Rosenkreuz

Christian Rosenkreuz ist zwar nicht sein wahrer, wohl aber derjenige Name, unter dem er bekannt geworden ist. [1] In der Mitte des 13. Jahrhunderts war plötzlich kein Hellsehen mehr da, es trat für alle Menschen eine geistige Finsternis ein. Sogar die erleuchtetsten Geister, die höchstentwickelten Persönlichkeiten, auch die Eingeweihten, hatten damals keinen Zugang mehr zu den geistigen Welten und mußten sich auf das beschränken, was ihnen durch Erinnerung geblieben war, wenn sie etwas über die geistigen Welten aussagten. Nach dieser Zeit beginnt langsam wieder das Hellsehen des Menschen, und es kann sich das Hellsehen der Zukunft ausbilden. Der Ursprung der Rosenkreuzerströmung fällt in das 13. Jahrhundert. Damals, im 13. Jahrhundert, mußten ganz besonders geeignete Persönlichkeiten für die Einweihung ausgewählt werden. Die Einweihung selbst konnte erst geschehen nach Ablauf jener kurzen Zeit der Verfinsterung.

Die Individualität, die als Hiram Abiff und Lazarus-Johannes wieder­verkörpert war, wurde in ihren Verkörperungen im 13. und im 14. Jahrhundert erneut eingeweiht und trägt seitdem den Namen Christian Rosenkreutz. [2] Im Jahre 1459 wurde Christian Rosenkreutz innerhalb einer streng in sich abgeschlossenen spirituellen Bruderschaft, der Fraternitas Roseae crucis, zum Eques lapidis aurei, zum Ritter des goldenen Steines erhoben. Jene hohe spirituelle Individualität, die in der äußeren Persönlichkeit des Christian Rosenkreutz den physischen Plan betrat, wirkte immer wieder als Führer und Lehrer der rosenkreuzerischen Strömung in «demselben Körper», wie man im Okkultismus sagt. [3] Schon 1459 stiftete, mit ganz wenigen Menschen, eine höhere geistige Individualitat, in der Außenwelt Christian Rosenkreutz genannt, eine Geheimschule zur Pflege der Weisheit, keiner neuen Weisheit, aber der alten Weisheit in einer solchen Form, wie sie die Menschen jetzt brauchten. Das ist die Weisheit der Rosenkreuzer, die damals zuerst gepflegt wurde. Es ist, wie gesagt, nichts Neues; es ist die uralte Weisheit, aber in der Form, in der sie die jetzige Menschheit braucht. [4]

Eine Strömung okkulter Weisheit kam im 14. Jahrhundert nach Europa. Als Christian Rosenkreutz die Weisheit des Orients nach Europa brachte, da gründete er in Europa Schulen, in denen Schüler hinaufgebracht wurden zu den Stufen, wo das Sehen im Devachan, das Sehen der höheren Geheimnisse möglich wurde. [5] Christian Rosenkreutz und seine sieben Schüler legten den Anfang zur Erkenntnis des Gesetzes des Sittlichen, damit dieses nicht in dem von den Religionen Gegebenen in den Menschen nachklinge, sondern damit das Gesetz, als solches erkannt, in jedem Menschen zum individuellen Leben erwache. Die Wahrheit auf den Gebieten der Moral, der Sittlichkeit, der Güte, soll als ein Erkanntes und Empfundenes im Menschen erstehen. [6] An einem Orte bildete sich eine hochgeistige Loge, ein Kollegium von 12 Männern, welche die ganze Summe der geistigen Weisheit alter Zeiten und ihrer eigenen Zeit in sich aufgenommen hatten. Es handelte sich darum, daß in jener verfinsterten Zeit 12 Menschen lebten, 12 hervorragende Geister, die sich vereinigten, um den Menschheitsfortschritt zu fördern. Sie konnten alle nicht unmittelbar hineinschauen in die geistige Welt, aber sie konnten regsam machen in sich die Erinnerung an das, was sie durch frühere Einweihung erlebt hatten. Und das Menschheitskarma hatte es so gefügt, daß in 7 dieser 12 Menschen dasjenige verkörpert war, was der Menschheit geblieben war an Resten der alten atlantischen Epoche. (Oben) ist ja schon gesagt, daß in den 7 alten heiligen Rishis, den Lehrern der urindischen Kulturzeit, hinübergetragen wurde das, was von der atlantischen Epoche übrig geblieben war. Die 7 Männer, die im 13. Jahrhundert wieder inkarniert waren, die ein Teil des Kollegiums der Zwölf waren, das waren eben diejenigen, die zurückblicken konnten auf die 7 Strömungen der alten atlantischen Entwickelungsepochen der Menschheit und auf das, was als diese 7 Strömungen fortlebte. Von diesen 7 Individualitäten konnte jede immer nur eine Strömung fruchtbar machen für die damalige und die heutige Zeit. Zu diesen 7 kamen 4 andere, die nicht auf längst verflossene Urzeiten zurückblicken konnten, sondern sie konnten zurückblicken auf das, was die Menschheit sich angeeignet hatte von okkulter Weisheit in den vier nachatlantischen Kulturperioden. Ein 12. endlich hatte gewissermaßen am wenigsten an Erinnerung, aber er war der Intellektuellste von ihnen, der besonders die äußeren Wissenschaften zu pflegen hatte. Der Zwölfte war ein Mensch, der im höchsten Maße die intellektuelle Weisheit seiner Zeit hatte. Er besaß verstandesmäßig das ganze Wissen seiner Zeit. Es fanden sich diese 12 Männer zusammen, welche die Summe des ganzen geistigen Wissens ihrer Zeit darstellten und die 12 Geistesrichtungen vertraten. [7]

