Indische Kultur

In der alten indischen Welt konnte man sehr leicht über geistige Dinge reden, man konnte die Menschen hinweisen auf die äußere Welt der physischen Wahrnehmung und doch, sagen wir, eine Maya oder Illusion in ihr sehen, weil die Menschen noch gar nicht so lange diese physischen Wahrnehmungen hatten. Die Seelen im alten Indien sahen zwar nicht mehr die Götter selber, aber noch geistige Tatsachen und niedrigere geistige Wesenheiten. Die hohen geistigen Wesenheiten wurden nur noch von einer kleinen Anzahl von Menschen gesehen, aber es war auch für diese schon jenes ganz lebendige Zusammenleben mit den Göttern verdunkelt. Die Willensimpulse aus der göttlich-geistigen Welt waren schon hingeschwunden. Dafür aber gab es noch die Möglichkeit, wenigstens in besonderen Bewußtseinszuständen einen Einblick in die geistigen Tatsachen zu gewinnen: im Schlafen und in Zwischenzuständen zwischen Wachen und Schlafen. [1] Wir müssen diese erste indische Kultur nicht so auffassen, daß sie sich nur im alten Indien geltend gemacht hat. Dieses indische Volk war damals das tonangebene, das wichtigste, aber die Kultur der ganzen Erde war eine andere und hatte Eigentümlichkeiten, die geprägt waren sozusagen von dem, was die Führer für die alten Inder angaben. Wenn wir nun unsere Seelen betrachten, wie sie dazumal waren, so müssen wir uns zuallererst sagen: Eine solche Erkenntnis, wie die Menschen sie heute haben, die war dazumal noch ganz unmöglich. Also die Menschen waren noch nicht mit einer solchen Innerlichkeit behaftet, wie sie es heute sind. Dafür aber hatten sie ganz andere Fähigkeiten, dafür hatten sie (also früher wir) ein altes dämmerhaftes Hellsehen. [2] Gerade jene Äußerungen dieses ältesten Zeitalters, die uns heute recht spirituell, recht geistig erscheinen, die mißverstehen wir eigentlieh. Wir mißverstehen sie, indem wir glauben, es hätten die Menschen dieser ersten nachatlantischen Kulturperiode die Außenwelt eigentlich übersehen und immer nur auf ein außerhalb der Sinneswelt Befindliches hindeuten wollen. Das war gar nicht der Fall, sondern diese Menschen haben eine gesättigtere Wahrnehmung etwa von einer menschlichen Bewegung oder einem menschlichen Mienenspiele gehabt, oder von der Art und Weise, wie ein junger Mensch durch fünf Jahre hindurch wächst, wie die Blumen die Plastik ihrer Blätter und Blüten entwickeln, wie die Totalkraft eines Tieres entweder in einen Huf oder in eine andere Endigung des Beines sich hineinergießt. Diese Menschen haben ihre Augen hinausgerichtet in die Welt, die wir heute die sinnliche nennen. Aber sie sahen in den sinnlichen Vorgängen Geistiges. Für sie war das, was sich ihren Sinnen in der Sinneswelt darbot, zugleich ein Geistiges. [3]

