Der Mensch ist nicht zufrieden mit dem, was die Natur freiwillig seinem beobachtenden Geiste darbietet. Er fühlt, daß sie, um die Mannigfaltigkeit ihrer Schöpfungen hervorzubringen, Triebkräfte braucht, die er selbst durch Beobachtung und Denken gewinnen muß. In dem menschlichen Geiste selbst liegt das Mittel, die Triebkräfte der Natur zu enthüllen. Aus dem Menschengeiste steigen die Ideen auf, die Aufklärung darüber bringen, wie die Natur ihre Schöpfungen zustande bringt. Wie die Erscheinungen der Außenwelt zusammenhängen, im Innern des Menschen wird es offenbar. Was der menschliche Geist an Naturgesetzen erdenkt: es ist nicht zur Natur hinzuerfunden, es ist die eigene Wesenheit der Natur; und der Geist ist nur der Schauplatz, auf dem die Natur die Geheimnisse ihres Wirkens sichtbar werden läßt. Was wir an den Dingen beobachten, das ist nur ein Teil der Dinge. Was in unserem Geiste emporquillt, wenn er sich den Dingen gegenüberstellt, das ist der andere Teil. Dieselben Dinge sind es, die von außen zu uns sprechen und die in uns sprechen. Erst wenn wir die Sprache der Außenwelt mit der unseres Innern zusammenhalten, haben wir die volle Wirklichkeit. Der Geist sieht das, was die Erfahrung enthält, in zusammenhängender Gestalt. Er sucht Gesetze, wo die Natur ihm Tatsachen bietet. [1] Beobachtung und Denken sind (also) die beiden Ausgangspunkte für alles geistige Streben des Menschen, insoferne er sich eines solchen bewußt ist. Die Verrichtungen des gemeinen Menschenverstandes und die verwickeltsten wissenschaftlichen Forschungen ruhen auf diesen beiden Grundsäulen unseres Geistes. Die Philosophen sind von verschiedenen Urgegensätzen ausgegangen: Idee und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, Erscheinung und Ding an sich, Ich und Nicht-Ich, Idee und Wille, Begriff und Materie, Kraft und Stoff, Bewußtes und Unbewußtes. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß allen diesen Gegensätzen der von Beobachtung und Denken, als der für den Menschen wichtigste vorangehen muß. [2] Auf keinem anderen als auf dem Wege der Erkenntnistheorie kommt man zu der Ansicht, daß das Denken der Kern der Welt ist. Denn sie zeigt uns den Zusammenhang des Denkens mit der übrigen Wirklichkeit. [3]
Ehe anderes begriffen werden kann, muß es das Denken werden. Wer es leugnet, der übersieht, daß er als (bewußter) Mensch nicht ein Anfangsglied der Schöpfung, sondern deren Endglied ist. Man kann deswegen behufs Erklärung der Welt durch Begriffe nicht von den zeitlich ersten Elementen des Daseins ausgehen, sondern von dem, was uns als das Nächste, als das Intimste gegeben ist. Wir können uns nicht mit einem Sprunge an den Anfang der Welt versetzen, um da unsere Betrachtung anzufangen, sondern wir müssen von dem gegenwärtigen Augenblick ausgehen und sehen, ob wir von dem Späteren zu dem Früheren aufsteigen können. [4]
Als das zuerst und unmittelbar Gegebene tritt uns die Sinnenwelt gegenüber; sie sieht uns wie ein ungeheures Rätsel an, weil wir das Treibende, Wirkende derselben in ihr selbst nimmermehr finden können. Da tritt die Vernunft hinzu und hält mit der idealen Welt der Sinnenwelt die prinzipielle Wesenheit gegenüber, die die Lösung des Rätsels bildet. So objektiv die Sinnenwelt, so objektiv sind diese Prinzipien. Daß sie für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft zur Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig. Gäbe es keine denkenden Wesen, so kämen diese Prinzipien zwar niemals zur Erscheinung; sie wären deshalb aber nicht minder die Essenz der Erscheinungswelt. Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lockes, Kants, des späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts, der Neukantianer und der modernen Naturforscher eine wahrhaft immanente gegenübergestellt. Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewußtsein Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem, was für die Vernunft zur Erscheinung kommt. Die transzendente Weltansicht betrachtet die begriffliche Erkenntnis als Bild der Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform derselben. Jene kann daher nur eine formale Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet: Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein. Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage: Was ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen Differenz von Denken und Sein aus, diese geht vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und weiß, daß sie außer dem Denken kein Sein finden kann. [5]