Nun wußte man in der damaligen Zeit, daß wiedergeboren werden mußte eine Individualität, die mitgemacht hat die Zeit des Mysteriums von Golgatha. Diese Individualität hatte inzwischen in verschiedenen Inkarnationen die tiefste Imbrunst und Hingabe und Liebe entwickelt. [8] Der Ausgangspunkt einer neuen Kultur war aber nur dadurch möglich, daß ein Dreizehnter in die Mitte der Zwölf trat. Dieser war inkarniert gewesen zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Er hatte in darauffolgenden Inkarnationen durch ein demütiges Gemüt, durch ein inbrünstiges, gotterfülltes Leben sich für seine Mission vorbereitet. Er war eine große Seele, ein frommer, innerlich tief mystischer Mensch, der mit diesen Eigenschaften geboren wurde und sie sich nicht nur erworben hatte. Dieser Dreizehnte wuchs ganz und gar auf in der Pflege und Erziehung der Zwölf, und er erhielt von jedem an Weisheit, soviel ihm jeder nur geben konnte. Mit der größten Sorgfalt wurde dieser Dreizehnte erzogen, und es wurden alle Einrichtungen so getroffen, daß niemand als diese Zwölf einen Einfluß auf ihn ausüben konnten. Er war von der übrigen Welt abgesondert. Er war ein sehr schwächliches Kind, daher wirkte die Erziehung, die ihm die Zwölf angedeihen ließen, bis in seinen physischen Leib hinein. Während die geistigen Kräfte dieses Dreizehnten ins Unendliche zunahmen, gingen seine physischen Kräfte ganz zurück. Es kam so weit, daß fast aller Zusammenhang mit dem äußeren Leben aufhörte, alles Interesse für die physische Welt verschwand. Er lebte nur für die geistige Entwickelung, wozu er von den Zwölf die Anregung erhielt. In ihm war ein Reflex der Weisheit der Zwölf. Es kam so weit, daß der Dreizehnte alle Nahrung verweigerte und dahinsiechte. Da trat ein Ereignis ein, das nur einmal in der Geschichte eintreten konnte; es war eines der Ereignisse, die dann eintreten können, wenn die makrokosmischen Kräfte der Früchte wegen, die ein solches Ereignis zeitigen soll zusammenwirken. Nach einigen Tagen wurde der Körper dieses Dreizehnten ganz durchsichtig, und er war wie tot durch Tage hindurch. Um ihn herum versammelten sich nun die Zwölf in bestimmten Zeiträumen. Es entströmte ihrem Mund alles Wissen und alle Weisheit in diesem Moment. In kurzen Formeln, die wie Andachtsgebete waren, ließen sie dem Dreizehnten ihre Weisheit zuströmen, während dieser wie tot dalag. Dieser Zustand endete damit, daß die Seele des Dreizehnten erwachte wie eine neue Seele. Eine große Umwandlung seiner Seele hatte er erlebt. Es war in ihm etwas vorhanden wie eine ganz neue Geburt der zwölf Weisheiten, so daß auch die 12 Weisen etwas ganz Neues lernen konnten von dem Jüngling. Der Jüngling konnte nun von ganz neuen Erlebnissen sprechen. Die Zwölf konnten erkennen, daß er das Erlebnis von Damaskus hinter sich hatte: es war eine Wiederholung der Vision des Paulus vor Damaskus. Im Verlauf weniger Wochen gab nun der Dreizehnte alle Weisheit wieder, die er von den Zwölfen erhalten hatte, aber in einer neuen Form. Wie von Christus selbst gegeben war diese neue Form. Was er ihnen da offenbarte, das nannten die Zwölf das wahre Christentum, die Synthesis aller Religionen. Dieser Dreizehnte starb verhältnismäßig jung, und die Zwölf widmeten sich dann der Aufgabe, in Imaginationen – denn nur so konnte es geschehen – aufzuzeichnen, was der Dreizehnte ihnen geoffenbart hatte. So entstanden die symbolischen Figuren und Bilder der Rosenkreuzer. Der okkulte Vorgang muß so vorgestellt werden, daß sich die Frucht der Einweihung des Dreizehnten als dessen Ätherleib-Reste innerhalb der Geist-Atmosphäre der Erde erhalten hat. Dieser Rest wirkte auf die Zwölf ebenso wie auf ihre folgenden Schüler inspirierend, so daß aus ihnen hervorgehen konnte die rosenkreuzerische okkulte Strömung. Aber dieser Ätherleib wirkte weiter fort, und durchdrang dann den Ätherleib des sich wiederinkarnierenden Dreizehnten. [9]

Schon im 14. Jahrhundert wurde die Individualität des Dreizehnten wiederverkörpert. In dieser Inkarnation lebte diese Individualität mehr als 100 Jahre. Er wurde in ähnlicher Weise im Kreise der Schüler und Nachfolger der Zwölf erzogen, aber nicht so weltfremd wie in seiner vorhergehenden Inkarnation. Als er 28 Jahre alt war, bekam er ein merkwürdiges Ideal. Er mußte reisen und aus Europa fortziehen. Zuerst ging er nach Damaskus, und dort wiederholte sich noch einmal für ihn das Ereignis, das Paulus dort erlebt hatte. Dieses Erlebnis ist als die Frucht eines Keimes der vorigen Inkarnation zu bezeichnen. Alle Kräfte des wunderbaren Ätherleibes der Individualität des 13. Jahrhunderts waren intakt geblieben, und nichts ging nach dem Tode in den allgemeinen Weltenäther über. Dieses war ein bleibender Ätherleib, der seither intakt blieb in den Äthersphären. Dieser selbe feingeistige Ätherleib durchleuchtete und durchstrahlte wieder von der geistigen Welt aus die neue Verkörperung, die Individualität im 14. Jahrhundert. Daher wurde er getrieben, das Ereignis von Damaskus noch einmal zu erleben. Es ist dies die Individualität des Christian Rosenkreuz. Von dieser Inkarnation an wurde er so genannt. Er reiste damals durch die ganze bekannte Welt. Nachdem er die gesamte Weisheit der Zwölf eingeflößt bekommen hatte, befruchtet durch die große Wesenheit des Christus, wurde es ihm leicht, im Laufe von 7 Jahren die gesamte Weisheit der damaligen Zeit in sich aufzunehmen. Als er dann nach 7 Jahren nach Europa zurückkehrte, nahm er die entwickeltsten Schüler und Nachfolger der Zwölf zu Schülern an und begann dann die eigentliche Arbeit der Rosenkreuzer. [10]

Christian Rosenkreuz ging in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts nach dem Orient, um den Ausgleich zu finden zwischen der Initiation des Ostens und jener des Westens. [11] Ehe die damalige Inkarnation des Christian Rosenkreuz zu Ende gegangen war, hatte er eine Anzahl von Persönlichkeiten – die kaum die Zahl 10 überstieg – in den Gegenstand, in den er eingeweiht worden war, auch eingeweiht, soweit dies mit europäischen Menschen damals möglich war. Diese kleine Bruderschaft, die sich die Bruderschaft der Rosenkreuzer – Fraternitas rosae crucis – nannte, trug durch eine größere, mehr äußerliche Bruderschaft einen gewissen Mythus in die Welt hinaus (siehe: Kain und Abel).

