Einweihung – Weg zur Einweihung

Die Vorbereitung besteht in einer ganz bestimmten Pflege des Gefühls- und Gedankenlebens. Durch diese Pflege werden Seelen- und Geistleib mit höheren Sinneswerkzeugen und Tätigkeitsorganen begabt, wie die Naturkräfte den physischen Leib aus unbestimmter lebendiger Materie mit Organen ausgerüstet haben. Der Anfang muß damit gemacht werden, die Aufmerksamkeit der Seele auf gewisse Vorgänge in der uns umgebenden Welt zu lenken. Solche Vorgänge sind das sprießende, wachsende und gedeihende Leben einerseits, und alle Erscheinungen, die mit Verblühen, Verwelken, Absterben zusammenhängen, andererseits. Überall, wohin der Mensch die Augen wendet, sind solche Vorgänge gleichzeitig vorhanden. Der Mensch muß(nun), wo er Blühen und Gedeihen einer ganz bestimmten Art wahrnimmt, alles andere aus seiner Seele verbannen und sich kurze Zeit ganz allein diesem einen Eindrucke überlassen. Er wird sich bald überzeugen, daß ein Gefühl, das in einem solchen Falle durch seine Seele früher nur durchgehuscht ist, anschwillt, daß es eine kräftige und energische Form annimmt. Je öfter man in einer solchen Weise die Aufmerksamkeit auf etwas Wachsendes, Blühendes und Gedeihendes und damit abwechselnd auf etwas Welkendes, Absterbendes lenkt, desto lebhafter werden diese Gefühle werden. [1]

Wer oft die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Werdens, des Gedeihens, des Blühens gelenkt hat, der wird etwas fühlen, was der Empfindung bei einem Sonnenaufgang entfernt ähnlich ist. Und aus dem Vorgang des Welkens, Absterbens wird sich ihm ein Erlebnis ergeben, das in ebensolcher Art mit dem langsamen Aufsteigen des Mondes im Gesichtskreis zu vergleichen ist. Wer sich immer wieder und wieder planmäßig, mit Vorsatz, solchen Gefühlen überläßt, dem eröffnet sich eine neue Welt. Die Seelenwelt, der sogenannte Astralplan, beginnt vor ihm aufzudämmern. Wachsen und Vergehen bleiben für ihn nicht mehr Tatsachen, die ihm solch unbestimmte Eindrücke machen wie vorher. Sie formen sich vielmehr zu geistigen Linien und Figuren, von denen er vorher nichts ahnte. Und diese Linien und Figuren haben für die verschiedenen Erscheinungen auch verschiedene Gestalten. Nichts Willkürliches liegt in diesen Figuren. Zwei Geheimschüler, die sich auf der entsprechenden Stufe der Ausbildung befinden, werden bei dem gleichen Vorgange stets dieselben Linien und Figuren sehen. [2]

Ein Weiteres, worauf es ankommt, ist das, was die Geheimwissenschaft die Orientierung in den höheren Welten nennt. Man gelangt dazu, wenn man sich ganz von dem Bewußtsein durchdringt, daß Gefühle und Gedanken wirkliche Tatsachen sind. In der seelischen und in der Gedankenwelt wirken Gefühle und Gedanken aufeinander wie in der physischen die sinnlichen Dinge. In der Geheimwissenschaft kann man aber nur vorwärtskommen, wenn man auf seine Gedanken und Gefühle ebenso achtet, wie man auf seine Schritte in der physischen Welt achtet. [3] An die Stelle kleinlicher Gefühlsschwelgerei und spielerischer Gedankenverknüpfung treten bedeutsame Gefühle und fruchtbare Gedanken. Und diese führen den Menschen dazu, sich in der geistigen Welt zu orientieren. Wie er als physischer Mensch seinen Weg findet zwischen den physischen Dingen, so führt ihn jetzt sein Pfad zwischen Wachsen und Absterben hindurch. [4]

