Raum

Derjenige, der als Okkultist unsere Welt kennenlernt, weiß, daß der Raum noch etwas ganz anderes ist für die physische Welt als eine bloße Leerheit. Der Raum ist die Quelle, aus der sich alle Wesen gleichsam physisch herauskristallisiert haben. [1] Nicht endlose Leere ist der Raum, sondern der Raum ist ursprünglich Geist. Und wir selbst sind verdichteter Raum, herausgeboren aus dem Raum. Wenn alle Dinge wiederum aufgelöst würden, so wäre scheinbar eine endlose Leere um uns. Aber diese scheinbare Leere enthielt alles, was dagewesen ist. [2]

So etwas, was die Mathematik als Raum annimmt, gibt es überhaupt nirgends, sondern überallhin sind Kräftelinien, Kräfterichtungen, und diese Kräfterichtungen sind nicht gleich, sie sind untereinander verschieden, sie sind differenziert. [3]

Am meisten kosmisch ist in uns die mathematische Region. Diese mathematische Region gehört uns nicht einmal bloß als ruhendem Menschen an, sondern als herumgehendem Menschen. Wir bewegen uns ja immer irgendwie in mathematischen Figuren. Wenn wir das äußerlich ansehen an einem herumgehenden Menschen, so sehen wir etwas Räumliches; wenn wir es innerlich erleben, erleben wir die uns innerliche Mathematik, die eine kosmische ist, nur daß das Kosmische uns auch aufbaut. Die Raumesrichtungen, die wir draußen haben, die bauen uns auch auf und in uns erleben wir sie. Und indem wir sie erleben, abstrahieren wir sie, nehmen die Bilder, die sich im Gehirn spiegeln und verweben sie mit dem, was sich äußerlich räumlich in der Welt uns zeigt. Es ist schon notwendig, daß heute aufmerksam darauf gemacht wird, daß eigentlich dasjenige, was der Mensch mathematisierend in die Welt hineinlegt, dasselbe ist, was ihn aufbaut, was also kosmischer Natur ist. Denn durch den unsinnigen Kantianismus ist der Raum bloß zu einer subjektiven Form gemacht worden. Er ist nicht eine subjektive Form, er ist etwas, was wir gerade nun in derselben Region real erleben, wo wir das Willensmäßige erleben. Und da scheint es herauf. Da wird das Heraufscheinen zur Welt etwas, mit dem wir dann durchdringen dasjenige, was sich äußerlich darbietet. [4]

Der Raum ist nicht ein beliebiges Nebeneinander, sondern nach allen Seiten hin so organisiert, daß die Richtungen verschiedenen Wert haben. [5] Den Raum selber muß man sich aber, okkult gedacht, auch als etwas schaffend Erzeugtes vorstellen. Diese Erschaffung liegt vor den Arbeiten und Wirkungen der höchsten Hierarchien; wir werden den Raum also voraussetzen dürfen. Nicht räumlich vorstellen aber dürfen wir uns die höchste Trinität, denn der Raum ist ihr Erzeugnis. Die geistigen Wesenheiten haben wir uns ohne Raum vorzustellen; der Raum ist etwas Geschaffenes. Aber die Wirkungen der Hierarchien in unserer Welt sind räumlich begrenzt, wie die der Menschen. Das, was innerhalb des Raumes sich bewegt, sind die anderen Hierarchien. [6] Das Frühere und Spätere (auf der alten Sonne) verwandelt sich und wird so, daß es sich verwandelt in Inneres und Äußeres. Der «Raum» ist geboren. Durch die schenkende Tugend der Geister der Weisheit, der Kyriotetes entsteht der Raum auf der alten Sonne. Vorher kann Raum nur eine bildliche Bedeutung haben. Jetzt haben wir den Raum, aber zunächst nur in zwei Dimensionen: Äußeres und Inneres. – In Wirklichkeit treten diese beiden Gegensätze schon gegen Ende des alten Saturn auf, aber sie wiederholen sich in ihrer eigentlichen Bedeutung, als raumschaffend auf der alten Sonne. [7]

Die physische Wissenschaft spricht von einer Bewegung der Sonne. Sie kann das, denn man kann ja innerhalb des Raumbildes, das uns als Kosmos umgibt, an gewissen Erscheinungen sehen, daß die Sonne in Bewegung ist. Aber es ist eben nur das in den Raum hereinragende Abbild der Sonnenbewegung. Und wenn man von der wirklichen Sonne spricht, so ist es einfach ein Unsinn, zu sagen, die Sonne bewegt sich im Raume, weil der Raum von der Sonne ausgestrahlt wird. Die Sonne strahlt nicht nur das Licht aus, die Sonne macht auch den Raum. Und die Bewegung der Sonne selber ist nur innerhalb des Raumes eine räumliche; außerhalb des Raumes ist sie eine zeitliche. Das, was da von der Sonne erscheint, daß sie dem Sternbilde des Herkules zueilt –, das ist nur ein Abbild einer zeitlichen Entwickelung des Sonnenwesens. [8] Der Raum hat nur eine Bedeutung für das, was sich innerhalb des Erdendaseins entwickelt. [9]