Christian Rosenkreuz selbst hatte damals im tiefsten Inneren der Rosenkreuzermysterien gewisse Geheimnisse dargestellt, wie sie nur wahrgenommen werden konnten von Menschen, die die notwendige Vorbereitung erfahren hatten. Aber wie gesagt in der kleinen Bruderschaft waren es nicht mehr wie zehn; das waren die eigentlich eingeweihten Rosenkreuzer. [12]

Mit dem 16. Jahrhundert fängt die Zeit an, in der sich bereitfinden, sich in das Ich einzelner Individualitäten zu verweben die Abbilder des Christus-Ich. Einer dieser war eben Christian Rosenkreuz. [13] Im Jahre 1459 hat der eigentliche Begründer der Rosenkreuzerströmung selbst jene Stufe erlangt, durch die er die Macht hatte, auf die Welt so zu wirken, daß von ihm aus jene Einweihung der Welt gebracht werden konnte, (die seinen Namen trägt). Seit jener Zeit ist diese Individualität des Christian Rosenkreuz immer wieder dagewesen als Leiter der betreffenden Strömung. Durch Jahrhunderte hindurch führte sie ein Leben «in demselben Leibe». Wir haben diesen Ausdruck «in demselben Leibe» so zu verstehen: Wenn wir den physischen Leib betrachten, so finden wir, daß das, was ihn vor 10 Jahren zusammengesetzt hat, jetzt nicht mehr in dem physischen Leibe ist, aber das Bewußtsein ist dasselbe geblieben. Was wir auf diese Weise zwischen Geburt und Tod durchmachen, das macht der Eingeweihte so durch, daß er, wenn er stirbt, bald darauf in einem neuen Leibe als Kind wiedergeboren wird. Aber diesen Weg macht er vollbewußt durch. Das Bewußtsein bleibt vorhanden von einer Inkarnation zur anderen. Sogar die physische Ähnlichkeit bleibt bei dem Eingeweihten vorhanden, weil die Seele den neuen Leib bewußt aufbaut aus den Erfahrungen der vorhergehenden Inkarnation. In dieser Weise lebte der höchste Leiter der Rosenkreuzerschulung durch Jahrhunderte hindurch. [14]

Als ein «höherer Grad» wird innerhalb dieser ganzen Strömung die Initiation des Manes angesehen, der 1459 auch Christian Rosenkreuz initiierte: sie besteht in der wahren Erkenntnis von der Funktion des Bösen. Diese Initiation muß mit ihren Hintergründen noch für lange vor der Menge ganz verborgen bleiben. Denn wo von ihr auch nur ein ganz kleiner Lichtstrahl in die Literatur eingeflossen ist, da hat er Unheil angerichtet, wie durch den edlen Guyau, dessen Schüler Friedrich Nietzsche geworden ist. [15]

Christian Rosenkreuz fühlte die Mission, für jede Menschenseele, die da oder dort auf irgendeinem Plan im neueren Leben steht, die Möglichkeit zu bieten, daß jede Seele aufsteigen kann in spirituelle Höhen. Daß der Aufstieg in die geistigen Welten vereinbar sei mit jeder anderen Lebensposition, daß es so kommen könne, daß nicht die Menschheit auseinanderfalle in zwei auseinanderstrebende Kategorien, von denen die eine nur der äußeren industriellen, kommerziellen, materiellen Kultur hingegeben wäre und dadurch zwar immer geistreicher, aber doch immer tierischer (die Gruppen-Iche der Tiere überragen den Menschen an Weisheit) und materialistischer geworden wäre, während die andere sich immer mehr und mehr absondern und ein Leben im Sinne von Franz von Assisi führen würde, daß dies nicht geschehe, das sollte die Sorge des Christian Rosenkreuz werden. Diese Möglichkeit mußte geschaffen werden! Und geschaffen wurde sie durch Christian Rosenkreuz, der von der Erde her, allüberall her seine Getreuen gegen das Ende des 16. Jahrhunderts um sich versammelte, um sie teilnehmen zu lassen an dem, was sich zwar äußerlich räumlich vollzieht von Stern zu Stern, aber dennoch vorbereitet wird in den heiligen Mysterienstätten, da wo gewirkt wird innerhalb der Weltenkörper über diese Weltenkörper hinaus zur Weltenkultur, nicht bloß zur Planetenkultur. Um sich versammelte Christian Rosenkreuz die, welche auch versammelt waren bei seiner Initiation im 13. Jahrhundert. [16]