Die Schüler fühlen sich verpflichtet, übungsweise zu gewissen Zeiten sich die entgegengesetztesten Gedanken anzuhören und dabei alle Zustimmung und namentlich alles abfällige Urteilen vollständig zum Verstummen zu bringen. Es kommt darauf an, daß dabei nicht nur alles verstandesmäßige Urteilen schweige, sondern auch alle Gefühle des Mißfallens, der Ablehnung oder auch Zustimmung. Insbesondere muß sich der Schüler stets sorgfältig beobachten, ob nicht solche Gefühle, wenn auch nicht an der Oberfläche, so doch im tiefsten Inneren seiner Seele vorhanden seien. – So bringt es der Mensch dazu, die Worte des anderen ganz selbstlos zu hören, mit vollkommener Ausschaltung seiner eigenen Person, deren Meinungen und Gefühlsweise. Wenn er sich so übt, kritiklos zuzuhören, auch dann, wenn die völlig entgegengesetzte Meinung vorgebracht wird, wenn das Verkehrteste sich vor ihm abspielt, dann lernt er nach und nach mit dem Wesen eines anderen vollständig zu verschmelzen, ganz in dasselbe aufzugehen. Er hört dann durch die Worte hindurch in des anderen Seele hinein.

Durch anhaltende Übungen solcher Art wird erst der Ton das rechte Mittel, um Seele und Geist wahrzunehmen. Allerdings gehört dazu die allerstrengste Selbstzucht. Die Seele wird imstande, Kundgebungen aus der geistigen Welt wahrzunehmen, die nicht ihren Ausdruck finden in äußeren Tönen, die für das physische Ohr wahrnehmbar sind. Die Wahrnehmung des «inneren Wortes» erwacht. Dem Geheimschüler offenbaren sich allmählich von der Geisteswelt aus Wahrheiten. Er hört auf geistige Art zu sich sprechen. Solange man noch irgendeine Meinung, irgendein Gefühl dem zu Hörenden entgegenschleudert, schweigen die Wesenheiten der Geisteswelt. Alle höheren Wahrheiten werden durch solches «inneres Einsprechen» erreicht. [5] Man muß sich klarmachen, daß von den Gefühlen und Gedanken ausgegangen werden muß, mit denen der Mensch ja fortwährend lebt, und daß er diesen Gefühlen und Gedanken nur eine andere Richtung geben muß, als die gewohnte ist. Ein jeder sage sich zunächst: in meiner eigenen Gefühls- und Gedankenwelt liegen die höchsten Geheimnisse verborgen: ich habe sie bisher nur noch nicht wahrgenommen. Deshalb kommt es darauf an, die Gefühle und Gedanken in die rechte Richtung zu bringen. [6]

Die Erleuchtung geht von sehr einfachen Vorgängen aus. Auch dabei handelt es sich darum, gewisse Gefühle und Gedanken zu entwickeln, die in jedem Menschen schlummern und die erwachen müssen. Der erste Anfang wird damit gemacht, in einer bestimmten Art verschiedene Naturwesen zu betrachten, und zwar zum Beispiele: einen durchsichtigen, schön geformten Stein (Kristall), eine Pflanze und ein Tier. Man suche zuerst seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Vergleich des Steines mit dem Tier in folgender Art zu lenken. Die Gedanken, die hier angeführt werden, müssen von lebhaften Gefühlen begleitet durch die Seele ziehen. Und kein anderer Gedanke, kein anderes Gefühl dürfen sich einmischen und die intensiv aufmerksame Betrachtung stören. Man sage sich: «Der Stein hat eine Gestalt; das Tier hat auch eine Gestalt. Der Stein bleibt ruhig an seinem Ort. Das Tier verändert seinen Ort. Es ist der Trieb (die Begierde), welche das Tier veranlaßt, seinen Ort zu ändern. Und die Triebe sind es auch, denen die Gestalt des Tieres dient. Seine Organe, seine Werkzeuge sind diesen Trieben gemäß ausgebildet. Die Gestalt des Steins ist nicht nach Begierden, sondern durch begierdelose Kraft gebildet. Wenn man sich intensiv in diese Gedanken versenkt und dabei mit gespannter Aufmerksamkeit Stein und Tier betrachtet: dann leben in der Seele zwei ganz verschiedene Gefühlsarten auf. Aus dem Stein strömt die eine Art des Gefühls, aus dem Tiere die andere Art in unsere Seele. Die Sache wird wahrscheinlich im Anfange nicht gelingen: aber nach und nach, bei wirklicher geduldiger Übung, werden sich diese Gefühle einstellen. Man muß nur immerfort und fort üben. Erst sind die Gefühle nur so lange vorhanden, als die Betrachtung dauert, später wirken sie nach. Und dann werden sie zu etwas, was in der Seele lebendig bleibt. Der Mensch braucht sich dann nur zu besinnen: und die beiden Gefühle steigen immer, auch ohne Betrachtung eines äußeren Gegenstandes, auf. – Aus diesen Gefühlen und den mit ihnen verbundenen Gedanken bilden sich Hellseherorgane. Man lernt mit ihnen allmählich etwas wie seelische und geistige Farben zu sehen. [7]

