Ödipus

Ein jedes Zeitalter weiß dasjenige, was sein Charakteristisches ist, in eine Grund-oder Ursage zu fassen. – Solche Grund- oder Ursagen sind die Ödipus-Sage in Griechenland und die Mephistopheles-Sage in der neueren Zeit. Sagen und Märchen weisen ihrer Struktur nach entweder nach dem Mephistophelischen, dem Ahrimanischen hin, oder nach dem Sphinxartigen, dem Luziferischen. In den Sagen und Märchen finden wir mehr oder weniger verborgen auftreten entweder das Fragemotiv: das ist das Sphinxmotiv, das Motiv, daß irgend etwas gelöst werden muß, daß eine Frage beantwortet werden muß, oder das Motiv der Verzauberung, des Gebanntseins an irgend etwas: das ist das mephistophelische, das ahrimanische Motiv. Das ahrimanische Motiv im genaueren besteht darin, daß, wenn wir Ahriman neben uns haben, wir fortwährend in der Gefahr sind, ihm zu verfallen, in seine Natur überzugehen, uns nicht mehr losreißen zu können von ihm. Und man möchte sagen: Der Sphinx gegenüber empfindet der Mensch etwas, was in ihn eindringt und ihn gleichsam auseinanderreißt; dem Mephistophelischen gegenüber empfindet der Mensch etwas wie: er muß untertauchen in dieses Mephistophelische, er muß sich ihm verschreiben, er muß ihm verfallen. [1] So wie aber der Grieche mit der Sphinx fertig werden mußte dadurch, daß er die Ich-Natur des Menschen völlig ausbildete, so muß man fertig werden in unserem Zeitraum mit Mephistopheles durch die Erweiterung und Erfüllung des Ich mit jener Weisheit, die allein von der Erforschung und Erfüllung des Ich mit jener Weisheit, die durch die Erkenntnis der geistigen Welt kommen kann.

Ödipus sollte der Mächtigste dieser Sphinxbesieger sein. Jeder Grieche, der sein Menschentum ernst nahm, war im Grunde genommen im kleinen mehr oder weniger ein Sphinxbesieger. Ödipus sollte nur das, was jeder Grieche erleben mußte, in besonders typischer Gestalt darstellen. Ödipus sollte dasjenige, was im Atmungs- und Blutprozesse lebt, besiegen. Dem Menschen, der in diesem lebt, soll er gegenüberstellen den gleichsam mit verarmten Ätherkräften lebenden Nervenmenschen. Dadurch kommt er dazu, daß er in seine eigene Natur die Kräfte, die mit dem Nervenprozeß verwandt sind, also die mephistophelischen Kräfte, aufnimmt, aber in gesunder Weise aufnimmt, so daß sie nicht nebenhergehen und ihm zum Begleiter werden, sondern daß sie in ihm sind und er durch diese Kräfte der Sphinxnatur gegenübertreten kann. Für den Griechen war die Sphinxnatur etwas, womit er fertig werden sollte, was er aus sich heraussetzen sollte. Wenn er sie in den Abgrund stürzen, also den erweiterten Ätherleib in den physischen Leib hineinbringen konnte, dann hatte er die Sphinx überwunden. Der Abgrund ist nicht da draußen, der Abgrund ist der eigene physische Leib. (Weiteres siehe: Sphinx)

Ödipus ist der Sohn des Laios. Diesem war vorausgesagt worden, daß, wenn er ein Kind haben würde, dieses Unglück bringen würde für sein ganzes Geschlecht. Daher setzte er das Knäblein, das ihm geboren wurde, aus. Er durchstach ihm die Füße, und daher bekam es den Namen Ödipus, das heißt Klumpfuß. Da haben wir die mephistophelischen Kräfte in dem Ödipus-Drama. Er trägt nun die Klumpfüße durch die Welt. Er ist gewissermaßen der ins Heilige übersetzte Mephistopheles (der Bocksfüße hat). Da ist er an der richtigen Stelle, da kann er das Ich kräftig durchpulsen. Das zum Kopfe heraufwandernde Ich wird stark, indem die Füße verkümmern. [2] Wie Ahriman-Mephisto mehr in der äußeren Welt lebt, so lebt Luzifer mehr in der inneren Welt. All das Unglück, das Ödipus dadurch trifft, daß er sich mit der Ahrimannatur durchdringen muß, besteht in äußeren Dingen. So wie der Ödipus, um der Sphinx gegenüberzustehen, um sie zu besiegen, den Ahriman aufnehmen mußte, so muß der Mensch der 5. nachatlantischen Kulturperiode, der dem Ahriman-Mephistopheles gegenüber-steht, den Luzifer in sich aufnehmen, das heißt er muß den umgekehrten Prozeß durchmachen wie Ödipus. Er mußte das, was vom Ich aufgehäuft war im Kopfe, hinunterdrängen von dem Kopfe in die andere Menschennatur. [3]

Zitate:

[1]  GA 158, Seite 107f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[2]  GA 158, Seite 109f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)
[3]  GA 158, Seite 110f   (Ausgabe 1993, 234 Seiten)

Quellen:

GA 158:  Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Kalewala – Olaf Åsteson – Das russische Volkstum – Die Welt als Ergebnis von Gleichgewichtswirkungen (1912-1914)