Christian Rosenkreuz stand vor der Tatsache einer Weltanschauung, die selber Maya ist, und er hatte Stellung dazu zu nehmen. Er mußte den Okkultismus retten zu einer Zeit, in der alle wissenschaftlichen Begriffe selbst eine Maya waren. In der Mitte des 16. Jahrhunderts erschien das grundlegende Werk des Kopernikus über die «Umdrehung der Weltkörper». Derjenige, der als Okkultist die Frage aufwirft, wie man mit den modernen Ideen des Kopernikus die Welt begreifen kann, der muß sich sagen: Man kann mit den Ideen des Kopernikus vieles schaffen, was naturwissenschaftlich zu großen Triumphen im äußeren Leben führt, aber nichts begreifen von dem geistigen Untergrund der Welt und der Dinge. Dies rührt davon her, daß alle diese Begriffe und Ideen des Kopernikus von Luzifer inspiriert sind. Denn der Kopernikanismus ist eine der letzten Attacken, der letzten großen Angriffe, die Luzifer auf die menschliche Entwickelung gemacht hat. In der älteren, vorkopernikanischen Weltanschauung hatte man außen die Maya; aber man hatte vielfach in dem, was man verstand, was überliefertes Weisheitsgut war, die Wahrheit der Dinge und der Welt. Seit Kopernikus aber hat der Mensch nicht nur in der sinnlichen Anschauung um sich die Maya, sondern die Begriffe und Ideen sind selbst Maya. Die kopernikanisch-keplerische Weltanschauung ist eine sehr bequeme Weltanschauung, um aber dasjenige zu erklären, was der Makrokosmos ist, ist sie nicht die Wahrheit. Am Ende des 16. Jahrhunderts war an die Rosenkreuzer die Notwendigkeit herangetreten, aus dem Okkultismus heraus das Weltsystem zu begreifen. Es fand daher eine jener Konferenzen statt, wie wir sie schon kennengelernt haben, als nämlich im 13. Jahrhundert Christian Rosenkreuz selbst eingeweiht wurde. Diese okkulte Konferenz der führenden Individualitäten vereinigte Christian Rosenkreuz mit jenen 12 Individualitäten von damals und noch einigen anderen bedeutsamen Individualitäten der Menschheitsführung. Es waren dabei anwesend nicht nur Persönlichkeiten, die auf dem physischen Plan inkarniert waren, sondern auch solche, die sich in den geistigen Welten befanden. So war bei jener Konferenz auch anwesend dieselbe Individualität, die im 6. Jahrhundert vor Chr. verkörpert war als der Gautama Buddha. [17]

Man braucht nur ein wenig den Blick hinzuwenden auf die Eigentümlich­keiten solcher nach dem Geistigen hinstrebenden Menschen wie Franz von Assisi, und solcher, die durch die jetzige Kultur in der Industrie, der Technik und den neueren Entdeckungen der Gegenwart stehen. Es gab viele, auch okkulte Persönlichkeiten, die in der Seele viel Leid erlebten, als sie denken mußten, daß es in der Zukunft zwei Arten von Menschen würde geben müssen. Und zwar glaubten sie, die eine Klasse werde ganz dem praktischen Leben zugewandt sein, sie werde in der Erzeugung von Nahrungsmitteln, im Bauen von Maschinen und so weiter ihr Heil sehen, sie werde ganz aufgehen in dem praktischen Leben. Und die andere Klasse werde diejenige sein, welcher Menschen wie Franz von Assisi angehören, die sich wegen des geistigen Lebens ganz abwenden vom praktischen Leben. Es war daher ein bedeutungsvoller Augenblick, als zur Vorbereitung jener erwähnten Konferenz Christian Rosenkreuz eine Anzahl von Okkultisten, einen größeren Kreis von Menschen zusammenrief, denen er die zwei Arten von Menschen vor Augen stellte, die es in der Zukunft geben müßte. Zuerst berief er einen größeren Kreis, später einen kleineren. Er machte damals seinen Zuhörern klar, daß es auf Erden kein Mittel gebe, um die Bildung dieser zwei Menschenklassen zu verhindern. Hilfe könne nur kommen, wenn eine Art von Erziehung geschaffen würde, die sich nicht abspiele zwischen Geburt und Tod, sondern zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Zwischen Tod und neuer Geburt steht der Mensch in einer gewissen Verbindung mit den anderen Planeten. Der Aufenthalt des Menschen in der Seelenwelt ist eine Zeit, während welcher der Mensch ein Mondbewohner wird. Dann wird er ein Merkurbewohner, dann ein Venusbewohner, dann ein Sonnen-, Mars-, Jupiter-, Saturnbewohner und dann ein Bewohner des weiten Himmels- oder Weltenraumes. Man redet nicht unrichtig, wenn man sagt, daß zwischen zwei Inkarnationen auf der Erde «Verkörperungen» auf anderen Planeten liegen, geistige Verleiblichungen. Der Mensch ist heute noch nicht so weit in seiner Entwickelung, daß er sich in seiner Inkarnation erinnern kann an das, was er erlebt hat zwischen Tod und einer neuen Geburt, aber in der Zukunft wird das möglich sein. Wenn er auch jetzt sich nicht erinnern kann an das, was er zum Beispiel auf dem Mars erlebt hat, so hat er aber doch die Kräfte des Mars in sich, wenn er auch nichts davon weiß. Man kann durchaus sagen: Jetzt bin ich ein Erdenbewohner, aber die Kräfte in mir schließen in sich etwas, was ich mir auf dem Mars angeeignet habe. Woher haben Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno und andere die Fähigkeiten in dieser Inkarnation? Bedenken Sie, daß die Individualität des Kopernikus kurz vorher, 1401–1464, in Nikolaus Cusanus, der ein tiefer Mystiker war, verkörpert war. Wie sind die Kräfte in diese Individualität hineingekommen, die den Kopernikus so ganz anders gemacht haben als den Nikolaus Cusanus? Aus den Kräften des Mars ist das eingeflossen, was ihn dann zu dem Astronomen Kopernikus gemacht hat. So ist es auch bei Galilei, auch er hat die Kräfte vom Mars aufgenommen, die ihm die besondere Konfiguration des modernen Naturdenkers verliehen haben. Auch Giordano Bruno hat seine Kräfte vom Mars mitgebracht, und so ist es mit der ganzen Menschheit. Daß die Menschen so denken wie Kopernikus oder Giordano Bruno, bekommen sie aus den Kräften des Mars, die sie sich zwischen Tod und neuer Geburt aneignen.