Die Geheimwissenschaft bezeichnet nun das, was für das Hellseherorgan vom Stein ausströmt, als «blau» oder «blaurot». Dasjenige, was vom Tier empfunden wird, als «rot» oder «rotgelb». In der Tat sind es Farben «geistiger Art», die da gesehen werden. Die von der Pflanze ausgehende Farbe ist «grün», das nach und nach in ein helles ätherisches Rosarot übergeht. Der Farbenreichtum in diesen höheren Welten ist unermesslich viel größer als in der physischen Welt.

Hat der Mensch einmal die Fähigkeit erworben, mit «Geistesaugen» zu sehen, so begegnet er auch, über kurz oder lang höheren, zum Teil auch tieferen Wesen, als der Mensch ist, die niemals die physische Wirklichkeit betreten. [8]

Wenn man die Gefühle und Gedanken in die rechte Richtung bringt, dann entwickelt man die Wahrnehmungen für das im gewöhnlichen Leben Unsichtbare. Hier soll (noch) einer der Wege angegeben werden, wie man das macht. Man lege ein kleines Samenkorn einer Pflanze vor sich hin. Es kommt darauf an, sich vor diesem unscheinbaren Ding die rechten Gedanken intensiv zu machen und durch diese Gedanken gewisse Gefühle zu entwickeln. Zuerst mache man sich klar, was man wirklich mit Augen sieht. Man beschreibe für sich Form, Farbe und alle sonstigen Eigenschaften des Samens. Dann überlege man sich folgendes. Aus diesem Samenkorn wird eine vielgestaltige Pflanze entstehen, wenn es in die Erde gepflanzt wird. Man vergegenwärtige sich diese Pflanze. Man baue sie sich in der Phantasie auf. Und dann denke man: Was ich mir jetzt in meiner Phantasie vorstelle, das werden die Kräfte der Erde und des Lichtes später wirklich aus dem Samenkorn hervorlocken. In dem Samenkorn ruht schon auf verborgene Art – als Kraft der ganzen Pflanze – das, was später aus ihm herauswächst. Auf dieses Unsichtbare lenke man nun Gefühl und Gedanken. Besonders deutlich sei es betont: Was man da denkt, muß man auch intensiv fühlen. Man muß in Ruhe, ohne alle störenden Beimischungen anderer Gedanken, den einen oben angedeuteten in sich erleben. Und man muß sich Zeit lassen, so daß sich der Gedanke und das Gefühl, die sich an ihn knüpfen, gleichsam in die Seele einbohren.– Bringt man das in der rechten Weise zustande, dann wird man nach einiger Zeit – vielleicht erst nach vielen Versuchen – eine Kraft in sich verspüren. Und diese Kraft wird eine neue Anschauung erschaffen. Das Samenkorn wird wie in einer kleinen Lichtwolke eingeschlossen erscheinen. Es wird auf sinnlich-geistige Weise als eine Art Flamme empfunden werden. Gegenüber der Mitte dieser Flamme empfindet man so, wie man beim Eindruck der Farbe Lila empfindet; gegenüber dem Rande, wie man der Farbe Bläulich gegenüber empfindet. – Da erscheint das, was man vorher nicht gesehen hat und was die Kraft des Gedankens und der Gefühle geschaffen hat, die man in sich erregt hat. Was sinnlich unsichtbar war, die Pflanze, die erst später sichtbar werden wird, das offenbart sich da auf geistig sichtbare Art. [9]

