Hellseher

Das spirituelle Sehen haben nur wenige Menschen in unserem Zeitalter. Später werden es mehr Menschen sein. Diejenigen Menschen haben es, welche es sich durch frühere Verkörperungen erworben haben, indem sie ein reines, mentales Leben geführt haben, diejenigen, welche auf dem Gebiete des Denkens die Wege des reinen, kristallklaren Erkennens der Welt gesucht haben. Derjenige Mensch, für den das Verfolgen der reinen moralischen Tat so selbstverständlich war, wie für den gewöhnlichen Menschen das Verfolgen seiner alltäglichen Beschäftigungen, Vergnügungen, Leidenschaften und Triebe, derjenige, für den das Leben in reinen Gedanken selbstverständlich war, der bringt dann im nächsten Leben die Fähigkeit mit, diese Dinge, denen er sich in den früheren Leben hingegeben hat, so um sich zu sehen, wie andere Menschen die physischen Dinge sehen. Er durchschaut die Welt, er blickt gleichsam von oben her nicht nur in die physische Welt hinein, sondern auch in diejenige, welche ich als die astrale Welt beschrieben habe. Er kann diese beschreiben, in großen Zügen allerdings, Teile des psychischen Schauens sind das, was wir durch Hypnotismus und Magnetismus haben. Teil des psychischen Schauens ist auch das somnambule Schauen. [1]