Aber daß man solche Kräfte bekommt, rührt davon her, daß der Mars damals anders wirkte als vorher. Die Marskultur, die die Menschen durchleben zwischen Tod und neuer Geburt, hat eine Krise durchgemacht im 15. und 16. Jahrhundert der Erde. So einschneidend, so katastrophal war es im 15. und 16. Jahrhundert auf dem Mars, wie es auf der Erde war zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. [18] Wir blicken also auf eine Dekadenz, auf einen Niedergang der Marskultur. Sie sehen also, daß man im 15. Jahrhundert hat sagen können: das Heil des Mars und damit der Erde hängt davon ab, daß auf dem Mars die niedergehende Kultur wieder einen Impuls nach aufwärts erhält. Die große Aufgabe stand vor dem Rosenkreuzertum, die Frage zu beantworten: Was hat zu geschehen, daß zum Heile der Erde die Marskultur zu einem Aufstieg gelangt? Die Marswesen hätten gar nicht wissen können, was zu ihrem Heile dienen kann, denn nur auf der Erde konnte man wissen, wie es um den Mars stand. Auf dem Mars empfand man den Niedergang gar nicht.

Wohlvorbereitet war diese Konferenz von Christian Rosenkreuz dadurch, daß der intimste Schüler und Freund des Christian Rosenkreuz der im Geistleib lebende Gautama Buddha war. Und bei dieser Konferenz ist verkündet worden, daß die Wesenheit, die einst auf Erden inkarniert war als Gautama Buddha, jetzt, als geistige Wesenheit, wie er war, seitdem er «Buddha» geworden, den Schauplatz seiner Tätigkeit auf den Mars verlegen werde. Und im Jahre 1604 vollbrachte er eine ähnliche Tat für den Mars, wie das Mysterium von Golgatha für die Erde war. Christian Rosenkreuz hatte erkannt, was es für das ganze Weltall bedeuten würde, wenn Buddha dort wirkte, und was des Buddha Lehre vom Nirvana, die Lehre, daß sich der Mensch von der Erde loslösen solle, dort auf dem Mars zu bedeuten hätte. Um die auf das Praktische gerichtete Erdenkultur zu fördern, war die Lehre vom Nirvana ungeeignet. Das zeigte sich am Schüler des Buddha, Franz von Assisi, daß diese Lehre ihre Adepten zu weltfremden Menschen macht. Was aber im Buddhismus nicht geeignet war, um das praktische Leben des Menschen zu fördern zwischen Geburt und Tod, das war von hoher Bedeutung für die Förderung seiner Seele zwischen Tod und neuer Geburt. Das sah Christian Rosenkreuz ein, daß für dasjenige, was auf dem Mars als Läuterung zu geschehen hatte, die Lehre des Buddha das Geeignetste sei. Wie einstmals das göttliche Liebewesen, Christus, auf der Erde weilte in einer Zeit und unter einem Volk, das diesem Liebewesen nicht gerade nahestand, so stieg der Friedensfürst Buddha im 17. Jahrhundert auf den Mars hinauf, wo Krieg und Kampf herrschten, um dort seine Mission zu erfüllen. Dort waren die Seelen vor allem kriegerisch gestimmt. Eine kosmische Opfertat war es, Buddha zu sein auf dem Mars, und man kann es als eine Art von Kreuzigung für den Buddha bezeichnen, daß er sich hineinversetzen ließ in diese kriegerische Umgebung. Seit jener Zeit, in der das Mysterium des Mars sich vollzogen hat durch Gautama Buddha, nimmt der Mensch vom Mars andere Kräfte auf in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt, als früher, zur Zeit des Niederganges der Marskultur. Und nicht nur bringt der Mensch sich ganz andere Kräfte mit vom Mars herein in die neue Geburt, sondern durch den Einfluß, den die geistige Tat des Buddha ausübt, strömen dem Menschen vom Mars auch Kräfte zu, wenn er hier der Meditation obliegt, um in die geistige Welt zu kommen. Wenn der moderne Geistesschüler meditiert in dem von Christian Rosenkreuz angegebenen Sinne, so strömen auch Kräfte herein, die der Buddha als Marserlöser in die Erde hereinschickt. [19]

Christian Rosenkreuz ist eine Individualität, welche wirkt sowohl, wenn sie inkarniert ist, als auch, wenn sie nicht im physischen Leibe verkörpert ist; sie wirkt nicht nur als physische Wesenheit und durch physische Kräfte, sondern vor allem geistig durch höhere Kräfte. Wenn der gewöhnliche Mensch durch den Tod geht, löst sich sein Ätherleib im Weltenall auf. Aber von dem sich auflösenden Ätherleib bleibt immer ein Teil erhalten, und so sind wir durchweg umgeben von Resten der Ätherleiber Verstorbener, zu unserem Heil oder auch zu unserem Schaden. Sie wirken auf uns in gutem oder bösem Sinne, je nachdem wir selbst gut oder böse sind. Umfassende Wirkungen gehen von den Ätherleibern großer Individualitäten in diesem Sinne auf uns aus. So geht vom Ätherleibe des Christian Rosenkreuz eine große Kraft aus, die auf unsere Seele und auf unsern Geist einwirken kann. Es ist unsere Aufgabe, diese Kräfte kennen zu lernen. Und an diese Kräfte appellieren wir als Rosenkreuzer. Im engeren Sinne nahm die rosenkreuzerische Bewegung im 13. Jahrhundert ihren Anfang. Damals wirkten diese Kräfte ungemein stark, und seit diesem Zeitpunkt besteht eine Christian Rosenkreuz-Strömung, die fortan im Geistesleben immer weiter wirkt. Es gibt ein Gesetz, daß etwa alle hundert Jahre dieser geistige Kraftstrom besonders wirksam zum Ausdruck kommen muß. Das zeigt sich jetzt in der theosophischen Bewegung. [20]

Es wurde festgesetzt, daß alle Entdeckungen, die sie machten, 100 Jahre lang als Geheimnis bei den Rosenkreuzern bleiben müßten und daß erst dann, nach 100 Jahren, diese Rosenkreuzer-Offenbarungen der Welt gebracht werden dürften. Nun ist es auch von großer Bedeutung, zu wissen, daß in jedem Jahrhundert die rosenkreuzerische Inspiration so gegeben wird, daß niemals der Träger der Inspiration äußerlich bezeichnet wurde. Nur die höchsten Eingeweihten wußten es. Heute kann zum Beispiel äußerlich nur von solchen Geschehnissen gesprochen werden, welche 100 Jahre zurückliegen. Die Versuchung ist zu groß für die Menschen, einer solchen ins Persönliche gezogene Autorität – was das Schlimmste ist, was es gibt – fanatische Heiligenverehrung entgegenzubringen.

