Christus Leben
► Mysterium von Golgatha

Anders in seinem inneren Wesen, aber ähnlich in der äußeren Erscheinung (wie die Mysterien-Einweihungen) war das Mysterium von Golgatha. (Durch die Kreuzigung) trat nun tatsächlich der physische Tod ein für den physischen Leib des Jesus von Nazareth. Der Geist des Christus weilte die drei Tage außerhalb des physischen Leibes (und Ätherleibes), dann aber kehrte er zurück und jetzt nicht in den physischen Leib (wie in den Mysterien), sondern in den verdichteten Ätherleib, so verdichtet, daß ihn die Jünger wahrnehmen konnten. Das Hereinleuchten des spirituellen Lebens war anders beim alttestamentlichen Volke und anders bei den anderen Völkern. Bei den mittleren Propheten sehen wir diejenigen Seelen im althebräischen Volke auftreten, die in den früheren Inkarnationen Initiierte bei den anderen Völkern waren, damit sie das, was sie dem althebräischen Volke geben, wie eine Erinnerung an das erleben, was sie in der Initiation empfangen haben. Durch dieses Wirken seiner Propheten wurde das althebräische Volk dazu vorbereitet, jene einzigartige Initiation zu erleben, die jetzt nicht die Initiation eines Menschen, sondern die Initiation einer kosmischen Individualität war, wenn man dann noch von Initiation sprechen will, was eigentlich nicht mehr richtig ist. Dadurch wurde das althebräische Volk vorbereitet, das zu empfangen, was an die Stelle der alten Initiation treten sollte: in richtiger Art hinschauen auf das Mysterium von Golgatha. Dadurch aber ist auch gegeben, daß die dem alttestamentlichen Volke angehörenden Apostel zunächst kein Verständnis haben für die Worte, welche die Initiation charakterisieren. Der Christus Jesus spricht von der Initiation, und er drückt sich so aus, daß er sagt: hineilen zum Tode, drei Tage im Grabe sein, dann auferweckt werden. Das ist die Beschreibung der Initiation. Weil aber diese Art zu sprechen nicht heimisch war beim alttestamentlichen Volke, deshalb verstanden die Zwölf diese Art der Beschreibung zunächst nicht. Daher werden wir mit Recht darauf hingewiesen, wie die Apostel erstaunt sind und nicht wissen, wovon er redet, als er von dem Leiden und Sterben und Auferwecktwerden des Menschensohnes spricht. [1]

