Aufwachen

Der Moment des Aufwachens besteht eigentlich aus zwei Teilen: Wir wachen auf, wie wir sonst uns verhalten, wenn wir durch einen Sinneseindruck gereizt werden. Es muß bei jedem Aufwachen irgendwie etwas unsere Seele reizen. Es braucht nur der eigene Leib zu sein, der lange genug geschlafen hat, und der in seinem veränderten Zustand diesen Reiz ausübt. Aber es ist immer, geradeso wie beim sinnlichen Eindruck ein Reiz da ist, ein Reiz da beim Aufwachen, und dieser Reiz spricht zu unserem Gefühl, das beim Einschlafen herausgetreten ist. Wie sonst die Augen, die OhrenTon oder Farbe wahrnehmen, so nimmt jetzt die selbständige Seele mit ihrem Fühlen etwas Äußerliches wahr, und es ist der Moment des Aufwachens ein Wahrnehmen durch das Gefühl, und es ist der Moment des Aufwachens ein Ergreifen des Körpers. Wie wenn wir sonst einen Arm bewegen oder ein Bein bewegen, so ergreifen wir mit dem selbständigen Willen den Organismus. Es sind wirklich zwei Akte, die da sind beim Aufwachen. [1]

Das Hineinrücken (in den Körper) geschieht nämlich so, daß der Mensch von der hinteren Seite des Gehirnes aus nach vorne hineinrückt. [2] Die Erde hat fortwährend das Bestreben, den physischen Leib des Menschen für sich in Anspruch zu nehmen, ihrem eigenen Wesen einzuverleiben. Dagegen hat das Weltenall fortwährend die Tendenz, den Ätherleib des Menschen in die ganze Welt zu zerstreuen. Wir haben jedesmal, wenn wir aufwachen, im Grunde genommen die Anstrengung zu machen, unseren physischen Leib wiederum richtig in den Besitz zu nehmen. Das tun wir durch das Ich. Der astralische Leib, der kann spüren bei dem Aufwachen, daß er den Ätherleib sich ähnlich machen muß. Der wollte schon eine unmenschliche Form annehmen. Der astralische Leib muß ihn wiederum in die menschliche Form zurückdrängen. [3] Der Ätherleib bekommt jede Nacht eine eigentümliche Neigung, in vier verschiedene Gestalten auseinander zu flattern, zu etwas zu werden, was engelartig ist, was löwenartig ist, was adlerartig ist und was ochsenartig ist. [4] Der Mensch ist immer in Lebensgefahr, wenn er aufwacht. Nur wacht er so schnell auf, daß er diese Lebensgefahr überwindet. [5]

Man kann mit der inspirierten Erkenntnis den Moment des Aufwachens wahrnehmen. Es wird gewissermaßen der Moment des Aufwachens etwas, das nur intensiver, stärker ist, aber sich doch mit dem Augenschließen vergleichen läßt. Wenn ich einer Farbe gegenüberstehe, gebe ich meinen astralischen Leib an dasjenige im Auge hin, was nahezu, sagte ich, außen ist, nämlich an den Prozeß, der dadurch hervorgerufen wird, daß eine Farbe von der Außenwelt aus auf mein Auge einen Eindruck macht. Schließe ich das Auge, so ziehe ich meinen astralischen Leib in mich selber zurück. Wache ich auf, so ziehe ich meinen astralischen Leib aus der Außenwelt, aus dem ganzen Kosmos zurück. Ich mache nämlich oftmals, unendlich oft während des Tagwachens, zum Beispiel in bezug auf die Augen, in bezug auf die Ohren, dasselbe mit meinem astralischen Leib, was ich – nur in Totalität, in bezug auf den ganzen Organismus – beim Aufwachen mache. Ich nehme meinen ganzen astralischen Leib zurück beim Aufwachen. Dieses Zurücknehmen des astralischen Leibes beim Aufwachen bleibt natürlich auch für das gewöhnliche Bewußtsein unbewußt, so wie der sinnliche Vorgang selber unbewußt bleibt. Aber wenn für denjenigen, der mit inspirierter Erkenntnis (siehe: Inspiration) begabt ist, dieser Moment des Aufwachens bewußt wird, dann zeigt es sich schon, daß dieses Hereinkommen des astralischen Leibes einer ganz andern Welt angehört als der, in der wir sonst sind, und vor allen Dingen ist es sehr häufig stark wahrzunehmen, wie schwer es der astralische Leib hat, wiederum in den physischen und Ätherleib zurückzukommen. Da sind Hemmnisse vorhanden.