Infolge der Rosenkreuzerarbeit wurde der Ätherleib des Christian Rosenkreuz von Jahrhundert zu Jahrhundert immer kräftiger und immer mächtiger. Er wirkte nicht nur durch Christian Rosenkreuz, sondern auch durch alle, die seine Schüler wurden. Seit dem 14. Jahrhundert ist Christian Rosenkreuz immer wieder inkarniert gewesen.

Der Graf von Saint-Germain ist im 18. Jahrhundert die exoterische Wiederverkörperung von Christian Rosenkreuz gewesen. Nur wurde dieser Name auch anderen Personen beigelegt, so daß nicht alles, was in der äußeren Welt da oder dort über den Grafen von Saint-Germain gesagt wird, auch für den wirklichen Christian Rosenkreuz gelten kann. Heute (1911) ist er wiederverkörpert. [21] Durch seine Persönlichkeit wirkt er bis in die heutige Zeit herein auch in den kurzen Zwischenräumen, in denen er nicht inkarniert ist, ja, spirituell wirkt er in die Menschen durch seine höheren Leiber so herein, daß er nicht mit ihnen im Raume verbunden zu sein braucht. [22] Christian Rosenkreuz hat durch seine Art des Wirkens mehr erduldet und wird in die Zukunft hinein zu erdulden haben, als je ein Mensch. Das hängt zusammen mit den großen Gefahren, welche die Wahrheit in der Zukunft durchzumachen haben wird. [23]

Derjenige, den wir anerkennen als Christian Rosenkreuz, als den Führer der okkulten Bewegung in die Zukunft hinein, und der gewiss nicht seine Autorität durch einen äußeren Kultus in der Welt je entfalten wird, wird am meisten verkannt werden. Und die, welche es wissen, wie es gerade mit dieser Individualität steht, die wissen auch, daß Christian Rosenkreuz der größte Märtyrer unter den Menschen sein wird, abgesehen von dem Christus, der gelitten hat als Gott. Und die Leiden, die ihn zum großen Märtyrer machen werden, werden davon herrühren, daß die Menschen so wenig den Entschluß fassen, in die eigene Seele hineinzusehen, und immer mehr die sich entwickelnde Individualität zu suchen und sich der Unbequemlichkeit zu unterziehen, daß ihnen nicht wie auf einem Präsentierteller die fertige Wahrheit entgegengebracht wird, sondern daß man sie erringen muß in heißem Streben, in heißem Ringen und Suchen, und daß nicht andere Anforderungen gestellt werden können im Namen dessen, den man als Christian Rosenkreuz bezeichnet. [24]

Christian Rosenkreuz lebte danach von 1378 an 106 Jahre, also bis 1484. Er, der hocherleuchtete Vater und das Haupt der Rosenkreuzerbruderschaft, von Nation ein Deutscher, hat sich lange Zeit um eine «Generalreformation» des geistigen Lebens oder der Weltverhältnisse überhaupt bemüht. In großer Jugend noch reiste er in den Orient. Er kam über Cypern nach Damaskus, wollte von dort nach Jerusalem; es fügte sich aber, daß er in Damaskus von den Weisen in Damcar in Arabien reden hörte, und so zog: er dorthin. In Damcar empfingen ihn die Weisen, wie er selbst bezeugt hat, nicht wie einen Fremdling, sondern gleichsam auf den sie lange gewartet hatten, nannten ihn auch mit Namen.

Auch von Paulus hören wir, was vielleicht von Bedeutung ist, daß er nach seinem Erlebnis von Damaskus (nicht nach Jerusalem kam sondern) nach Arabien zog (Gal. 1, 16/17). Was nun Damcar betrifft, so liegt diese Stadt, die heute Damar heißt, im südlichen Arabien, das im Altertum Arabia felix genannt wurde, im heutigen Jemen, und zwar südlich von Sana, also auf der östlichen Seite des Roten Meeres gegenüber dem nördlichen Teil von Abessinien. R. Kienast, in «Johann Valentin Andreae und die vier echten Rosen­kreuzer­schriften», Leipzig 1926, S. 114, macht darauf aufmerksam, daß die Arabia felix aus der Bibel als das Land der Königin von Saba bekannt ist und daß die Legende von dort aus die heiligen drei Könige nach Bethlehem ziehen läßt. Saba oder Arabia felix war auch berühmt ob seines Reichtums an Gold, Weihrauch und Myrrhen, deren bekanntlich auch die drei Könige dem Jesuskinde des Matthäusevangeliums darbrachten. Das Land Saba war eine Stätte alter Sternenweisheit und alten Sternenkultus. Man findet dort aus alter Zeit an steinernen Bildwerken wiederholt das Symbol der liegenden Mondsichel, in welcher die Sonnenscheibe ruht, das heißt also real genommen das Symbol des heiligen Grales!

Nach alledem ist es höchst bedeutungsvoll, daß im Sinne der «Fama» Christian Rosenkreuz gerade nach Damcar gekommen ist, noch dazu unter den eigenartigen, im Text angegebenen Umständen. Er suchte offenbar diejenigen Gegenden auf, in denen uralte Sternenweisheit, wenn auch nur im letzten Nachklang wohl immer noch lebte und von wo einst die drei Könige ausgegangen waren, die aus ihrer geistigen Sternenkunde von der bevorstehenden Geburt des Welterlösers wußten und von Saba dem Kinde die kultischen Gaben: Gold, Weihrauch und Myrrhen mitbrachten.

«Dies ist der Ort», heißt es in der «Fama» weiter, «da er seine Physik und Mathematik geholet, deren sich billig die Welt hätte zu erfreuen, wann die Liebe größer und des Mißgunsts weniger wäre».

