Christus Leben
► Menschen Sohn

Es entfaltet sich der Mensch in der Weise, daß er aus Empfindungsseele, Verstandesseele und Bewußtseinsseele etwas wie eine Blüte seines Wesens dem entgegenhält, was ihm als ein Göttliches von oben herunterkommt, damit er durch den Empfang des Geistselbst einen weiteren Weg in die Höhen der Menschheitsentwickelung durchmachen kann. In dieser Weise konnten die Menschen, die zur Zeit des Christus Jesus bloß das Äußere ganz normal entwickelt hatten, sagen: Ja, jetzt ist erst normalerweise die Verstandes- oder Gemütsseele entwickelt, die noch nicht ein Geistselbst, Manas in sich aufnehmen kann, aber es wird sich aus demselben Menschen, der jetzt die Verstandes- oder Gemütsseele als Höchstes entwickelt hat, herausentwickeln als sein Kind, als sein Ergebnis, die Bewußtseinsseele, die sich dann öffnen kann dem Geistselbst, dem Manas. Und was der Mensch nach seiner ganzen Wesenheit sozusagen als seine Blüte entfalten mußte, was da aus ihm herauswuchs, was sich ergab aus seiner Natur, wie nannte man das in den Mysterien? Wie mußte man es daher auch in der Umgebung des Christus Jesus nennen, wenn die Jünger wirklich vorwärts kommen wollten? Man nannte es – wenn wir es in unsere Sprache übersetzen wollen – mit dem Ausdruck «Sohn des Menschen»; denn das griechische Wort υιος του ανθωπου hat durchaus nicht die eingeschränkte Bedeutung unseres «Sohn» als «Sohn eines Vaters», sondern dessen, was sich ergibt als Nachkomme einer Wesenheit, was herauswächst aus einer Wesenheit wie die Blüte aus einer bisher nur blättertragenden Pflanze. Die normalen Menschen haben noch nichts von dem «Sohn des Menschen» entwickelt, aber es muß ja immer Menschen geben, die ihrem Geschlechte voranschreiten. Und solche «Menschen-Söhne» gab es. Und die Jünger des Christus Jesus sollten daher heranwachsen, zu verstehen, welches die Natur und Wesenheit dieser Führer der Menschheit ist. Da fragte der Christus Jesus, um sich zu überzeugen wie sie darüber denken, zunächst seine intimen Schüler, seine Jünger: Sagt mir etwas davon, von welchem Wesen, von welchem Menschen man sagen kann, daß sie Menschen-Söhne sind in diesem Geschlecht? So etwa müßte man die Frage stellen, wenn man sie im Sinne der aramäischen Urschrift des Matthäus-Evangeliums stellen wollte. Denn ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß in der griechischen Übertragung, wenn man sie gut versteht, zwar noch alles besser ist als es heute ausgelegt wird, daß aber trotzdem notwendigerweise manches bei der Übertragung aus der aramäischen Urschrift undeutlich geworden ist. – Also müssen wir uns den Christus Jesus vor seinen Jüngern stehend denken und sie fragend: Was herrscht als Anschauung darüber, wer von jenen Menschen des vorangegangenen Geschlechts, die schon in den griechisch-lateinischen Zeitraum hineingehörten, «Menschen Söhne» wären? Da zählten sie ihm auf: Elias, Johannes der Täufer, Jeremias und sonstige Propheten. Das wußten die Jünger durch die belehrende Kraft, die ihnen durch den Christus geworden war, daß jene Führer Kräfte in sich aufgenommen hatten, durch die sie hinaufgewachsen waren bis zum Insichtragen des Menschensohnes. Bei derselben Gelegenheit gab einer der Jünger, der Petrus gewöhnlich genannt wird, noch eine andere Antwort. [1] Die ging dahin, daß er jetzt den Christus nicht bloß bezeichnete als Menschen-Sohn, sondern daß er ihn bezeichnete – und wir können das Wort immer so übersetzen, wie es gebräuchlich ist – als den Sohn des lebendigen Gottes. Was ist im Gegensatz zum «Menschen-Sohn» der «Sohn des lebendigen Gottes»? In der Bewußtseinsseele öffnet sich der Mensch, und es kommt ihm entgegen das Geistselbst oder Manas, der Lebensgeist oder die Buddhi und der Geistesmensch oder Atma. Das ist also etwas, was gleichsam dem Menschen als das Geistbefruchtende von oben entgegenkommt. Wessen Repräsentant ist der, der die Gabe empfangen wird des herunterkommenden Manas? Das ist der Sohn des Gottes, der lebt, des Lebensgeistes, der Sohn des lebendigen Gottes! So stehen sich gegenüber der Menschen-Sohn der von unten nach oben wächst, und der Gottes Sohn, der Sohn des lebendigen Gottes, der von oben nach unten wächst. [2]