Da nun die Menschen im ersten nachatlantischen Zeitraum ganz andere Fähigkeiten hatten als später, so mußten sie auch in einer ganz anderen Art unterrichtet werden. Was für uns die Bewußtseinsseele ist, war für den Angehörigen des Urindertums der Ätherleib. Daher hatte er eine ganz andere Art aufzufassen und zu begreifen. Gesprochen wurde zum Beispiel von einem großen Lehrer im alten Indien außerordentlich wenig. Und mehr an der Färbung des Lautes, mehr durch die Art und Weise, wie ein Wort gesprochen wurde, erkannte die andere Seele, was eigentlich da aus der geistigen Welt herausfließt. Das Wort war sozusagen nur das «Anschlagen», das Zeichen, daß eine Beziehung zwischen dem Lehrer und dem anderen da sein soll. Es war das Wort in den ältesten indischen Zeiten nicht viel mehr, als wenn wir mit der Glocke anläuten, um das Zeichen zu geben, daß etwas anfängt. Es war der Kristallisationspunkt, um den sich herumweben undefinierbare, feine geistige Strömungen, die vom Lehrer zum Schüler gehen. Ganz besonders aber kam es darauf an, was der Lehrer in seiner innersten Persönlichkeit war. Weil man im besonderen den Ätherleib ausgebildet hatte, mußte man sich auch in der entsprechenden Art zu dem Ätherleib verhalten, und man verstand das Ungesprochene, das, was irgendein Lehrer war, viel besser als das Gesprochene, denn es ging wie eine Art von Eingebung auf den Schüler über. Aber etwas anderes war für diese großen Lehrer notwendig: Es mußte der Lehrer in der Entwickelung seines eigenen Ätherleibes über dem anderen stehen. Er mußte gleichsam dasjenige vorausnehmen, was die anderen erst in der persischen Kulturepoche in sich aufnehmen konnten. Was die gewöhnlichen Menschen in der persischen Epoche aufnehmen sollten durch den Empfindungsleib, das mußte er herunterbringen in den Ätherleib. Das heißt, der Ätherleib eines solchen Lehrers durfte gar nicht so wirken wie die Ätherleiber der anderen Menschen, er mußte wirken, wie der Empfindungsleib erst in der persischen Kultur gewirkt hat. Wenn ein Hellseher im heutigen Sinne vor einen großen indischen Lehrer hingetreten wäre, würde er gesagt haben: Was ist denn das für ein Ätherleib? – Denn ein solcher Ätherleib hätte ausgesehen wie später ein Astralleib in der persischen Zeit. Das konnte nicht durch irgendeine vorausschreitende Entwickelung in der damaligen Zeit geschehen. Das war nur dadurch möglich, daß tatsächlich eine Wesenheit, die schon um eine Stufe höher war als die anderen, herunterstieg und sich in einem menschlichen Organismus verkörperte, der eigentlich nicht für sie paßte, nicht für sie taugte, in den sie nur hineinzog, um von den anderen verstanden zu werden. [4] Dasjenige, was dazumal, im 6. bis 8. Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung, der Mensch in seinem Bewußtsein hatte, was des Menschen Auffassung der Welt charakterisierte, das ist schwer zu vergleichen mit dem, was jetzt unsere Sinnesanschauung, unsere Gedankenauffassung der Welt charakterisiert. Eigentlich war das Rechnen mit Raum und Zeit, wie es uns eigen ist, dieser alten Bevölkerung gar nicht eigen. Es war im Überschauen der Welt mehr ein Überblick über unermeßliche Raumesweiten, und es war auch ein Ineinanderschauen der verschiedenen Zeitmomente. Dieses starke Betonen von Raum und Zeit in der Weltauffassung, das war in dieser alten Zeit nicht vorhanden. [5] Das ist das Wesentliche der alten indischen Kultur, daß mit fertig ausgebildeten Seelenkräften, mit Seelenkräften, die im höchsten Grade verfeinert waren, der Inder wiederum hineingeht in den Ätherleib, zurückgeht bis zum Ätherleib und in demselben jene wunderbar feinen Kräfte ausbildet, deren späterer Reflex wir in den Veden und in noch verfeinertem Zustande in der Vedanta-Philosophie sehen. Das war alles nur möglich dadurch, daß sich die indische Volksseele bis zu einem hohen Grade entwickelt hatte, bevor das Ich angeschaut, wahrgenommen worden ist, und schon wieder zu einer Zeit, als der Mensch mit den Kräften des Ätherleibes selber sehen konnte. [6]

Zitate:

[1]  GA 118, Seite 20   (Ausgabe 1977, 234 Seiten)
[2]  GA 118, Seite 15   (Ausgabe 1977, 234 Seiten)
[3]  GA 217, Seite 171   (Ausgabe 1988, 206 Seiten)
[4]  GA 116, Seite 17ff   (Ausgabe 1982, 174 Seiten)
[5]  GA 194, Seite 103   (Ausgabe 1983, 254 Seiten)
[6]  GA 121, Seite 171   (Ausgabe 1982, 214 Seiten)

Quellen:

GA 116:  Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins (1909/1910)
GA 118:  Das Ereignis der Christus-Erscheinung in der ätherischen Welt (1910)
GA 121:  Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie (1910)
GA 194:  Die Sendung Michaels. Die Offenbarung der eigentlichen Geheimnisse des Menschenwesens (1919)
GA 217:  Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation. Pädagogischer Jugendkurs (1922)