Eine weitere Übung, die sich an die beschriebene anzuschließen hat, ist die folgende. Man stelle sich einer Pflanze gegenüber, die sich auf der Stufe der vollen Entwickelung befindet. Nun erfülle man sich mit dem Gedanken, daß die Zeit kommen werde, wo diese Pflanze abstirbt. Nichts wird von dem mehr sein, was ich jetzt vor mir sehe. Aber diese Pflanze wird dann Samenkörner aus sich entwickelt haben, die wieder zu neuen Pflanzen werden. Wieder werde ich gewahr, daß in dem, was ich sehe, etwas verborgen ruht, was ich nicht sehe. Was die Pflanze vor dem Verschwinden bewahrt, kann ich jetzt ebensowenig mit Augen sehen, wie ich früher die Pflanze im Samenkorn habe sehen können. Lasse ich diesen Gedanken in mir leben und verbindet sich das entsprechende Gefühl mit ihm, dann entwickelt sich wieder, nach angemessener Zeit, in meiner Seele eine Kraft, die zur neuen Anschauung wird. Aus der Pflanze wächst wieder eine Art von geistiger Flammenbildung heraus. Diese ist natürlich entsprechend größer als die vorhin geschilderte. Die Flamme kann etwa in ihrem mittleren Teile grünlichblau und an ihrem äußeren Rande gelblichrot emfunden werden.

Es muß ausdrücklich betont werden, daß man, was hier als «Farben» bezeichnet wird, nicht so sieht, wie physische Augen die Farben sehen, sondern daß man durch die geistige Wahrnehmung Ähnliches empfindet, wie wenn man einen physischen Farbeneindruck hat. [10]

Hat der Mensch durch solcherlei Übungen in sich die ersten Anfänge zu geistigen Anschauungen gefunden, so darf er aufsteigen zur Betrachtung des Menschen selbst. Einfache Erscheinungen des menschlichen Lebens müssen zunächst gewählt werden. – Bevor man aber dazu schreitet, ist es notwendig, besonders ernstlich an der vollen Lauterkeit seines moralischen Charakters zu arbeiten. Man muß jeden Gedanken daran entfernen, daß man etwa auf diese Art erlangte Erkenntnis zum persönlichen Eigennutz anwenden werde. Man muß mit sich darüber einig sein, daß man niemals eine Macht über seine Mitmenschen, die man etwa erlangen werde, im Sinne des Bösen ausnutzen werde. Deshalb muß jeder, der die Geheimnisse über die menschliche Natur durch eigene Anschauung sucht, die goldene Regel der wahren Geisteswissenschaften befolgen. Und diese goldene Regel ist: wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten. Wer diese Regel befolgt, der kann solche Übungen machen, wie nunmehr eine beschrieben werden soll.

Man vergegenwärtige sich einen Menschen, von dem man einmal beobachtet hat, wie er nach irgendeiner Sache verlangt hat. Auf die Begierde soll die Aufmerksamkeit gerichtet werden. Am besten ist es, den Zeitpunkt in der Erinnerung wachzurufen, in dem die Begierde am lebhaftesten war und in dem es ziemlich unentschieden war, ob der Mensch das Verlangte erhalten werde oder nicht. Und nun gebe man sich der Vorstellung an das, was man in der Erinnerung beobachtet, ganz hin. Man stelle die denkbar größte innere Ruhe der eigenen Seele her. Man versuche so viel, als nur möglich ist, blind und taub zu sein für alles andere, was ringsherum vorgeht. Und man achte besonders darauf, daß durch die angeregte Vorstellung in der Seele ein Gefühl erwache. Dieses Gefühl lasse man in sich heraufziehen wie eine Wolke, die an dem sonst ganz leeren Horizont heraufzieht. Nach vielen Versuchen wird man es dahin bringen, daß man in der eigenen Seele ein Gefühl erlebt, das dem Seelenzustand des beobachteten Menschen entspricht. Dann wird man aber auch nach einiger Zeit bemerken, daß durch dieses Gefühl in der eigenen Seele eine Kraft erwächst, die zur geistigen Anschauung des Seelenzustandes des anderen wird. Im Gesichtsfelde wird ein Bild auftreten, das man wie als etwas Leuchtendes empfindet. Und dieses geistig leuchtende Bild ist die sogenannte astrale Verkörperung des beobachteten Seelenzustandes der Begierde. Wieder als flammenähnlich empfunden kann dieses Bild beschrieben werden. Es wird in der Mitte wie gelbrot sein und am Rande wie rötlich blau oder lila empfunden werden. Viel kommt darauf an, daß man mit solcher geistigen Anschauung zart umgehe. Wieder ist eine wichtige Regel für den Geheimschüler: Verstehe über deine geistigen Gesichte zu schweigen. – Ja, schweige sogar vor dir selber darüber.Versuche nicht, was du im Geiste erschaust, in Worte zu kleiden oder mit dem ungeschickten Verstande zu ergrübeln. [11]