Wenn Sie einen Bergkristall betrachten, so sehen Sie zunächst den Raum, der physisch ausgefüllt ist; hellseherisch sehen Sie die physische Form umgeben vom Lichte des Ätherleibes und dann wie eingebohrt allerlei Strahlengebilde, die sich nach allen Seiten hin unendlich hinauserstrecken in den Raum. Hier wird Ihnen der Blick erweitert von jedem Punkte des Raumes, der von irgendeiner mineralischen Substanz erfüllt ist, in das Unendliche hinaus. Kein Punkt des Raumes, der außer Zusammenhang mit dem Weltall wäre. [10]

In dem Augenblick, wo Sie an den Raum denken – auch nur in der Abstraktheit, wie die Gegenwart an den Raum denkt –, in dem Augenblicke, wo Ihr Geist sich mit dem Raumgedanken erfüllt, stecken Sie mit Ihrer Seele in einer geistigen Region drinnen, wo Ahriman einen mächtigen Kampf kämpft gegen andersgeartete Hierarchien. [11]

Wir müssen uns sagen: Unser Raum, der uns um uns herum erscheint und der gewissermaßen das Gefäß ist für unsere physikalische Wirkung, der muß innig verbunden sein mit unseren physikalischen Wirkungen. Er muß etwas darstellen, was in diesen physikalischen Wirkungen drinnen ist. Aber indem wir vom Ponderablen ins Imponderable übergehen, zerreißt der Raum, und wenn er zerreißt, dann kommt durch den Riß herüber dasjenige, was nicht da ist, bevor er zerrissen ist. Wenn ich hier in meinen Finger schneide, kommt Blut heraus, das bleibt im dreidimensionalen Raum. Wenn ich aber den Raum selber zerschneide, kommt das heraus, was schon im Unräumlichen ist. In dem Augenblick, wo der Blitz erscheint, der Raum zerreißt, und dasjenige, was den Raum intensiv undimensional erfüllt, das tritt heraus, wie, wenn ich mich schneide, das Blut herausdringt. Das ist aber der Fall jedesmal, wenn Licht in Begleitung von Wärme erscheint: Der Raum zerreißt, der Raum enthüllt uns dasjenige, was in seinem Inneren ist, während er uns in seinen gewöhnlichen drei Dimensionen, die wir vor uns haben, nur seine Außenseite zeigt. Der Raum führt uns in sein Inneres. [12] (Siehe auch: Blitz).

Zitate:

[1]  GA 284, Seite 77   (Ausgabe 1993, 208 Seiten)
[2]  GA 284, Seite 83   (Ausgabe 1993, 208 Seiten)
[3]  GA 201, Seite 73   (Ausgabe 1987, 286 Seiten)
[4]  GA 205, Seite 149   (Ausgabe 1967, 247 Seiten)
[5]  GA 212, Seite 140   (Ausgabe 1978, 178 Seiten)
[6]  GA 110, Seite 176   (Ausgabe 1981, 198 Seiten)
[7]  GA 132, Seite 35   (Ausgabe 1979, 102 Seiten)
[8]  GA 236, Seite 249   (Ausgabe 1988, 310 Seiten)
[9]  GA 162, Seite 245   (Ausgabe 1985, 292 Seiten)
[10]  GA 105, Seite 54f   (Ausgabe 1983, 208 Seiten)
[11]  GA 184, Seite 160f   (Ausgabe 1968, 334 Seiten)
[12]  GA 321, Seite 209f   (Ausgabe 1982, 240 Seiten)

Quellen:

GA 105:  Welt, Erde und Mensch, deren Wesen und Entwickelung sowie ihre Spiegelung in dem Zusammenhang zwischen ägyptischem Mythos und gegenwärtiger Kultur (1908)
GA 110:  Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt. Tierkreis, Planeten, Kosmos (1909)
GA 132:  Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen (1911)
GA 162:  Kunst- und Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1915)
GA 184:  Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben. Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit (1918)
GA 201:  Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Der Mensch – eine Hieroglyphe des Weltenalls (1920)
GA 205:  Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Erster Teil:. Der Mensch als leiblich-seelische Wesenheit in seinem Verhältnis zur Welt (1921)
GA 212:  Menschliches Seelenleben und Geistesstreben im Zusammenhange mit Welt- und Erdentwickelung (1922)
GA 236:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Zweiter Band (1924)
GA 284:  Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen (1907)
GA 321:  Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwickelung der Physik, II. Zweiter naturwissenschaftlicher Kurs: Die Wärme auf der Grenze positiver und negativer Materialität (1920)