Man kann sagen, daß derjenige, der beginnt, diesen Vorgang des Zurückkehrens des astralischen Leibes in den physischen Leib und in den Ätherleib wahrzunehmen, geistige Gewitter erlebt mit allerlei Gegenschlägen, geistige Gewitter mit solchen Gegenschlägen, die zeigen, daß der astralische Leib untertaucht in den physischen und in den Ätherleib, daß aber jetzt der physische und der Ätherleib bei diesem Untertauchen nicht so ausschauen, wie der Anatom und der Physiologe sie beschreiben, sondern daß sie etwas sind, was auch der geistigen Welt angehört. Was sonst der unschuldige physische Leib ist, oder was vermutet wird als der etwas nebulose unschuldige Ätherleib, das stellt sich dar als in einer geistigen Welt wurzelnd. In seiner Wahrheit stellt sich der physische Leib als etwas ganz anderes dar, als was er äußerlich in einem sinnlichen Abbilde für das Auge oder für die gewöhnliche Wissenschaft erscheint.

In tausendfachen Mannigfaltigkeiten kann dieses Untertauchen des astralischen Leibes in den physischen und in den Ätherleib erscheinen, wie etwa, wenn ein brennendes Holzstück untertaucht mit Gebrause in Wässeriges. Das ist noch die einfachste, die abstrakteste Art, die demjenigen, der eben anfängt, so etwas zu erkennen, zunächst erscheinen kann. Dann aber konkretisiert sich der Vorgang innerlich sehr mannigfaltig, durchgeistigt sich aber nachher damit, daß dasjenige, was vorerst nur, ich möchte sagen, sich in seiner Erscheinung mit brausendem Gewitter, mit aufsteigenden Stürmen vergleichen läßt, daß das sich mit harmonischen Bewegungsvorgängen durchdringt, die aber in allen ihren Teilen zu gleicher Zeit etwas sind, von dem man sagen muß: Es spricht, es sagt etwas, es kündet etwas an. Zunächst allerdings kleidet sich das, was sich da ankündigt, in Reminiszenzen aus dem gewöhnlichen Leben. Aber das formt sich im Laufe der Zeit um, und man erfährt nach und nach eben vieles von einer Welt, die auch um uns ist, und in der man Dinge erlebt, von denen man nicht sagen kann, daß sie Reminiszenzen sind aus dem gewöhnlichen Wahrnehmen, weil sie ganz und gar anderer Natur sind, weil man wirklich bei diesem Erleben weiß, daß man es mit einer andern Welt zu tun hat. Da merkt man, daß der Mensch, indem er mit seinem astralischen Leib aus seiner Umgebung in seinen physischen und Ätherleib hereinkommt, das jetzt auf dem Wege des Vollatmungsprozesses tut. Der astralische Leib, der in den Sinnen tätig ist; berührt die feinen Verzweigungen des Atmungsvorganges, greift gewissermaßen in die feinen Rhythmen ein, in denen sich der Atmungsvorgang in die Sinnesgebiete fortsetzt. Der beim Aufwachen aus der Außenwelt in den physischen und Ätherleib hereinziehende Astralleib ergreift den ganzen Atmungsprozeß, der sich zwischen dem Einschlafen und Aufwachen selbst überlassen ist. Auf den Bahnen der Atmungsprozesse, der Atmungsbewegungen, kommt der astralische Leib hinein in den physischen und Ätherleib, breitet sich aus, wie sich der Atem selber ausbreitet.