Zu wesentlich mehr kam es bei den Initiierten nicht, als daß sie in ihrer Seele die Geheimnisse von den spirituellen Welten trugen, wie die Menschenseele die Erlebnisse von gestern als Erinnerung in sich trägt. Das war so aus dem Grunde, weil bis zum Mysterium von Golgatha des Menschen Seele auf der Erde überhaupt nicht geeignet war, in das Ich hineinkommen zu lassen die Reiche der Himmel, die übersinnlichen Welten. Innerhalb des Ich gab es kein Verständnis, keine Urteilskraft für die höheren Welten. Mit all den Kräften, die zum Ich gehören, konnte sich der Mensch vor dem Mysterium von Golgatha nicht mit den spirituellen Welten vereinigen. Das war das Geheimnis, das durch die Johannes-Taufe den Leuten (den Täuflingen) klarwerden sollte, daß jetzt die Zeit herangekommen war, wo die Reiche der Himmel bis ins Ich hineinleuchten sollten.Solche Menschen also, die mehr von der übersinnlichen Welt in sich tragen, was schon in der vorchristlichen Zeit gleichsam an das erinnert, was das Ich später werden soll, die zerbrechen mit dieser Ich-Kraft ihre Leiblichkeit. Wir brauchen uns nur an die Verwundbarkeit des Achill an der Ferse, an die Verwundbarkeit des Siegfried, an Oedipus zu erinnern, wo die Gewalt des Ich die Leiblichkeit durchbricht. Nehmen wir an, irgend ein Mensch in der vorchristlichen Zeit würde – es braucht nicht mit Bewußtsein zu sein – mit allen Impulsen, mit allen Kräften, die später das Ich durchdringen sollen, in sich erfüllt sein und würde mit dieser, man möchte sagen, Über-Ich-Kraft, mit dieser übermenschlichen Kraft untertauchen in seinen Leib. Er würde diesen Leib so gesehen haben, wenn er heraustreten konnte, wie er als zerbrochener Leib ist unter dem Einflusse des Über-Ich, würde ihn mit allerlei Wunden gesehen haben, weil nur das schwache Ich – oder das schwache Innere – in den alten Zeiten den Leib so schwach durchdringt, daß er ganz bleiben kann. Dies ist bei den Propheten ausgesprochen. Es ist die Stelle ungefähr so formuliert, daß gesagt wird (Sacharja 12,10): Der Mensch, der alle Kraft der Ichheit in sich vereint und sich dem menschlichen Leib gegenüber sieht, er sieht ihn durchstochen, verwundet mit Löchern. Denn die höhere Kraft des Ich, die in den alten Zeiten noch nicht das menschliche Innere bewohnen konnte, durchlöchert, durchdringt, zersticht den Leib. Das ist ein Impuls, der deshalb durch die Menschheitsevolution läuft, weil wegen des luziferischen und ahrimanischen Einflusses dem Menschen in der vorchristlichen Zeit ein geringeres Quantum seines Ich mitgegeben werden mußte, als das Voll-Ich umfaßt. Und weil der Leib nur geeignet ist für das geringere Quantum und nicht für die ganze Kraft des Ich, deshalb zermürbt er. Weil mit dem Christus auf einmal das volle Ich in die Leiblichkeit des Jesus eingezogen ist, weil da am stärksten die Ichheit eingezogen ist –, deshalb mußte diese Leiblichkeit nicht nur mit einer Wunde, wie es bei so vielen Menschen, die als Individualitäten ein Über-Ich getragen haben, sondern mit fünf Wunden angeschaut werden, die notwendig sind wegen des Hinausragens der Christuswesenheit, das heißt des Voll-Ich des Menschen, über die angemessene Form der Leiblichkeit. Wegen dieses Hinausragens musste sich auf dem physischen Plan der Weltgeschichte das Kreuz erheben, das den Christusleib so trug, wie der menschliche Leib sein würde, wenn jemals in einem Augenblick die ganze Summe des Menschentums, von welcher der Mensch einen großen Teil durch den luziferischen und ahrimanischen Einfluß verloren hat, in einem Menschen weilen würde. Aus der Menschennatur und aus der Erdenwesenheit selber folgt die Gestalt des Kreuzes mit dem Christus und den Wunden auf Golgatha. [2]

Das ist das Eigentümliche, daß es eine Möglichkeit gibt, nicht nur im Hellsehen, wo es sich als natürlich erweist, hinzuschauen, wie das Kreuz auf Golgatha erhöht ist, wie die Kreuzigung stattfindet, und die Wahrheit dieses historischen Ereignisses zu schauen, sondern daß es eine Möglichkeit gibt, daß wir durch das Mysterium von Golgatha sogar die menschliche Vernunft so weit heranbringen an das Mysterium von Golgatha, daß, wenn man fein genug, scharf genug diese menschliche Vernunft gebraucht, diese sich umwandelt in Imagination, in Einbildung, die aber dann Wahrheit enthält, wodurch dann, wenn man versteht, was der Christus ist und wie er sich zur Form des Menschenleibes verhält, die Phantasie so geleitet wird, daß das Bild auf Golgatha selber entsteht. So waren vielfach die älteren christlichen Maler geleitet, die nicht etwa immer Hellseher waren, sondern aus der Kraft der Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha bis zu dem Bilde von Golgatha getrieben wurden, so daß sie es malen konnten.

Es ist eben in jenem großen Wendepunkt der Menschheitsevolution aus dem Hellsehen herangebracht worden an die Ich-Seele des Menschen das Verständnis für die Christuswesenheit, das heißt für das Ur-Ich des Menschen. Wenn ein Verhältnis zum Mysterium von Golgatha innerhalb des Leibes eingegangen ist, so ist es auch heute möglich, in den höheren Welten das Mysterium von Golgatha und damit die volle Bekräftigung dieses großen Knotenpunktes der Menschheits-evolution zu schauen. [3]

Was auf Golgatha geschehen ist, das können die Menschen, die das Initiationsprinzip durchmachen, noch heute sehen in der Akasha-Chronik. [4] Wir können zu diesem Ereignis nur vordringen, wenn wir hellseherisch den Weg einschlagen, daß wir uns zunächst etwa vertiefen in die Seele des Petrus oder eines der anderen Apostel, die beim Pfingstfeste sich befruchtet fühlten von der allwaltenden kosmischen Liebe. Nur wenn wir in die Seelen jener Leute schauen und da sehen, was diese Seelen erlebt haben, finden wir auf diesem Umwege die Möglichkeit, hinzuschauen auf das auf Golgatha erhöhte Kreuz, auf die Verfinsterung der Erde zu jener Zeit und auf das Beben der Erde, das darauf folgte. [5]