Gib dich unbefangen deiner geistigen Anschauung hin und störe sie nicht durch vieles Nachdenken darüber. Man beobachte in der gleichen Art, wie einem Menschen die Befriedigung irgendeines Wunsches, die Erfüllung einer Erwartung zuteil geworden ist. Man wird auch da zu einer geistigen Anschauung gelangen. Man wird eine geistige Flammenbildung bemerken, die in der Mitte als gelb sich fühlt und die wie mit einem grünlichen Rande empfunden wird. [12]

Hand in Hand mit jeder Geheimbeobachtung über die menschliche Natur muß die Selbsterziehung dahin gehen, die volle Selbstgeltung eines jeden Menschen uneingeschränkt zu schätzen und das als etwas Heiliges, von uns Unantastbares – auch in Gedanken und Gefühlen – zu betrachten, was in dem Menschen wohnt. Ein Gefühl von heiliger Scheu vor allem Menschlichen, selbst wenn es nur als Erinnerung gedacht wird, muß uns erfüllen. [13]

Was der Einzuweihende mitbringen muß, ist ein in gewisser Beziehung ausgebildeter Mut und Furchtlosigkeit.DerGeheimschüler muß geradezu die Gelegenheiten aufsuchen, durch welche diese Tugenden ausgebildet werden. Denn, wenn die physischen Sinne uns auch die höhere Wahrheit nicht schauen lassen, so sind sie eben dadurch auch des Menschen Wohltäter. Durch sie verbergen sich für ihn Dinge, welche ihn, unvorbereitet, in maßlose Bestürzung versetzen müßten, deren Anblick er nicht ertragen könnte. Diesem Anblick muß der Geheimschüler gewachsen werden. In seiner eigenen Natur sind zerstörende und aufbauende Kräfte. So unverhüllt die anderen Dinge vor das sehende Auge des Wissenden treten, so unverhüllt zeigt die eigene Seele sich selbst. Solcher Selbsterkenntnis gegenüber darf der Geheimschüler nicht die Kraft verlieren. Und sie wird ihm nur dann nicht fehlen, wenn er einen Überschuß an ihr mitbringt. Damit dieses der Fall sei, muß er lernen, in schwierigen Lebensverhältnissen die innere Ruhe und Sicherheit zu bewahren; er muß in sich ein starkes Vertrauen in die guten Mächte des Daseins erziehen. Er muß darauf gefaßt sein, daß manche Triebfedern ihn nicht mehr leiten werden, die ihn bisher geleitet haben. Ganz neue Triebfedern zum Handeln und Denken wird er entwickeln müssen. Und eben dazu gehören Mut und Furchtlosigkeit.

Hat der Mensch die geschilderten Eigenschaften bis zu einem gewissen Grade, dann ist er reif, die wahren Namen der Dinge zu erfahren, die der Schlüssel zu dem höheren Wissen sind. Denn darin besteht die Einweihung, daß man lernt, die Dinge der Welt bei demjenigen Namen zu benennen, die sie im Geiste ihrer göttlichen Urheber haben. In diesen ihren Namen liegen die Geheimnisse der Dinge. [14]

