgabe 1993, 164 Seiten)
[3]  GA 207, Seite 121ff   (Ausgabe 1981, 192 Seiten)
[4]  GA 144, Seite 73f   (Ausgabe 1960, 84 Seiten)
[5]  GA 188, Seite 137f   (Ausgabe 1982, 262 Seiten)
[6]  GA 97, Seite 299   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[7]  GA 172, Seite 43   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[8]  GA 172, Seite 60   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[9]  GA 172, Seite 44f   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[10]  GA 172, Seite 45f   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[11]  GA 172, Seite 66ff   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[12]  GA 172, Seite 69   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[13]  GA 172, Seite 70f   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[14]  GA 172, Seite 46   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[15]  GA 172, Seite 50   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[16]  GA 172, Seite 52   (Ausgabe 1964, 240 Seiten)
[17]  GA 222, Seite 31ff   (Ausgabe 1976, 130 Seiten)
[18]  GA 206, Seite 169ff   (Ausgabe 1967, 208 Seiten)
[19]  GA 57, Seite 316   (Ausgabe 1961, 434 Seiten)
[20]  GA 94, Seite 136   (Ausgabe 1979, 312 Seiten)
[21]  GA 82, Seite 139   (Ausgabe 1994, 264 Seiten)
[22]  GA 214, Seite 57   (Ausgabe 1980, 208 Seiten)
[23]  GA 210, Seite 209   (Ausgabe 1967, 245 Seiten)
[24]  GA 175, Seite 231f   (Ausgabe 1982, 416 Seiten)
[25]  GA 67, Seite 74f   (Ausgabe 1962, 367 Seiten)
[26]  GA 74, Seite 92   (Ausgabe 1967, 117 Seiten)
[27]  GA 6, Seite 49   (Ausgabe 1990, 246 Seiten)
[28]  GA 185, Seite 73   (Ausgabe 1982, 254 Seiten)
[29]  GA 190, Seite 138   (Ausgabe 1980, 238 Seiten)
[30]  GA 203, Seite 170   (Ausgabe 1978, 342 Seiten)
[31]  GA 204, Seite 191f   (Ausgabe 1979, 328 Seiten)
[32]  GA 310, Seite 26f   (Ausgabe 1965, 184 Seiten)

Quellen:

GA 6:  Goethes Weltanschauung (1897)
GA 57:  Wo und wie findet man den Geist? (1908/1909)
GA 67:  Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit (1918)
GA 74:  Die Philosophie des Thomas von Aquino (1920)
GA 82:  Damit der Mensch ganz Mensch werde. Die Bedeutung der Anthroposophie im Geistesleben der Gegenwart (1922)
GA 94:  Kosmogonie. Populärer Okkultismus. Das Johannes-Evangelium. Die Theosophie an Hand des Johannes-Evangeliums (1906)
GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 124:  Exkurse in das Gebiet des Markus-Evangeliums (1910/1911)
GA 144:  Die Mysterien des Morgenlandes und des Christentums (1913)
GA 172:  Das Karma des Berufes des Menschen in Anknüpfung an Goethes Leben (1916)
GA 175:  Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha. Kosmische und menschliche Metamorphose (1917)
GA 185:  Geschichtliche Symptomatologie (1918)
GA 188:  Der Goetheanismus, ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke. Menschenwissenschaft und Sozialwissenschaft (1919)
GA 190:  Vergangenheits- und Zukunftsimpulse im sozialen Geschehen (1919)
GA 203:  Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt (1921)
GA 204:  Perspektiven der Menschheitsentwickelung. Der materialistische Erkenntnisimpuls und die Aufgabe der Anthroposophie (1921)
GA 206:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil:. Der Mensch als geistiges Wesen im historischen Werdegang (1921)
GA 207:  Anthroposophie als Kosmosophie – Erster Teil:. Wesenszüge des Menschen im irdischen und kosmischen Bereich (1921)
GA 210:  Alte und neue Einweihungsmethoden. Drama und Dichtung im Bewußtseins-Umschwung der Neuzeit (1922)
GA 214:  Das Geheimnis der Trinität. Der Mensch und sein Verhältnis zur Geistwelt im Wandel der Zeiten (1922)
GA 222:  Die Impulsierung des weltgeschichtlichen Geschehens durch geistige Mächte (1923)
GA 310:  Der pädagogische Wert der Menschenerkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik (1924)
GA 342:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, I. Anthroposophische Grundlagen für ein erneuertes christlich-religiöses Wirken (1921)