Zeit

Ist die Zeit anwendbar auf geistige Vorgänge? Gewiß; aber die höchsten geistigen Vorgänge beim Menschen führen zu dem Begriff, daß sie zeitlos verlaufen. Die Tätigkeiten der Hierarchien sind zeitlos. Von Zeit-Entstehen ist schwer zu reden: in dem Worte «entstehen» ist schon der Begriff der Zeit enthalten. Es gäbe keine Zeit, wenn alle Wesen auf gleicher Entwickelungsstufe stehen würden. Durch das Zusammenwirken einer Summe niederer und einer Summe höherer Wesen entsteht Zeit. Im Zeitlosen sind verschiedene Entwickelungsgrade möglich; durch ihr Zusammenspiel wird Zeit möglich. [1]

Wenn wir von Saturn, Sonne und Mond sprechen, und dabei räumliche Vorstellungen zu Hilfe nehmen, so reden wir wirklich nur bildlich, nur in Imaginationen, und wir müssen uns durchaus bewußt sein, daß, wenn wir von diesen drei Welten in Raumesvorstellungen sprechen, diese Raumesvorstellungen so viel zu tun haben mit dem, was da früher sich vollzogen hat, sagen wir, wie die Formen unserer Buchstaben mit dem Sinn des Wortes. Wir dürfen nicht die heutigen Vorstellungen als solche nehmen, sondern müssen sie als Zeichen, als Bilder nehmen für dasjenige, was daraus folgt. Denn der Raum hat nur eine Bedeutung für das, was sich innerhalb des Erdendaseins entwickelt, und die Zeit hat eigentlich erst eine Bedeutung seit der Loslösung des alten Mondes von seiner Sonne. Da erst ist es möglich, von solchen in der Zeit verlaufenden Vorgängen zu sprechen, wie wir heute davon sprechen. Damit aber, daß wir unsere geistigen Vorstellungen im Raum und in der Zeit haben denn nicht wahr, alles Äußerliche, was wir vorstellen, ist im Raum, alles Innerliche, was wir zum Bewußtsein bringen, innerlich aufleben lassen, verläuft in der Zeit –, dadurch sind wir gewissermaßen zwischen Geburt und Tod, aber eben nur zwischen Geburt und Tod, in Raum und Zeit eingeschlossen, wie der Wurm da unten in seiner Erde wohnt. Raum und Zeit grenzen uns ebenso ein, wie diesen Wurm die Erdensubstanz eingrenzt. [2] Der Fundamentalbegriff ist (eigentlich) die Geschwindigkeit; sie ist das, worauf es ankommt. Wir dürfen nicht glauben, daß wir mit Raum und Zeit irgend etwas besonders Reales haben, sondern was real ist in den Dingen, das ist die Geschwindigkeit, nicht die Zeit. Die Zeit ist wiederum erst abstrahiert von dem Begriff der Geschwindigkeit. Blicken wir auf die verschiedenen Geschwindigkeiten und wollen sie auf ein Gemeinsames reduzieren, so bekommen wir den Begriff der Zeit. Dieser ist eine Abstraktion. [3]

Es würde schwer sein (in dem Weltwerden) vor den Saturn zurückzugehen, weil nämlich erst mit dem Saturn das beginnt, was wir Zeit nennen. Vor dem Saturn gab es keine Zeit, da gab es nur Ewigkeit, Dauer. Da war alles gleichzeitig. Daß die Vorgänge einander folgen, das trat erst mit dem Saturn ein. (Vorher) ist selige Ruhe in der Dauer. [4] Durch das Opfer, das die Throne den Cherubim bringen (siehe: Saturnentwickelung) wird die Zeit geboren. – Aber die Zeit ist jetzt nicht jene abstrakte Zeit, von der wir gewöhnlich sprechen, sondern sie ist selbständige Wesenheit. Die Zeit beginnt mit dem, was da zunächst als Zeitwesenheiten geboren wird, die nichts sind als lauter Zeit. Es werden Wesenheiten geboren, die nur aus Zeit bestehen; das sind die Geister der Persönlichkeit, die wir dann als Archai kennenlernen. Wir haben sie auch beschrieben als Zeitgeister, als Geister, welche die Zeit regeln. Aber die da geboren werden als Geister, sind wirklich Wesenheiten, die überhaupt nur aus Zeit bestehen. [5]