Die Einweihung ist die höchste der Stufen einer Geheimschulung, über welche in einer Schrift noch Andeutungen gegeben werden können, die allgemeinverständlich sind. Über alles, was darüber liegt, sind Mitteilungen schwer verständlich. Aber auch dazu findet jeder den Weg, der durch die Vorbereitung, Erleuchtung und Einweihung bis zu den niederen Geheimnissen vorgedrungen ist. Ein Mensch kann von den Geheimnissen des Daseins nur so viel wirklich erfahren, als dem Grade seiner Reife entspricht. Nur deshalb gibt es Hindernisse zu den höheren Stufen des Wissens und Könnens. Würde heute jemand ohne weiteres eingeweiht, so würde ihm die Erfahrung fehlen, die er durch die Verkörperungen in der Zukunft noch machen wird, bis ihm die entsprechenden Geheimnisse im regelmäßigen Verlauf seiner Entwickelung zuteil werden. In einem Ersatz für künftige Erfahrungen bestehen daher die ersten Unterweisungen des Einweihungs-kandidaten. Es sind das die sogenannten «Proben», die er durchzumachen hat und die sich als regelmäßige Folge des Seelenlebens ergeben, wenn Übungen, wie oben geschildert, richtig fortgesetzt werden. Die erste Probe besteht darinnen, daß er eine wahrere Anschauung erlangt von den leiblichen Eigenschaften der leblosen Körper, dann der Pflanzen, der Tiere und des Menschen, als sie der Durchschnittsmensch besitzt. In einer gewissen Weise stehen diese Dinge dann unverhüllt – nackt – vor dem Beschauer. Dem sinnlichen Auge und dem sinnlichen Ohre verbergen sich die Eigenschaften, die man da hört und sieht. Sie sind für das sinnliche Anschauen wie mit einem Schleier verhüllt. Daß dieser Schleier für den Einzuweihenden wegfällt, beruht auf einem Vorgang, den man als «geistigen Verbrennungsprozeß» bezeichnet. Deshalb wird diese erste Probe die «Feuerprobe» genannt. Für manche Menschen ist das gewöhnliche Leben selbst schon ein mehr oder weniger unbewußter Einweihungsprozeß durch die Feuerprobe. [15]

Nach der Feuerprobe kann jeder Kandidat noch umkehren. Er wird gestärkt in physischer und seelischer Beziehung dann sein Leben fortsetzen und wohl erst in einer nächsten Verkörperung die Einweihung fortsetzen. Will der Kandidat nach vollbrachter Feuerprobe die Geheimschulung fortsetzen, so muß ihm nunmehr ein bestimmtes Schriftsystem enthüllt werden. In diesen Schriftsystemen offenbaren sich die eigentlichen Geheimlehren. Diese okkulte Schrift offenbart sich der Seele, wenn diese die geistige Wahrnehmung erlangt hat. Denn diese Schrift steht in der geistigen Welt immer geschrieben. Man lernt sie nicht so, wie man eine künstliche Schrift lesen lernt. Man wächst vielmehr in sachgemäßer Weise der hellsichtigen Erkenntnis entgegen, und während dieses Wachsens entwickelt sich wie eine seelische Fähigkeit die Kraft, welche die vorhandenen Geschehnisse und Wesenheiten der geistigen Welt wie die Charaktere einer Schrift zu entziffern sich gedrängt fühlt. [16]

Die Zeichen entsprechen den Kräften, die in der Welt wirksam sind. Man lernt durch diese Zeichen die Sprache der Dinge. Dem Kandidaten zeigt sich alsbald, daß die Zeichen, die er kennenlernt, den Figuren, Farben, Tönen und so weiter entsprechen, die er während der Vorbereitung und Erleuchtung wahrzunehmen gelernt hat. Es zeigt sich ihm, daß alles Vorhergehende nur wie ein Buchstabieren war. In einem großen Zusammenhang erscheint ihm alles, was vorher nur vereinzelte Figur, Ton, Farbe war. Durch diese Sprache wird der Geheimschüler auch bekannt mit gewissen Verhaltungsmaßregeln für das Leben. Er lernt gewisse Pflichten kennen, von denen er vorher nichts gewußt hat. Hat der Geheimschüler die erwähnte Zeichenschrift gelernt, dann beginnt für ihn eine weitere Probe. Durch die muß sich erweisen, ob er sich frei und sicher in der höherern Welt bewegen kann. [17]