Das also, was als die Ursache aller folgenden Christus-Entwickelung auf der Erde sich abspielen mußte, der Tod auf Golgatha und das dadurch Geschaffene, das kann auch nur innerhalb des physischen Leibes begriffen werden. Das ist unter allen Tatsachen, die uns wichtig sind für das höhere Leben, das einzige, was nur innerhalb des physischen Leibes begriffen werden kann. Dann wird es weiter ausgebildet in den höheren Welten. Aber begriffen müssen wir es zunächst haben innerhalb des physischen Leibes. Gerade wie das Mysterium von Golgatha niemals sich hätte in den höheren Welten abspielen können, wie es auch kein Urbild hat in den höheren Welten, sondern ein Ereignis ist, das, weil es den Tod in sich schließt, abgeschlossen ist innerhalb des physischen Planes, so muß auch das Verständnis dafür auf dem physischen Plan erworben werden. Ja, es gehört geradezu zu den Aufgaben des Menschen auf der Erde, in irgendeiner seiner Inkarnationen sich dieses Verständnis zu erwerben. [6]

Diese auf dem äußeren physischen Plan geschehene Tatsache hat dieses eine gemeinschaftlich mit allen übersinnlichen Tatsachen, die lassen sich auch nicht äußerlich beweisen. Und es sind so ziemlich dieselben Leute, welche die übersinnliche Welt leugnen und denen die Möglichkeit fehlt, dieses Ereignis, das gar kein übersinnliches ist, zu erfassen. [7]

Ein System hat nur einen Schwerpunkt, eine Waage nur einen Aufhängepunkt. Deshalb anerkennen die Okkultisten aller Zeiten, des Altertums und der Neuzeit, wenn von dem Schwerpunkt der Erdenevolution im wahren Sinne die Rede ist, dieses Hinwenden der Evolution zu dem einen Punkt, zu dem Mysterium von Golgatha, und das Aufsteigen der Menschheitsentwickelung wieder von diesem Punkte aus. [8]

An einem Freitag, am 3. April des Jahres 33, drei Uhr am Nachmittag fand das Mysterium von Golgatha statt. Und da fand auch statt, die Geburt des Ich. Und es ist ganz gleichgültig, auf welchem Erdenpunkt der Mensch lebt, oder welchem Religionsbekenntnis er angehört, das, was durch das Mysterium von Golgatha in die Welt kam gilt für alle Menschen. Das ist eine Tatsache ganz internationaler Art. [9]

Es wurde bevor einer Sonnenmensch wurde, in den Mysterien immer eine Zeremonie vorgenommen, die Tod und Begräbnis nachmachte. Dasjenige, was immer als Bild von Golgatha ausgeführt wird, ist: der Christus Jesus am Kreuz in der Mitte, daneben die beiden Schächer, Räuber nennt man sie. Aber das Merkwürdige ist, daß der Christus zu dem einen sagt: «Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.» Der geht also nach oben, der andere geht nach unten. Das sind Luzifer und Ahriman. Und so war es auch mit dem Sonnenmenschen (in den Mysterien). Er machte Bekanntschaft mit Luzifer und Ahriman, mit demjenigen, was den Menschen hinauf ziehen will in die geistige Welt, daß er ganz geistig wird – was für den Menschen auch nicht paßt (Luzifer) –, und demjenigen, was den Menschen hinunterbringen will zum Irdischen (Ahriman), was wiederum für den Menschen nicht paßt, denn der Mensch gehört in die Zwischenstufe hinein. [10]

Nun stellen wir uns vor, wie der Schreiber des Matthäus-Evangeliums hinlenkt den Blick auf den sterbenden Jesus am Kreuz. Immer hat er den Blick auf das gerichtet, was er ganz besonders zu verfolgen hat, auf das, was er von Anfang an als seinen Ausgangspunkt genommen hat. Das Geistige verläßt nun den physischen Leib und damit auch dasjenige, was als Göttliches mitgenommen worden war. Auf die Trennung des Innern des Christus Jesus von diesem Göttlichen in der physischen Natur, darauf hat der Schreiber des Matthäus-Evangeliums den Blick gerichtet. Und die alten Mysterienworte, die da lauteten immer, wenn die geistige Natur des Menschen heraustrat aus dem physischen Leib, um schauen zu können in der geistigen Welt: Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verherrlicht! – er ändert sie dahin, daß er sagt, hinschauend auf den physischen Leib: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!»123.247