Nach drei Jahren kehrte er wieder um und kam von Damcar über Ägypten nach Fez (in Marokko, im Mittelalter einer Stätte blühender Kultur). Nach Fez hatten ihn die Araber gewiesen. Dann wird geschildert, wie die Gelehrten, die Araber und Afrikaner, zusammenwirken, um sich über ihre wissenschaftlichen Fortschritte auf dem Laufenden zu halten. Auch in Fez nimmt Christian Rosenkreuz viel Weisheit auf. Dann kommt er nach Europa, und zwar zunächst nach Spanien: dort aber lehnen ihn die Gelehrten ab, sie wollen nicht Neues. Sie befürchten, ihr großer Name würde geschmälert, so sie erst lernen und ihre vieljährige Irrung bekennen sollten; des Ihren wären sie gewohnt und hätte ihnen auch genug eingetragen.

Nun faßt Christian Rosenkreuz den Gedanken, man sollte auch in Europa eine «Sozietät» (eine Gelehrtengesellschaft) haben: die alles genug von Gold und Edelgestein habe, und es den Königen zu gebührenden propositis mitteilen konnte, bei welchen die Regenten erzogen würden, die alles dasjenige, so Gott dem Menschen zu wissen zugelassen, wüßten und in Notfällen möchten gefragt werden. Hier tritt uns also die rosenkreuzerische Idee einer «Sozietät» entgegen, die alles Wissen und alle Weisheit in sich vereinigen und die ins soziale Leben befruchtend hineinwirken soll. Es ist dies ein hochwichtiger Punkt: wie ein Keim eines Geisteslebens, nicht kirchlicher Prägung, aber auch nicht etwa als Staatseinrichtung, sondern frei menschlich: der Gedanke eines spirituell vertieften Weisheits- und Geisteslebens, das befruchtend im Sinne des Rosenkreuzertums hätte wirken sollen…

Die «Fama» erzählt dann weiter, wie Christian Rosenkreuz wieder nach Deutschland gezogen ist. Dort gründete er nach einigen Jahren die Bruderschaft des Rosenkreuzes. Zuerst sind es 4, später 8 Brüder (also er selbst und erst 3, dann 7). Bis auf einen sind alle Deutsche. (Auch dies ein charakteristischer Zug, da das Rosenkreuzertum im tiefsten Sinne mit der Mission gerade Mitteleuropas zu tun hat.)

Die Brüder ziehen in verschiedene Länder, kommen aber jedes Jahr einmal zusammen; keiner soll einen anderen Beruf ausüben als Kranke zu heilen, und zwar umsonst. Keiner soll eine bestimmte Ordenstracht tragen, „sondern sich der Landestracht bedienen (auch dies ein für das Wirken im fünften nachatlantischen Zeitalter charakteristischer Zug). Jeder Bruder hat einen tauglichen Nachfolger. [25]

Alles, was Zarathustra lehren und der Welt bringen konnte, das zielte auf die äußere Welt ab, um in die äußere Welt Ordnung und Harmonie zu bringen. Daher war auch die Kunst, Reiche zu bilden und zu organisieren, wie es dem Fortgange der Menschheit entspricht, und was die soziale Ordnung möglich macht, die Mission des Zarathustra. Daher können diejenigen, die zu den Schülern des Zarathustra gehören, mit Recht nicht nur große «Magier», große Eingeweihte genannt werden, sondern sie können auch immer «Könige» genannt werden, d.h. solche, welche die Kunst der Herstellung äußerer sozialer Organisation und Ordnung kennen. [26]

In dieser Sphäre der «königlichen» Menschheits-Strömung hat offenbar, so wird man die Sprache der «Fama» verstehen dürfen, Christian Rosenkreuz einen sozialbildnerischen Impuls aufgenommen. Wes Inhalts aber kann dieser sein? Natürlich kann es sich für das fünfte nachatlantische Zeitalter, welches die Rosenkreuzer in einem geistgemäßen Sinne heraufführen wollten, nicht darum handeln, auf irgend welche alten theokratischen Sozialgebilde zurückzugreifen und sie in Europa nachzuahmen. Sondern es kann sich nur darum handeln, im fünften Zeitalter es zu einer zeitgemäßen Metamorphose dieser alten Sozialordnungen zu bringen. Diese gehen ja alle auf den dritten Zeitraum zurück, der sich im fünften in sinngemäßer Wandlung «wiederholen» will. Das Entscheidende ist, daß dabei eine sozial leitende, impulsierende Rolle dem Geistesleben zufallen muß: wie in der alten Zeit der Theokratien, aber nicht dem alten, sondern einem durchaus erneuerten Geistesleben, das nicht aus den alten unpersönlichen Quellen erfließt, sondern aus der in der Bewußtseinsseele frei sich ergreifenden menschlichen Individualität. Indem diese aus einer neuen Spiritualität, einer neuen Verbindung mit den geistigen Welten ihre Impulse schöpft, werden diese produktiv und aufbauend auch für das soziale Leben sein. An ein Geistesleben ist zu denken, das, weil es aus wirklichen spirituellen Quellen erfließt, sozial verantwortlich und schöpferisch wird. Ein solches Geistesleben muß notwendigerweise einen korporativen Charakter tragen, d. h. aus dem freien Zusammenschluß der im Geistesleben stehenden Individualitäten hervorgehen.

Damit sind wir wieder bei dem so tief bedeutsamen Gedanken der «Sozietät» angelangt (vgl. oben) als einer Stätte des Geisteslebens, die befruchtend ins soziale Leben eingreifen soll. (Sie soll ja sogar z.B., wie wir hörten, die Regenten erziehen, d.h. für ihr Amt vorbereiten.) So erscheint dieser «Sozietäts»-Gedanke wie ein erster Keim jener Metamorphose der sozialen Funktion des Geisteslebens vom dritten Zeitalter (der Empfindungsseele) in das fünfte (der Bewußtseinsseele). Nur auf dieser Linie ist die soziale Einrichtung zu suchen, welche die Rosenkreuzer im Sinne der „«Confessio» nach dem Vorbild von Damcar in Europa begründen wollten. —