Für den auf dieser Stufe der Einweihung Angelangten gibt es nun Pflichten, zu denen kein äußerer Anstoß vorhanden ist. Er wird in diesen Dingen nicht durch äußere Verhältnisse, sondern nur durch jene Maßregeln veranlaßt, welche ihm in der «verborgenen» Sprache offenbar werden. Nun muß er durch die zweite Probe zeigen, daß er, geführt von einer solchen Maßregel, ebenso sicher und fest handelt, wie etwa ein Beamter seine ihm obliegenden Pflichten vollführt. Erkennt er seine Pflicht und handelt er richtig, dann hat er die Probe bestanden. Man erkennt den Erfolg an der Veränderung, die sich mit den als Figuren, Farben und Tönen empfundenen Wahrnehmungen durch die Handlung vollzieht. Man nennt diese Probe die Wasserprobe, weil bei der Tätigkeit in diesen höheren Gebieten dem Menschen die Stütze durch die äußeren Verhältnisse so fehlt, wie beim Bewegen im Wasser, dessen Grund man nicht erreicht. – Der Vorgang muß so oft wiederholt werden, bis der Kandidat völlige Sicherheit hat. Würde er während seiner Handlung irgend etwas von seinen Wünschen, Meinungen und so weiter einmischen, folgte er nur einen Augenblick nicht den Gesetzen, die er als richtig erkannt hat, sondern seiner Willkür: In diesem Falle verlöre der Kandidat sofort die Richtung auf sein Ziel der Handlung, und Verwirrung träte ein. – Daher hat der Mensch durch diese Probe in reichlichstem Maße Gelegenheit, seine Selbstbeherrschung auszubilden. [18]

In den höheren Welten sind unsere Wünsche, Begierden und Neigungen von Wirkung für die Dinge. Wollen wir da auf die Dinge in entsprechender Weise wirken, so müssen wir uns ganz in unserer Gewalt haben. [19] In Träumerei, Phantastik und Aberglauben lauern die schlimmsten Feinde auf dem Wege zu Erkenntnissen in höheren Welten. Ist der Kandidat in dieser Art weit genug vorgeschritten, so wartet die dritte Probe auf ihn. Bei dieser wird ihm kein Ziel fühlbar. Es ist alles in seine eigene Hand gelegt. Er befindet sich in einer Lage, wo ihn nichts zum Handeln veranlaßt. Er muß ganz allein aus sich seinen Weg finden. Man muß hier sein «höheres Selbst» im wahrsten Sinne des Wortes finden. Man muß sich rasch entschließen, auf die Eingebung des Geistes in allen Dingen zu hören. Es kommt darauf an, Geistesgegenwart in dieser Lage zu beweisen. [20]

Auf die Heranbildung der unbedingten Geistesgegenwart kommt es bei dieser Probe an. Hat der Geheimjünger diese «Luftprobe» bestanden, dann darf er den «Tempel der höheren Erkenntnisse» betreten. [21]

Durch das, was man sinnbildlich den «Vergessenheitstrunk» bezeichnet, wird der Kandidat in das Geheimnis eingeweiht, wie man wirken kann, ohne sich durch das niedere Gedächtnis fortwährend stören zu lassen. Das ist für den Eingeweihten notwendig. Denn er muß stets das volle Vertrauen in die unmittelbare Gegenwart haben. Er muß die Schleier der Erinnerung zerstören können, die sich in jedem Augenblick des Lebens um den Menschen ausbreiten. Zum Sehen des Neuen, nicht zur Beurteilung des Neuen nach dem Alten soll die Erfahrung dienen.

Der Eingeweihte erlangt (weiter) die Fähigkeit, höhere Geheimnisse stets im Geiste gegenwärtig zu haben. Dazu würde das gewöhnliche Gedächtnis nicht ausreichen. Man muß ganz eins werden mit den höheren Wahrheiten. Man muß sie nicht nur wissen, sondern ganz selbstverständlich in lebendigem Tun handhaben, wie man als gewöhnlicher Mensch ißt und trinkt. Übung, Gewöhnung, Neigung müssen sie werden. [22] (Weiteres siehe: Schulung).

Zitate:

[1]  GA 10, Seite 43f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[2]  GA 10, Seite 45f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[3]  GA 10, Seite 45ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[4]  GA 10, Seite 48   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[5]  GA 10, Seite 50ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[6]  GA 10, Seite 59f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[7]  GA 10, Seite 53f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[8]  GA 10, Seite 55f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[9]  GA 10, Seite 60ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[10]  GA 10, Seite 63f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[11]  GA 10, Seite 66ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[12]  GA 10, Seite 68f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[13]  GA 10, Seite 70   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[14]  GA 10, Seite 71uf   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[15]  GA 10, Seite 75ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[16]  GA 10, Seite 77f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[17]  GA 10, Seite 79f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[18]  GA 10, Seite 81ff   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[19]  GA 10, Seite 83f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[20]  GA 10, Seite 85f   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[21]  GA 10, Seite 87   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)
[22]  GA 10, Seite 88   (Ausgabe 1961, 232 Seiten)

Quellen:

GA 10:  Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/1905)