Die Kräfte, die wir einmal in unserem Astralleibe als Geistselbst entwickeln werden, sind in unserem Astralleibe schon darinnen; nur sind sie von göttlich-geistigen Mächten darinnen und nicht von uns entwickelt. Und ebenso ist in unserm Ätherleib schon ein göttlich-geistiger Lebensgeist, Buddhi, darinnen. Daher sagt der Christus, indem er auf Petrus sieht: Was da gegenwärtig ist in deinem Bewußtsein, das hat nicht aus dir gesprochen; sondern es hat aus dir gesprochen, was du erst in der Zukunft entwickeln wirst, was zwar in dir ist, aber wovon du noch nichts weißt. – Das geheimnisvolle Höhere im Petrus, was der Christus den Vater im Himmel nennt, die Kräfte, aus denen Petrus zwar geboren ist, deren er sich aber noch nicht bewußt ist, die haben in diesem Augenblick aus ihm gesprochen. Daher das Wort: «Was du als Mensch aus Fleisch und Blut gegenwärtig bist, hat dir das nicht eingegeben, sondern der Vater in dem Himmel.»

Dabei mußte sich der Christus noch etwas anderes sagen: In dem Petrus habe ich eine Natur vor mir, einen Jünger, dessen ganze menschliche Konstitution so ist, daß durch die Kräfte, die schon das Bewußtsein entwickelt hat, daß durch die ganze Art und Weise, wie die Geistestätigkeit wirkt, nicht gestört wird die Vaterkraft in ihm; sie ist so stark, diese unterbewußte Menschenkraft, daß er auf sie bauen kann, wenn er sich dieser unterbewußten Menschenkraft überläßt. Was so in ihm ist, das ist aber auch in jedem Menschen. Nur bewußt ist es noch nicht weit genug, das wird sich erst in der Zukunft entwickeln. Soll sich das, was ich der Menschheit zu geben habe, und wofür ich der Impuls bin, weiter entwickeln und die Menschen ergreifen, so muß es sich auf das begründen, was da in dem Petrus eben gesprochen hat: «Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!» Auf diesen Felsen im Menschen, den noch nicht zerstört haben die brandenden Wogen des schon entwickelten Bewußtseins, was da als die Vaterkraft spricht, darauf will ich das bauen, was immer mehr und mehr hervorsprießen soll aus meinem Impuls (siehe: Christus-Impuls). – Das liegt in den Worten: «Du bist der Petrus, und auf diesem Felsen will ich bauen, was eine Menschengemeinde ergeben kann, was eine Summe von Menschen ergeben kann, die sich zum Christus-Impuls bekennen!» Und jetzt soll im nächsten Augenblick klar und deutlich noch etwas anderes gezeigt werden: daß nämlich wirklich auf die tiefere, unterbewußte Kraft in Petrus von dem Christus Jesus gebaut wird. Denn im nächsten Augenblick redet der Christus von den nächsten Ereignissen, die sich abspielen sollen. Von dem, was als das Mysterium auf Golgatha geschehen soll, beginnt er zu reden. Und jetzt ist der Augenblick schon vorbei, wo das tiefer in Petrus Liegende spricht; jetzt spricht das in Petrus, was ihm schon bewußt ist. Jetzt kann er nicht verstehen, was der Christus damit meint, kann nicht glauben, daß Leiden und Sterben eintreten sollen. Und wo der bewußte Petrus spricht, der schon die bewußten eigenen Kräfte in sich entwickelt hat, da muß ihn der Christus zurechtweisen, indem er sagt: Jetzt redet nicht irgendein Gott, sondern jetzt spricht das, was du schon als Mensch entwickelt hast; das ist unwert, daß es emporwächst; das ist aus einer Lehre der Täuschung; das ist aus Ahriman, das ist des Satans! – Das liegt in dem Wort: «Hebe dich, Satan, von mir! Du bist mir ärgerlich; denn du meinest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.» Der Christus nennt ihn gleich den «Satan»; er wendet gerade das Wort «Satan» an für Ahriman, während sonst in der Bibel Diabolus steht für alles Luziferische. Da gebraucht der Christus in der Tat für die Täuschung, der sich Petrus noch hingeben muß, das richtige Wort. [3]

Zitate:

[1]  GA 123, Seite 212f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[2]  GA 123, Seite 216f   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)
[3]  GA 123, Seite 218ff   (Ausgabe 1959, 264 Seiten)

Quellen:

GA 123:  Das Matthäus-Evangelium (1910)