Fassen wir die an der Hand erkenntnistheoretischer Erwägungen gewonnenen Resultate zusammen, so ergibt sich folgendes: Wir haben von der völlig bestimmungslosen, unmittelbaren Form der Wirklichkeit auszugehen, von dem, was den Sinnen gegeben ist, bevor wir unser Denken in Fluß bringen, von dem nur Gesehenen, nur Gehörten usw. Es kommt darauf an, daß wir uns bewußt sind, was uns die Sinne liefern und was das Denken. Die Sinne sagen uns nicht, daß die Dinge in irgendeinem Verhältnisse zueinander stehen, wie etwa, daß dieses Ursache, jenes Wirkung ist. Für die Sinne sind alle Dinge gleich wesentlich für den Weltenbau. Das gedankenlose Betrachten weiß nicht, daß das Samenkorn auf einer höheren Stufe der Vollkommenheit steht als das Staubkorn auf der Straße. Für die Sinne sind beide gleichbedeutende Wesen, wenn sie äußerlich gleich aussehen. Napoleon ist auf dieser Stufe der Betrachtung nicht welthistorisch wichtiger als Hinz oder Kunz im abgelegenen Gebirgsdorfe. Bis hierher ist die Erkenntnistheorie von heute vorgedrungen. Daß sie aber diese Wahrheiten keineswegs erschöpfend durchdacht hat, das zeigt der Umstand, daß fast alle Erkenntnistheoretiker den Fehler machen, diesem vorläufig unbestimmten und bestimmungslosen Gebilde, dem wir auf der ersten Stufe unseres Wahrnehmens gegenübertreten, sogleich das Prädikat beizulegen, daß es Vorstellung sei. Das heißt doch gegen die eigene, eben gewonnene Einsicht in der gröbsten Weise verstoßen. So wenig wir, wenn wir bei der unmittelbaren Sinnesauffassung stehen bleiben, wissen, daß der fallende Stein die Ursache der Vertiefung an dem Orte ist, wo er aufgefallen, so wenig wissen wir, daß er Vorstellung ist. So wie wir zu jenem erst durch mannigfache Erwägungen gelangen können, so könnten wir auch zu der Erkenntnis, daß die uns gegebene Welt bloße Vorstellung sei, auch wenn sie richtig wäre, nur durch Nachdenken kommen. Ob das, was sie mir vermitteln, ein reales Wesen, ob es bloß Vorstellung ist, darüber geben mir die Sinne keinen Aufschluß. [6]
Das unmittelbar Gegebene läßt uns in der charakterisierten Form unbefriedigt. Es tritt uns wie eine Forderung, wie ein zu lösendes Rätsel gegenüber. Es sagt uns: Ich bin da; aber so wie ich dir da entgegentrete, bin ich nicht in meiner wahren Gestalt. Indem wir diese Stimme von außen vernehmen, indem wir uns bewußt werden, daß wir einer Halbheit, einem Wesen gegenüberstehen, das uns seine bessere Seite verbirgt, kündigt sich in unserem Innern die Tätigkeit jenes Organes an, durch das wir über die andere Seite des Wirklichen Aufschluß erlangen, durch das wir die Halbheit zu einer Ganzheit zu ergänzen imstande sind. Wir werden uns bewußt, daß wir das, was wir nicht sehen, hören usw., durch das Denken ergänzen müssen. Das Denken ist berufen, das Rätsel zu lösen, das uns die Anschauung aufgibt. Der Gedanke tritt in mir nicht als fertiges Gebilde auf, wie die Sinneswahrnehmung, sondern ich bin mir bewußt, daß, wenn ich ihn in einer abgeschlossenen Form festhalte, ich ihn selbst auf diese Form gebracht habe. Was mir vorliegt erscheint mir nicht als erstes, sondern als letztes, als der Abschluß eines Prozesses, der mit mir so verwachsen ist, daß ich immer innerhalb seiner gestanden habe. Das aber ist es, was ich bei einem Dinge, das in den Horizont meines Wahrnehmens tritt, verlangen muß, um es zu begreifen. Es darf mir nichts dunkel bleiben; es darf nichts als Abgeschlossenes erscheinen; ich muß es selbst verfolgen bis zu jener Stufe, wo es ein Fertiges geworden ist. Deshalb drängt uns die unmittelbare Form der Wirklichkeit, die wir gewöhnlich Erfahrung nennen, zu einer