Von diesen Zusammenhängen aus eröffnet sich ein Verständnis auch noch für ein anderes Phänomen, das diese bedeutsame Zeit um 1600 darbietet. Wir möchten hier kurz hinweisen auf die Sozialutopie des Campanella (1568—1639), seinen «Sonnenstaat». Auch dieser «Sonnenstaat» ist eine ausgesprochene Theokratie, er steht unter einer hierarchischen Führung und weist im einzelnen Elemente auf, die nur als Erinnerungen an alte Zeiten verstanden werden können. Auch hier tauchen alte Kulturimpulse, die noch im dritten nach­atlantischen Zeitalter in vieler Weise lebendig waren, am Beginne des fünften in einer seltsamen Art auf. Es ist, wie wenn diese Zeit, im inneren Zusammenhang mit der großen rosenkreuzerischen Zentralinspiration, um die Metamorphose des Alten ränge. Insofern sind eben solche Utopien doch mehr als nur Erinnerungen an altvergangene Zeiten und alte Initiatenerlebnisse. Im Beginne des fünften nachatlantischen Zeitalters wird es gewissermaßen akut, sich dieser theokratischen Vergangenheit zu „erinnern“. Sich ihrer im rechten Sinne erinnern, würde heißen, den Weg zur rechten Metamorphose finden. Darum geht es. Letzten Endes um die Suche eines modernen, fruchtbaren, ähnlich wie das alte sozial schöpferischen Geisteslebens. Und nun hören wir sogar, daß auch äußere Beziehungen zwischen dem Kreise Johann Valentin Andreaes und Campanella bestanden haben. Den äußeren historischen Nachweis dafür erbringt R. Kienast: er glaubt sogar äußerst wahrscheinlich machen zu können, daß die Veröffentlichung der Rosenkreuzerschriften (nach teilweise zehnjähriger handschriftlicher Verbreitung) unter dem Einflusse der Ideen Campanellas erfolgt sei. Er teilt auch mit, daß ein Freund Johann Valentin Andreaes, Wilhelm von Wense, der auf einer Reise nach Italien um 1615 dort Campanella kennen lernte, nach seiner Rückkehr in Deutschland einen Zusammenschluß ähnlich gerichteter Geister erstrebte und sogar eine Vereinigung «Civitas Solis» (Sonnenstaat) gründete, zu der Andreae die Programmschriften verfaßte! So seltsam spielen die Dinge ineinander, und man kann immer deutlicher den, wie durch die äußeren Tatsachen hindurch­scheinenden, zentralen Inspirationsimpuls erspüren, dessen Licht sich je nach der Beschaffenheit, vielleicht auch der «Trübe» der verschiedenen Persönlichkeiten, durch die er wirkt, in sehr verschiedenen Farben widerspiegelt.

In eben dieser selben Zeit erstand aber auch ein nicht utopischer, sondern wirklicher Staat höchst sonderbarer Gestalt und Wesensart: vom Jahre 1609 ab riefen die Jesuiten unter den Indianern Südamerikas in Paraguay ihr seltsames theokratisches Staatsgebilde ins Leben. [27]

Zitate:

[1]  GA 55, Seite 176   (Ausgabe 1959, 278 Seiten)
[2]  GA 265, Seite 420   (Ausgabe 1987, 521 Seiten)
[3]  GA 99, Seite 10   (Ausgabe 1962, 172 Seiten)
[4]  GA 100, Seite 21   (Ausgabe 1981, 276 Seiten)
[5]  GA 88, Seite 134   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)
[6]  GA 266/1, Seite 117   (Ausgabe 1995, 622 Seiten)
[7]  GA 130, Seite 59ff   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[8]  GA 130, Seite 155   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[9]  GA 130, Seite 61ff   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[10]  GA 130, Seite 64   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[11]  GA 262, Seite 15   (Ausgabe 1967, 355 Seiten)
[12]  GA 93, Seite 58   (Ausgabe 1979, 370 Seiten)
[13]  GA 109, Seite 66   (Ausgabe 1979, 304 Seiten)
[14]  GA 98, Seite 45   (Ausgabe 1983, 272 Seiten)
[15]  GA 262, Seite 15   (Ausgabe 1967, 355 Seiten)
[16]  GA 141, Seite 100f   (Ausgabe 1983, 200 Seiten)
[17]  GA 130, Seite 315f   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[18]  GA 130, Seite 317ff   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[19]  GA 130, Seite 320ff   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[20]  GA 130, Seite 57f   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[21]  GA 130, Seite 66f   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[22]  GA 130, Seite 271   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[23]  GA 130, Seite 311   (Ausgabe 1962, 354 Seiten)
[24]  GA 133, Seite 162f   (Ausgabe 1964, 175 Seiten)
[25]  Hey, Seite 17ff   (Ausgabe 1938, 0 Seiten)
[26]  GA 114, Seite 111f   (Ausgabe 1955, 225 Seiten)
[27]  Hey, Seite 54ff   (Ausgabe 1938, 0 Seiten)

Quellen:

GA 55:  Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit und deren Bedeutung für das heutige Leben (1906/1907)
GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 93:  Die Tempellegende und die Goldene Legende als symbolischer Ausdruck vergangener und zukünftiger Entwickelungsgeheimnisse des Menschen (1904/1906)
GA 98:  Natur- und Geistwesen – ihr Wirken in unserer sichtbaren Welt (1907/1908)
GA 99:  Die Theosophie des Rosenkreuzers (1907)
GA 100:  Menschheitsentwickelung und Christus-Erkenntnis. Theosophie und Rosenkreuzertum – Das Johannes-Evangelium (1907)
GA 109:  Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit (1909)
GA 114:  Das Lukas-Evangelium (1909)
GA 130:  Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit (1911/1912)
GA 133:  Der irdische und der kosmische Mensch (1911/1912)
GA 141:  Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen (1912/1913)
GA 262:  Rudolf Steiner / Marie Steiner-von Sivers: Briefwechsel und Dokumente 1901–1925 (1901-1925)
GA 265:  Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule von 1904 bis 1914 (1906-1924)
GA 266/1:  Aus den Inhalten der esoterischen Stunden. Band I (1904-1909)
Hey:  Karl Heyer: Geschichtsimpulse des Rosenkreuzertums (1938)