Das gewöhnliche Bewußtsein stößt, möchte ich sagen, rasch beim Aufwachen hinein in die Wahrnehmung der äußeren Welt, verbindet schnell das Erleben des Atmungsprozesses mit dem gesamtorganischen Erleben. Das inspirierte Bewußtsein kann dieses Fortlaufen des astralischen Leibes auf den Bahnen des Atmungsrhythmus trennen und den übrigen organischen Prozeß gesondert wahrnehmen. Er verläuft (aber) natürlich nicht gesondert. Nicht nur in diesem Augenblicke, sondern in jedem Augenblicke steht natürlich im menschlichen Organismus die Atmungsbewegung in innigem Zusammenhang mit den übrigen Vorgängen im Organismus. Aber in der Erkenntnis, in der inspirierten Erkenntnis (siehe: Inspiration) kann das abgetrennt werden. Man verfolgt, wie der astralische Leib auf den Wegen des Atmungsrhythmus in den physischen Leib hereinkommt, und lernt da etwas kennen, was sonst völlig unbewußt bleibt. Nachdem man alle die Zustände durchgemacht hat, welche objektive – nicht subjektive – Gefühlszustände sind, die dieses Hereinkommen begleiten, weiß man, daß, indem der Mensch nun nicht bloß ein Sinnenwesen sondern ein Atmungswesen ist, er in derjenigen Welt wurzelt, welche ich in meiner «Geheimwissenschaft» (GA 13) die Welt der Archangeloi genannt habe. Geradeso wie die eine Stufe über den Menschen stehenden Wesenheiten der übersinnlichen Welt in seinem Sinnesprozeß tätig sind, sind tätig in seinem Atmungsprozesse die zwei Stufen über den Menschen stehenden geistigen Wesenheiten. Sie gehen gewissermaßen ein und aus mit unserem Einschlafen und Aufwachen. [6]

Unser Seelisches, nämlich der astralische Leib und das Ich, können zunächst nicht ganz hinein in den physischen Leib und in den Ätherleib. Sie können nämlich nie ganz hinein. Oh, was wären wir für gescheite Individuen, wenn wir ganz in unseren Ätherleib hinein könnten. Aber das zehrte uns auch auf, wir könnten es nicht ertragen. [7] Würde das Ich beim Aufwachen voll untertauchen in den physischen Leib bewußt, oder halbbewußt wie im Träume, dann würden aus dem ganzen physischen Leibe des Menschen die furchtbarsten Träume aufsteigen. Nur der Umstand, daß wir im rechten Augenblicke ins unbewußte Wollen untertauchen, dämpft die leise hinhuschenden bildhaften Träume ab, und läßt uns wiederum als ordentliche Iche und ordentliche Astralleiber in die Region des unbewußten Wollens untertauchen. [8]

Würden Sie ganz lebhaft träumen, so würden Sie sehen, wie die ganze, scharf konturierte bestimmte Tageswelt Ihres Bewußtseins auftaucht aus diesem Unbestimmten, wie wenn sich aus dem Meere heraus Wellen erheben würden, diese Wellen sich aber dann zur Tageswelt formen würden. (Dieses Unbestimmte) haben die Griechen genannt das Chaos. Noch ins Mittelalter hinein ragt irgend etwas von einer Kenntnis dessen, was so als übersinnliche, kaum schon Materie zu nennende äußere Substanz allen äußeren Substanzen zugrunde liegt, indem im Mittelalter gesprochen wird von der sogenannten Quintessenz, der fünften Wesenheit, neben den vier anderen Elementen: Erde, Wasser, Luft, Feuer – der Quintessenz. [9] (Siehe: Akasha). (Ja noch) Johann van Helmont hat den Gedanken: Ja so ein Gas, wie ich es (eben) entdeckt habe, ist sehr dünn. Es liegt dem ein anderes, noch geistigeres zu Grunde. Er schreibt: Jenen Hauch habe ich «Gas» genannt; (denn) er ist nicht weit verschieden von dem «Chaos» der Alten. Er hat das Wort Gas überhaupt nach dem Wort Chaos gebildet, um seine geheimwissenschaftlichen Begriffe in dasselbe hineinzulegen. [10]

