Phantasie

Wir verstehen die Kunst nicht, wenn wir in ihr nicht die Sehnsucht empfinden, das Geistige wenigstens zunächst in der Offenbarung des schönen Scheines zu erleben. Unsere Phantasie, welche der Auspräger des Künstlerischen ist, ist ja im Grunde genommen nichts anderes, als die vorirdische Hellseherkraft. [1] Das geschulte Hellsehen führt den Menschen in die höheren Welten. Seine Stellvertreterin in der sinnlichen Welt ist die Phantasie. [2]

Die Menschen der älteren Zeiten haben hinaufgesehen zum Jupiter, haben den Jupiter verbunden gesehen mit geistigen Wesenheiten höherer Hierarchien, die ihre Wirkungen hineinsenden in den Menschen, so daß die Folge dieser Wirkungen im Menschen die Ausbildung der Kraft der Phantasie ist. [3] (Noch) die Menschen des 3. oder 4. Jahrhunderts vor Christi Geburt hatten ein deutliches Bewußtsein davon: Es geschieht etwas in der Geisteswelt, das spielt herein in die Welt der Menschen. – Und dasjenige, was sie da sahen, wir können es heute bezeichnen: das war die eigentliche Geburt der menschlichen Phantasie. Diese Phantasie nimmt dazumal ihren Ursprung, die nicht so schafft, als ob ein Geistiges erscheint, imaginiert wird, sondern als ob man nur aus sich selbst heraus etwas anordnete, ob man nur aus sich selbst heraus etwas gestaltete. Und daß sie mit der Phantasie begabt wurden, das schrieben die Menschen dieser Zeit zu einem Kampfe von göttlichen Wesen, die über ihnen walteten, in deren Auftrag sie auf der Erde handelten. [4] Die Phantasie ist ja in Wahrheit nur eine irdische Widerspiegelung der überirdischen Imagination. Die Renaissance ist kein Gegenbeweis, denn gerade, daß man nicht zu einer Naissance, sondern zu einer Renaissance greifen mußte, beweist, daß eine ursprüngliche Phantasie (seit der Mitte des 15. Jahrhunderts) nicht da war, sondern eine solche Phantasie, die die Befruchtung aus früheren Zeiten brauchte. [5]

Wir entwickeln in uns die Gefühlswelt, die ein fortwährendes Wechselspiel – Systole, Diastole – zwischen Sympathie und Antipathie ist. Dieses Wechselspiel ist fortwährend in uns. Die Antipathie, die nach der einen Seite geht, verwandelt fortwährend unser Seelenleben in ein vorstellendes; die Sympathie, die nach der anderen Seite geht, verwandelt uns das Seelenleben in das, was wir als unseren Tatwillen kennen. Ebenso wie das Vorstellen auf Antipathie beruht, so beruht das Wollen auf Sympathie. Wird nun die Sympathie genügend stark – wie es bei der Vorstellung ist, die durch Antipathie zum Gedächtnis wird –, dann entsteht aus Sympathie die Phantasie. Und bekommen Sie die Phantasie genügend stark, was beim gewöhnlichen Leben nur unbewußt geschieht, wird sie so stark, daß sie Ihren ganzen Menschen durchdringt bis in die Sinne, dann bekommen Sie die gewöhnlichen Imaginationen, durch die Sie die äußeren Dinge vorstellen. [6]

Das Mondenhafte (des Seelenlebens) stellt sich dar in alledem, was phantasieartige Betätigungen sind, auch Gedächtnis, aber nicht so gefaßt, daß es die organische Tätigkeit darstellt, die der Erinnerung zugrunde liegt, sondern das Bilden von Vorstellungen. [7] Die Erinnerungsvorstellungen, die wir haben, sind substantiell genau dasselbe wie die Phantasievorstellungen, die wir uns gewissermaßen frei schaffend bilden, nur daß wir dieselbe Kraft, die wir in dem Weben der Phantasievorstellungen anwenden, anders verwenden beim Erinnern. Indem wir uns erinnern, indem wir unser Gedächtnis pflegen, leben wir schließlich in demselben Elemente wie beim Phantasieschaffen, nur daß wir anknüpfen an dasjenige, was wir durch die Sinne oder überhaupt durch das Leben erfahren haben und so die «Phantasmen» in der Erinnerung gesetzmäßig gestalten, während wir sie in der Phantasie frei schweifen lassen. [8]

Alles was der Mensch an Phantasiebildern in sich hervorbringen kann, an Bildern, die nicht Abbilder der physischen Außenwelt sind, stammt von (einem im Übersinnlichen bleibenden Teile des) Ich. Alles Schöpferische, im Guten und im Bösen, gehört an diese Stelle der menschlichen Wesenheit. Wenn Sie alle die Schöpfungen der Phantasie ins Auge fassen, welche die Menschen zuwege bringen, indem sie über ihre Mitmenschen dieses oder jenes sagen, oder auch sonst dieses oder jenes zum besten geben, so werden Sie ein ziemliches Quantum von Phantasie finden auch bei denjenigen Menschen, die im gewöhnlichen, im edleren Sinne phantasiearm sind. Die menschlichen Fähigkeiten verschlagen sich eben manchmal, und Lügenhaftigkeit und Verleumdungssucht sind eben verschlagene Phantasie. Aber auf dieses Ich haben Einfluß Wesenheiten aus der Kategorie der Angeloi und Archangeloi, im Guten und im Bösen, (also auch solche) mit luziferischer und ahrimanischer Natur. [9]