Wir können also genau eine erste Stufe der okkulten Entwickelung des Menschen unterscheiden, auf welcher der Mensch abwechselnd leben kann in seinem gewöhnlichen Bewußtsein, wo er sieht und hört und denkt wie andere Menschen mit normalem Bewußtsein, und in dem anderen Bewußtseinszustand, den er in gewisser Weise auch willkürlich herbeiführen kann, in welchem er wahrnimmt, was in der geistigen Welt der dritten Hierarchie um ihn herum ist. Und dann kann er, wie man sich an einen Traum erinnert, sich, wenn er in seinem gewöhnlichen Bewußtseinszustand ist, an das erinnern, was er in dem anderen, in dem hellseherischen Zustand erlebt hat, und er kann davon erzählen, er kann das umsetzen in gewöhnliche Begriffe und Ideen, was er im hellseherischen Zustand erlebt. Wenn also ein solcher Hellseher in seinem gewöhnlichen Bewußtseinszustand ist und selber etwas wissen will von der geistigen Welt oder aber erzählen will von ihr, dann muß er sich erinnern an das, was er in seinem anderen, hellseherischen Bewußtseinszustand erlebt hat. Ein Hellseher, der auf dieser Stufe der Entwickelung steht, kann nur etwas wissen von jenen geistigen Wesenheiten, die wir bisher beschrieben haben als die Wesenheiten der dritten Hierarchie und ihre Nachkommen. Er weiß zunächst nichts von noch höheren Welten. Wenn er etwas wissen will von noch höheren Welten, dann muß er auch eine höhere Stufe der Hellsichtigkeit erreichen. Wenn der Mensch also seine Übungen fortsetzt, dann kommt er zu einer höheren Stufe der Hellsichtigkeit. Sie besteht darin, daß der Mensch dann nicht nur zwei wechselnde Zustände hat, einen gewöhnlichen normalen Bewußtseinszustand und einen hellsichtigen, und sich also an die hellseherischen Erlebnisse in dem gewöhnlichen Bewußtseins-zustand erinnern kann, sondern es kann dann der Mensch, wenn er diese höhere Stufe der Hellsichtigkeit erreicht hat, geistige Welten, geistige Wesenheiten und geistige Tatsachen auch wahrnehmen, wenn er in seinem gewöhnlichen Bewußtseinszustand ist und durch seine Augen auf die Dinge der Außenwelt schaut Er kann sozusagen dann die Hellsichtigkeit hereintragen in seinen gewöhnlichen Bewußtseinszustand und er kann hinter den Wesenheiten, die ihn in der Außenwelt umgeben, überall die wie hinter einem Schleier verborgenen tieferen geistigen Wesenheiten und Kräfte sehen. Wenn der Mensch erst zu der ersten Stufe des Hellsehens aufgestiegen ist, kann er nur seinen astralischen Leib benutzen, um in die Welt hineinzuschauen. Der Leib also, dessen sich der Mensch bedient, um in die geistige Welt hineinzuschauen auf der ersten Stufe der Hellsichtigkeit, das ist der astralische Leib. Auf der zweiten Stufe der Hellsichtigkeit, welche eben jetzt beschrieben worden ist, kann sich der Mensch bedienen lernen seines ätherischen Leibes. Dadurch kann er auch in dem gewöhnlichen normalen Bewußtsein hineinschauen in eine geistige Welt. Wenn der Mensch so lernt, seinen ätherischen Leib als ein Werkzeug für seine Hellsichtigkeit zu benutzen, dann lernt er allmählich alles das in der geistigen Welt erkennen, was zu den Wesenheiten der zweiten Hierarchie gehört. Nun aber darf der Mensch nicht stehenbleiben dabei, nur sozusagen seinen eigenen ätherischen Leib wahrzunehmen, sondern wenn er zu dieser zweiten Stufe der Hellsichtigkeitaufsteigt, macht er eine ganz bestimmte Erfahrung. Er macht nämlich die Erfahrung, daß er wie aus sich selber herausgeht, daß er sich gleichsam nicht mehr in seiner Haut eingeschlossen fühlt. Wenn er, sagen wir, einer Pflanze, einem Tiere gegenübersteht oder auch einem anderen Menschen, dann fühlt er, wie wenn ein Stück von ihm selber in dieser anderen Wesenheit drinnen wäre. Wie untergetaucht in die andere Wesenheit fühlt er sich. Im normalen Bewußtsein und wenn wir auf der ersten Stufe des Hellsehens stehen, dann können wir noch in einer gewissen Weise sagen: Ich bin hier, das Wesen, welches ich sehe, ist dort. – So können wir auf der zweiten Stufe des Hellsehens nicht mehr sagen, sondern da können wir nur sagen: Wo das Wesen; ist, das wir wahrnehmen, da sind wir selber. – Wir sind gleichsam so, daß wir unseren eigenen Ätherleib wie Fangarme nach allen Seiten ausstrecken und uns hineinsaugen in die Wesenheiten, in die wir, also wahrnehmend, unser eigenes Wesen untertauchen. Es gibt im gewöhnlichen normalen Bewußtsein ein Gefühl, welches uns eine Vorstellung davon geben kann, was der Hellseher auf dieser zweiten Stufe der Hellsichtigkeit erlebt, nur ist das, was der Hellseher da erlebt, unendlich viel intensiver und nicht nur ein Gefühl, sondern steigert sich bis zur Wahrnehmung, bis zum Verstehen, bis zum Untertauchen. Das Gefühl des normalen Bewußtseins, das sich mit diesem Erlebnis des Hellsehers auf der zweiten Stufe der Hellsichtigkeit vergleichen läßt, ist nämlich das Mitleid, ist die Liebe. Was bedeutet es denn, wenn wir im gewöhnlichen Leben Mitleid und Liebe empfinden? Man findet, daß Mitleid und Liebe uns dahin bringen, von uns selber loszukommen und uns in das andere Wesen hinüberzuleben. [2] So wie wir untertauchen können mit dem normalen Bewußtsein durch Mitleid und Liebe in Leiden und Freuden bewußter Wesen, so lernt der Hellseher auf der zweiten Stufe der Hellsichtigkeit unterzutauchen nicht nur in alles Bewußte, das leiden und sich freuen kann auf eine menschliche oder menschenähnliche Art, sondern ein solcher Hellseher lernt unterzutauchen in alles Lebendige. Wohlgemerkt, ich sage: in alles Lebendige. Denn auf dieser zweiten Stufe der Hellsichtigkeit lernt man nur unterzutauchen in alles Lebendige, noch nicht in das, was uns unlebendig, tot erscheint, was uns als ein Mineralisches umgibt. Aber mit diesem Untertauchen in das Lebendige ist verbunden ein Anschauen dessen, was im Innern der Wesenheiten vorgeht. Wir selbst fühlen uns da drinnen in den lebendigen Wesenheiten, wir lernen leben mit den Pflanzen, mit den Tieren, leben mit den anderen Menschen auf dieser zweiten Stufe der Hellsichtigkeit. Aber nicht nur das. Wir lernen auch hinter all dem, was da lebt, eine höhere geistige Welt kennen, eben mit den Wesenheiten der zweiten Hierarchie. Bei den Wesenheiten der zweiten Hierarchie, da erfahren wir, indem wir in sie untertauchen, daß nicht nur ihre Wahrnehmung eine Offenbarung ihres Wesens ist, daß sie nicht nur ihr eigenes Wesen offenbaren, sondern daß diese Offenbarung ihres eigenen Wesens erhalten bleibt als etwas Selbständiges, was sich absondert von diesen Wesenheiten selbst. Sie offenbaren nicht nur ihr Selbst, wie die Wesenheiten der dritten Hierarchie, sondern sie sondern dieses Wesen von sich ab, so daß es erhalten bleibt als eine selbständige Wesenheit. [3]