Der Moment des Aufwachens bedeutet eine leise Andeutung alles dessen, was der Mensch in sich trägt von seinen vergangenen Erdenleben. Das wird allerdings aufgefangen durch alles das, durch das der astralische Leib und das Ich hindurchstrahlen, wenn sie sich von den Fingerspitzen und den Zehenspitzen aus in den Menschen hinein verbreiten. [11] Dasjenige, was wir da überschreiten, was uns das Geistige verdunkelt in dem Moment, wo wir aufwachen, was uns dieses Geistige nur erkennen läßt wie durch einen Schleier, das ist nichts anderes als etwas, was sich einschiebt zwischen unsere Empfindungsseele und unseren Ätherleib und unseren physischen Leib. Da schiebt es sich hinein. Die letzteren zwei Glieder verdeckt uns etwas, und dasjenige, was uns sie zudeckt im Aufwachen, was uns da geistig nicht hineinschauen läßt, das nennen wir Empfindungsleib. In dem Augenblicke, wo wir aufwachen, wird der Empfindungsleib in Anspruch genommen von dem äußeren Sinnesteppich, und wir können nicht in uns selber hineinschauen. So stellt sich dieser Empfindungsleib wie eine Grenze hin zwischen dem, was geistig der Sinnenwelt zugrunde liegt, und unser Erleben. [12]

Für das normale Bewußtsein liegt höchstens zuweilen das vor, daß der Mensch durch Verhältnisse, die in seinen vorhergehenden Verkörperungen liegen, Momente bewußten Aufwachens hat. Das kommt bei einzelnen Menschen vor. Sie wachen so auf, daß sie das Gefühl einer gewissen Beklemmung haben, dies rührt davon her, daß der innere Mensch, der während der Nacht im Makrokosmos ausgebreitet war und sich frei fühlte, sozusagen in das Gefängnis seines Leibes zurückgeht. [13] Erst etwa einundeinhalb Stunden nach dem Aufwachen können wir sagen, daß wir vollständig frei sind von dem, was da auch an etwas krankhaften Kräften aufsteigen kann, daher sind manche Menschen, wenn sie aufstehen, auch Kinder, schlecht aufgelegt, sie sind nicht heiter. [14]

Zitate:

[1]  GA 79, Seite 96   (Ausgabe 1962, 274 Seiten)
[2]  GA 349, Seite 149   (Ausgabe 1961, 264 Seiten)
[3]  GA 211, Seite 79f   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[4]  GA 211, Seite 83   (Ausgabe 1986, 223 Seiten)
[5]  GA 312, Seite 362   (Ausgabe 1976, 392 Seiten)
[6]  GA 219, Seite 111uf   (Ausgabe 1966, 212 Seiten)
[7]  GA 224, Seite 103   (Ausgabe 1966, 232 Seiten)
[8]  GA 226, Seite 73   (Ausgabe 1978, 140 Seiten)
[9]  GA 227, Seite 92f   (Ausgabe 1982, 270 Seiten)
[10]  GA 284, Seite 83   (Ausgabe 1993, 208 Seiten)
[11]  GA 239, Seite 242   (Ausgabe 1963, 276 Seiten)
[12]  GA 119, Seite 79   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[13]  GA 119, Seite 120f   (Ausgabe 1962, 279 Seiten)
[14]  GA 169, Seite 86   (Ausgabe 1963, 182 Seiten)

Quellen:

GA 79:  Die Wirklichkeit der höheren Welten. Einführung in die Anthroposophie (1921)
GA 119:  Makrokosmos und Mikrokosmos.. Die große und die kleine Welt. Seelenfragen, Lebensfragen, Geistesfragen (1910)
GA 169:  Weltwesen und Ichheit (1916)
GA 211:  Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung. Exoterisches und esoterisches Christentum (1922)
GA 219:  Das Verhältnis der Sternenwelt zum Menschen und des Menschen zur Sternenwelt. Die geistige Kommunion der Menschheit (1922)
GA 224:  Die menschliche Seele in ihrem Zusammenhang mit göttlich-geistigen Individualitäten.. Die Verinnerlichung der Jahresfeste (1923)
GA 226:  Menschenwesen, Menschenschicksal und Welt-Entwickelung (1923)
GA 227:  Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (1923)
GA 239:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Fünfter Band (1924)
GA 284:  Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen (1907)
GA 312:  Geisteswissenschaft und Medizin (1920)
GA 349:  Vom Leben des Menschen und der Erde. Über das Wesen des Christentums (1923)