In dem Augenblicke als der Christus den Leib verließ, waren die drei Leiber so stark, daß sie imstande waren, selbst das Wort zu sprechen, was der Verklärte nach der Initiation gesprochen hat: «Eli, Eli, lama sabachthani.» Diese Worte würden allen, die von den Mysterienweisheiten etwas wußten, gezeigt haben, daß es sich um ein Mysterium handelte. Mit einer kleinen Umänderung im hebräischen Text entstand hieraus das Wort der Schrift: «Eli, Eli, lama asabthani», das heißt: «Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen (statt: verherrlicht).» [11]

Aber der Schreiber des Markus-Evangeliums schildert, wie die äußeren Kräfte der Sonnen-Aura herankommen, wie die Sonnen-Aura, der Leib des Sonnenwesens sich verbindet mit dem Ätherleib. Wie bei uns im Schlafzustand die äußeren Kräfte mit hinausgehen, so gingen sie bei dem physischen Jesus-Tode in gleicher Weise mit. Daher das gleiche Wort (wie bei Matthäus) im Markus-Evangelium.

Der Schreiber des Lukas-Evangeliums richtet auch bei dem Christus-Jesus-Tode seinen Blick auf das, worauf er ihn von Anfang an gerichtet hat: auf astralischen Leib und Ich-Träger. Er richtet auf die anderen Tatsachen sein Hauptaugenmerk, die sich auf den astralischen Leib beziehen, der in diesem Augenblick die höchste Entfaltung erlebt von Barmherzigkeit, von Liebe. Und er verzeichnet daher die Worte: «Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht was sie tun!» Das ist ein Liebeswort, das allein herauskommen kann aus dem astralischen Leibe, auf den der Schreiber des Lukas-Evangeliums von Anfang an hingewiesen hat. Und was herauskommen kann an Demut und Ergebenheit, das kommt im höchsten Grade heraus aus diesem astralischen Leib, auf den Lukas bis zuletzt seinen Blick richtet. Daher seine Schlußworte: «Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!»

Johannes hat seinen Hauptaugenmerk auf das gerichtet, was sich auf Golgatha vom Kreuz herab vollzieht als das Ordnende. Er beschreibt uns, wie in diesem Moment der Christus eine höhere Bruderschaft anordnet als die ist, die sich auf Blutsverwandtschaft gründet. Die früheren Bruderschaften bestanden durch das Blut. Dem Schüler, den er lieb hatte, gibt er nicht die Blut-Mutter, sondern er gibt ihm im Geiste die eigene Mutter. So alte Bande erneuernd, was der Menschheit ursprünglich verloren gegangen ist, klingt es herunter vom Kreuz im neuen Sinne: «Das ist dein Sohn!» und «Das ist deine Mutter!» Was so als ordnender Sinn neue Gemeinschaften stiftete, das ist das, was als der Sinn des Lebensäthers, der das Leben ordnet, durch die Christus-Tat in die Erde einströmt. [12]

Zitate:

[1]  GA 139, Seite 133f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[2]  GA 139, Seite 135uf   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[3]  GA 139, Seite 138f   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[4]  GA 143, Seite 141   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[5]  GA 148, Seite 31   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[6]  GA 132, Seite 90f   (Ausgabe 1979, 102 Seiten)
[7]  GA 132, Seite 92   (Ausgabe 1979, 102 Seiten)
[8]  GA 127, Seite 178   (Ausgabe 1975, 256 Seiten)
[9]  GA 143, Seite 163   (Ausgabe 1970, 248 Seiten)
[10]  GA 353, Seite 61f   (Ausgabe 1968, 308 Seiten)
[11]  GA 97, Seite 76   (Ausgabe 1981, 340 Seiten)
[12]  GA 123, Seite 248f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)

Quellen:

GA 97:  Das christliche Mysterium (1906/1907)
GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)
GA 127:  Die Mission der neuen Geistesoffenbarung. Das Christus-Ereignis als Mittelpunktsgeschehen der Erdenevolution (1911)
GA 132:  Die Evolution vom Gesichtspunkte des Wahrhaftigen (1911)
GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)
GA 143:  Erfahrungen des Übersinnlichen. Die drei Wege der Seele zu Christus. (1912)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)
GA 353:  Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker (1924)