Wir wissen auf dieser zweiten Stufe der Hellsichtigkeit in jedem Augenblick, in dem wir uns eins wissen mit den anderen Wesenheiten noch, daß wir auch da sind, daß wir gleichsam neben den anderen Wesen da sind. Auch dieser letzte Rest von egoistischem Erleben muß aufhören, wenn die dritte Stufe der Hellsichtigkeit erstiegen werden soll. Da müssen wir ganz die Empfindung verlieren, als ob wir an irgendeinem Punkt der Welt als besondere Wesen vorhanden wären. Wir müssen dahin kommen, daß wir nicht nur uns ausgießen in die fremden Wesenheiten und nebenbei stehen mit unserem eigenen Erleben, sondern wir müssen die fremden Wesenheiten eigentlich als unser Selbst empfinden, müssen ganz aus uns herausgehen und das Gefühl verlieren, daß wir neben den fremden Wesenheiten stehen. Wenn wir dann so untertauchen in die fremden Wesenheiten, dann kommen wir dazu, uns selbst, wie wir vorher waren, wie wir im gewöhnlichen Leben sind, als fremde Wesenheit anzuschauen. Sagen wir zum Beispiel, wir tauchen so auf der dritten Stufe der Hellsichtigkeit in irgendein Wesen der Naturreiche unter, dann schauen wir nicht von uns aus auf dieses Wesen, wir tauchen nicht bloß unter wie auf der zweiten Stufe der Hellsichtigkeit, sondern wir wissen uns eins mit diesem Wesen und schauen zurück von diesem Wesen auf uns selbst. Wie wir sonst das fremde Wesen außer uns anschauen, so schauen wir jetzt auf der dritten Stufe der Hellsichtigkeit von dem fremden Wesen aus uns selber als ein fremdes Wesen an. Das ist der Unterschied zwischen der dritten Stufe und der zweiten Stufe. Erst wenn diese dritte Stufe erreicht ist, dann kommen wir dahin, außer den schon charakterisierten Wesenheiten der dritten und der zweiten Hierarchie noch andere Wesenheiten in unserer geistigen Umgebung wahrzunehmen. Geister des Willens oder, wie die abendländische Esoterik sagt, die Throne. Wir nehmen dann solche Weisheit, die nun nicht gesammelt ist in Jahrzehnten, wie die Weisheit hervorragender Menschen, sondern solche Weisheit, die in Jahrtausenden, in Jahrmillionen des Weltenwerdens gesammelt ist, die strömt uns entgegen in erhabener Macht aus den Wesenheiten, die wir Cherubim nennen. [4] Diese Wesenheiten der zweiten Hierarchie können so etwas wie ein Abbild von sich schaffen, das aber bleibt mit ihnen verbunden, und es kann sich nicht von ihnen trennen. Es bleibt in einer gewissen Weise mit ihnen verbunden. Bei den Wesenheiten der ersten Hierarchie ist es so, daß sie sich auch selbst objektivieren, daß sie ihr eigenes Wesen abprägen, absondern wie in einer Haut, in einer Schale, die aber ein Abdruck ihres eigenen Wesens ist. Das sondert sich jetzt von ihnen ab und bleibt in der Welt vorhanden, auch wenn sie sich davon trennen. Sie tragen also ihre Schöpfung nicht mit sich herum, sondern diese Schöpfung bleibt, auch wenn sie von ihr weggehen. Bei der ersten Hierarchie, die da besteht aus den Thronen, Cherubim und Seraphim, da haben wir ein solches Schaffen, daß das Geschaffene abgesondert wird, da haben wir statt des Selbstschaffens Weltschaffen. Im Schaffen, im Selbständigmachen von Wesenheiten liegt für diese Wesenheiten der ersten Hierarchie ihr innerer Bewußtseinszustand, ihr inneres Erleben. [5]

Zitate:

[1]  GA 88, Seite 36ff   (Ausgabe 1999, 256 Seiten)
[2]  GA 136, Seite 67ff   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)
[3]  GA 136, Seite 70f   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)
[4]  GA 136, Seite 78ff   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)
[5]  GA 136, Seite 83f   (Ausgabe 1984, 246 Seiten)

Quellen:

GA 88:  Über die astrale Welt und das Devachan (1903-1904)
GA 136:  Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen (1912)