Wenn wir (mit der Zeit) etwas auf der Erde feststellen, wenn wir mit noch so genauen Präzisionsinstrumenten rechnen, von dem Himmel aus angesehen ist es immer um ein paar Tage falsch, weil die Himmelszeit anders als die Erdenzeit verläuft. Die Erdenzeit suchen wir möglichst gleichmäßig verlaufen zu lassen. Das ist gar nicht der Fall mit der Himmelszeit, die schneller und langsamer verläuft, weil sie in sich lebendig ist. [6]

Indem Sie den überschaubaren Raum in die Fläche bringen, setzen Sie dasjenige, was hintereinander ist, nebeneinander. Sie haben wiederum instinktiv die Fähigkeit, das, was Sie so malerisch oder zeichnerisch auf einer Fläche sehen, gewissermaßen in das Räumliche umzusetzen. Daß Sie diese Fähigkeit haben, das rührt davon her, daß der Mensch, so wie er jetzt einmal als Erdenmensch ist, sich von dem Raume als solchem verhältnismäßig stark losgelöst hat. Nicht in gleicher Weise hat sich der Mensch von der Zeit losgelöst. Aber das ist etwas kaum von der Wissenschaft Bemerktes. Der Mensch glaubt, wenn er sich in der Zeit entwickelt, die Zeit zu überschauen, die Zeit zu haben. Aber er hat in Wirklichkeit nicht die reale Zeit, sondern das, was Sie als Zeit erleben, das ist eigentlich im Verhältnis zu der wirklichen Zeit etwas, was man ein Abbild nennen kann. So wie sich ein Bild in der Fläche sich zu dem (dargestellten) Raume verhält, so verhält sich das, was der gewöhnliche Mensch Zeit nennt, zu der wirklichen Zeit. Sie können sich zum Beispiel außerordentlich schwer vorstellen, daß dasjenige, was heute wirkt, gar nicht im jetzigen Zeitpunkt vorhanden zu sein braucht, sondern in einem viel früheren Zeitpunkte real ist und im heutigen Zeitpunkte nicht real ist. Sie sehen gleichsam dasjenige, was in sehr frühem Zeitraume vorhanden ist, perspektivisch in Ihre eigene Zeit hereinwirken. Das hat nämlich eine sehr bedeutsame Folge, daß nämlich alles das, was wir Natur nennen, einen ganz anderen Charakter trägt als alles dasjenige, was wir als einen gewissen Teil des Menschen selbst betrachten müssen. In der Natur draußen wirkt zum Beispiel auch Ahriman, beziehungsweise es wirken die ahrimanischen Mächte; aber die ahrimanischen Mächte wirken in der Natur draußen niemals gegenwärtig. Wenn Sie die gesamte Natur überschauen, so wirkt schon Ahriman in der Natur, aber er wirkt von einer entfernten Zeit her. Von der Vergangenheit her wirkt Ahriman. Eine Grundforderung für ein reales Schauen in der geistigen Welt ist dieses, daß man zeitlich perspektivisch sehen lernt, daß man lernt, zeitlich jegliches Wesen an seinen richtigen Zeitpunkt zu setzen. [7] Nun ist das, was ich Ihnen mit Bezug auf die ahrimanischen Mächte gesagt habe, daß sie von der Vergangenheit her wirken, für die Natur so richtig. Aber beim Menschen wird es gerade anders. Beim Menschen wird es eben, während er hier zwischen Geburt und Tod lebt, dadurch anders, daß für ihn alles in der Zeit Ablaufende eben zur Maya, zur Täuschung wird. Der Mensch lebt, während er hier lebt, selber im Laufe der Zeit drinnen, und indem er eine gewisse Anzahl von Jahren durchlebt, durchlebt er den Zeitenlauf mit. Indem die Zeit abläuft, läuft er selber mit der Zeit ab. Das ist mit dem Raume nicht der Fall. Wenn Sie eine Allee entlanggehen, bleiben die Bäume zurück und Sie schreiten vorwärts, und Sie nehmen die Bäume, die zurückgeblieben sind, also auch Ihre Eindrücke, nicht so mit, daß Sie, indem Sie einen Schritt machen würden, die Meinung hätten, es ginge das Baumbild mit Ihnen mit. Mit dem Zeitbilde machen Sie das. Sie merken die Perspektive der Zeit nicht. Und insbesondere merkt es nicht das Unterbewußtsein des Menschen. Das hat nun zur Folge, daß nun in demjenigen, was im Menschen geschieht, ahrimanische Mächte als gegenwärtige Mächte wirken können. Durch den Menschen gewinnen die ahrimanischen Mächte die Möglichkeit in die Gegenwart hereinzukriechen, in die Gegenwart hereinzuwandeln. Die Folge davon ist, daß der Mensch in seinem tiefsten Seelischen in bezug auf den eben auseinandergesetzten Punkt sich nicht verwandt mit der Natur fühlen kann. Weil in ihm ahrimanische Mächte Gegenwartsmächte sind, in der Natur ahrimanische Mächte Vergangenheitsmächte sind, erscheint ihm alles dasjenige, was naturgemäß ist, anders als dasjenige, was sich in ihm selbst entwickelt. [8]