Auf Menschen, die nach der Phantasiesphäre hin veranlagt sind, so daß sich ihnen wie von selbst die Anschauung der sinnlichen Wirklichkeit in Phantasiebilder wandelt, zählt bei ihren Weltabsichten die ahrimanische Macht. Sie meint, mit Hilfe solcher Menschen die Entwickelung der Menschheit von der Vergangenheit ganz abschneiden zu können, um sie in eine Richtung zu bringen, die sie will. [10]

Der Mensch nimmt nicht in der Phantasie – die, wenn sie luziferisch durchwebt wird, zur Phantastik wird –, wahr, daß eigentlich ein Angelos durchschlüpft durch sein individuelles Leben, indem er in der Phantasie lebt. Der wirkliche Dichter, der wirkliche Künstler, der nicht zum Zyniker oder zum Frivolling oder zum Oberflächling geworden ist, der weiß aber, daß ihn durchsetzt, indem er künstlerisch schafft, eine höhere Geistigkeit. Es ist dieselbe höhere Geistigkeit, die uns eigentlich von Leben zu Leben wie ein individueller Schutzgeist trägt: der Angelos. Und es ist durchaus eigentlich das Denken des Angelos, das in die geregelte menschliche Phantasie hereinspielt. Wenn der Mensch nun aber nicht innerlich aus sich herausgeht, sondern im Schlafe wirklich aus sich heraus ist, und er im Schlafe dann eindringt in die Region, in der sonst die wachende Phantasie wurzelt, dann kündigt sich dasselbe, was sich in der Phantasie besonnen ankündigt, mehr unter dem Bewußtsein an als das Träumen. Geradeso wie die Phantasie zur Phantastik ausarten kann, wenn sie luziferisch durchsetzt wird, so kann das Träumen ausarten zu allem möglichen Irregulären, das der Mensch dann sogar für eine Realität hält, indem ahrimanische Einflüsse auf das Träumen stattfinden. Das Träumen als solches geht ja in die luziferische Region hinein, kann aber ahrimanisch durchsetzt werden. Aber eigentlich lebt in unseren Träumen, wenn sie, möchte man sagen, unschuldig und rein menschlich sind, wiederum das, was wir den Angelos nennen, diejenige Wesenheit, die also auch in der Phantasie uns durchsetzt, wenn wir innerlich gewissermaßen aus uns herausgehen. Die Phantasie und das Träumen schatten sich ab zu der Welt der Gefühle selbst – Gefühle und desjenigen, was in den Gefühlen lebt als Willensmäßiges; wir könnten auch sagen: willensmäßige Gefühle. [11]

So wie der Mensch in der gegenwärtigen Entwickelungsperiode ist, arbeitet das Ich vor allen Dingen am physischen Leib des Menschen. Es hat in der heutigen Menschheit verhältnismäßig noch wenig Fähigkeit, schon den Ätherleib zu beherrschen. Der Ätherleib wird verhältnismäßig noch stark dumpf und unbewußt von dem Ich beherrscht in der Kindheit. Später hört dieses Beherrschen auf. Nur bei denjenigen Personen, die sich für das spätere Leben eine starke Phantasie zurückbehalten, ist auch ein sehr starker Einfluß des Ich auf den Ätherleib vorhanden. [12] (Siehe auch: Jupiterkräfte und Mensch).

Zitate:

[1]  GA 283, Seite 114   (Ausgabe 1975, 186 Seiten)
[2]  GA 125, Seite 191   (Ausgabe 1973, 278 Seiten)
[3]  GA 221, Seite 49   (Ausgabe 1966, 142 Seiten)
[4]  GA 198, Seite 25f   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[5]  GA 199, Seite 258   (Ausgabe 1985, 318 Seiten)
[6]  GA 293, Seite 35ff   (Ausgabe 1980, 216 Seiten)
[7]  GA 213, Seite 71   (Ausgabe 1969, 251 Seiten)
[8]  GA 198, Seite 216   (Ausgabe 1984, 320 Seiten)
[9]  GA 161, Seite 17ff   (Ausgabe 1980, 292 Seiten)
[10]  GA 26, Seite 240f   (Ausgabe 1976, 270 Seiten)
[11]  GA 208, Seite 39f   (Ausgabe 1981, 220 Seiten)
[12]  GA 312, Seite 264   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)

Quellen:

GA 26:  Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie – Das Michael-Mysterium (1924/1925)
GA 125:  Wege und Ziele des geistigen Menschen. Lebensfragen im Lichte der Geisteswissenschaft (1910)
GA 161:  Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (1915)
GA 198:  Heilfaktoren für den sozialen Organismus (1920)
GA 199:  Geisteswissenschaft als Erkenntnis der Grundimpulse sozialer Gestaltung (1920)
GA 208:  Anthroposophie als Kosmosophie – Zweiter Teil:. Die Gestaltung des Menschen als Ergebnis kosmischer Wirkungen (1921)
GA 213:  Menschenfragen und Weltenantworten (1922)
GA 221:  Erdenwissen und Himmelserkenntnis (1923)
GA 283:  Das Wesen des Musikalischen und das Tonerlebnis im Menschen (1906/1920)
GA 293:  Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (1919)
GA 312:  Geisteswissenschaft und Medizin (1920)