Die Zeit ist Täuschung, das ist eine schwerwiegende Wahrheit, weil die Zeit als Täuschung vielen anderen Täuschungen des Lebens zugrunde liegt. Das Vergangensein ist nur eine Täuschung. Es hängt viel davon ab, daß man gegenüber der geistigen Wirklichkeit gerade den perspektivischen Charakter der Zeit kennenlernt. [9] Heute schon (zum Beispiel) ist der 6. Zeitraum (also die Zukunft) zu finden in der astralischen Welt, der 7. in der himmlischen Welt (dem Devachan). [10]

Im gewöhnlichen Leben stellt man sich die Zeit vor, wie eine von der vergangenen Unendlichkeit durch die Gegenwart in die Zukunft hineinlaufende Linie, ein dickes Seil, denn sie enthält alles, was man überhaupt wahrnimmt in der Welt, zugleich in jedem einzelnen Augenblick der Gegenwart. Man stellt sie sich so vor, wenn man überhaupt sich etwas vorstellt. Geistig angesehen, ist die Sache nicht so, sondern der ganze Faden, der kann zu einem Knäuel verwickelt werden. In diesem Knäuel ist die ganze Zeitlinie drinnen. Und wenn sie sich für irgendeine Evolution verknäuelt, diese Zeit, dann kann der Knäuel eben in einem Menschen leben; (beispielsweise) lebte bei der heiligen Theresia eine verknäuelte Zeit in dem irdischen Leben (siehe: Pastoralmedizin). Das ist eigentlich das Mysterium, daß Dinge, die sonst in dem Karma weit auseinanderrücken, zusammengeschoben werden. [11]

Zitate:

[1]  GA 110, Seite 176   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)
[2]  GA 162, Seite 244f   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[3]  GA 164, Seite 258   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)
[4]  GA 104, Seite 60f   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[5]  GA 132, Seite 19   (Ausgabe 1979, 102 Seiten)
[6]  GA 226, Seite 105   (Ausgabe 1978, 140 Seiten)
[7]  GA 183, Seite 163ff   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[8]  GA 183, Seite 166ff   (Ausgabe 1967, 195 Seiten)
[9]  GA 184, Seite 72   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[10]  GA 104, Seite 166   (Ausgabe 1979, 284 Seiten)
[11]  GA 318, Seite 44f   (Ausgabe 1984, 200 Seiten)

Quellen:

GA 104:  Die Apokalypse des Johannes (1908)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 132:  Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen (1911)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)
GA 183:  Die Wissenschaft vom Werden des Menschen (1918)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 226:  Menschenwesen, Menschenschicksal und Welt-Entwickelung (1923)
GA 318:  Das Zusammenwirken von Ärzten und Seelsorgern. Pastoral-Medizinischer Kurs (1924)