wissenschaftlichen Bearbeitung. Wenn wir unser Denken in Fluß bringen, dann gehen wir auf die uns zuerst verborgen gebliebenen Bedingungen des Gegebenen zurück; wir arbeiten uns vom Produkt zur Produktion empor wir gelangen dazu, daß uns die Sinneswahrnehmung auf dieselbe Weise durchsichtig wird wie der Gedanke. Unser Erkenntnisbedürfnis wird so befriedigt. Wir können also erst dann mit einem Dinge wissenschaftlich abschließen, wenn wir das unmittelbar Wahrgenommene mit dem Denken ganz [restlos] durchdrungen haben. Ein Prozeß der Welt erscheint nur dann als von uns ganz durchdrungen, wenn er unsere eigene Tätigkeit ist. Ein Gedanke erscheint als der Abschluß eines Prozesses, innerhalb dessen wir stehen. Das Denken ist aber der einzige Prozeß, bei dem wir uns ganz innerhalb stellen können, in dem wir aufgehen können. Daher muß der wissenschaftlichen Betrachtung die erfahrene Wirklichkeit auf dieselbe Weise als aus der Gedankenentwicklung hervorgehend erscheinen, wie ein reiner Gedanke selbst. Das Wesen eines Dinges erforschen heißt, im Zentrum der Gedankenwelt einsetzen und aus diesem heraus arbeiten, bis uns ein solches Gedankengebilde vor die Seele tritt, das uns mit dem erfahrenen Dinge identisch erscheint. Wenn wir von dem Wesen eines Dinges oder der Welt überhaupt sprechen, so können wir also gar nichts anderes meinen, als das Begreifen der Wirklichkeit als Gedanke, als Idee. In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als Idee erscheint, wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend erkannt. [7]
Wäre die Idee nicht eine auf sich selbst gebaute Wesenheit, so könnten wir ein solches Bewußtsein gar nicht haben. Wir gelangen, indem wir uns der Idee bemächtigen, in den Kern der Welt. Was wir hier erfassen, ist dasjenige, aus dem alles hervorgeht. Wir werden mit diesem Prinzipe eine Einheit; deshalb erscheint uns die Idee, die das Objektivste ist, zugleich als das Subjektivste. Die Idee ist daher an allen Orten der Welt, in allen Bewußtseinen eine und dieselbe. Daß es verschiedene Bewußtseine gibt und jedes die Idee vorstellt, ändert nichts an der Sache. Der Ideengehalt der Welt ist auf sich selbst gebaut, in sich vollkommen. Wir erzeugen ihn nicht, wir suchen ihn nur zu erfassen. Das Denken erzeugt ihn nicht, sondern nimmt ihn wahr. Es ist nicht Produzent, sondern Organ der Auffassung. So wie verschiedene Augen einen und denselben Gegenstand sehen, so denken verschiedene Bewußtseine einen und denselben Gedankeninhalt. Die mannig-faltigen Bewußtseine denken ein und dasselbe; sie nähern sich dem Einen nur von verschiedenen Seiten. Deshalb erscheint es ihnen mannigfaltig modifiziert. Diese Modifikation ist aber keine Verschiedenheit der Objekte, sondern nur ein Auffassen unter andern Gesichtswinkeln. Die Verschiedenheit der menschlichen Ansichten ist ebenso erklärlich wie die Verschiedenheit, die eine Landschaft für zwei an verschiedenen Orten befindliche Beobachter aufweist. Der vollständig von allem Gedankeninhalt entblößten Sinnenwelt stehen wir wohl niemals gegenüber. Höchstens im ersten Kindesalter, wo vom Denken noch keine Spur da ist, kommen wir der reinen Sinnesauffassung nahe. Im gewöhnlichen Leben haben wir es mit einer Erfahrung zu tun, die halb und halb von dem Denken durchtränkt ist, die schon mehr oder weniger aus dem Dunkel des Anschauens zur lichten Klarheit des geistigen Erfassens gehoben erscheint. Die Wissenschaften arbeiten darauf hinaus, diese Dunkelheit völlig zu überwinden und nichts in der Erfahrung zu lassen, was nicht von dem Gedanken durchsetzt würde. Was hat nun gegenüber den übrigen Wissenschaften die Erkenntnistheorie für eine Aufgabe erfüllt? Sie hat uns aufgeklärt über Zweck und Aufgabe aller Wissenschaft. Sie hat uns gezeigt, welche Bedeutung der Inhalt der einzelnen Wissenschaften hat. Unsere Erkenntnistheorie ist die Wissenschaft von der Bestimmung aller andern Wissenschaften. Sie hat uns aufgeklärt darüber, daß das in den einzelnen Wissenschaften Gewonnene der objektive Grund des Weltendaseins ist. [8] Wir haben allem einzelnen Dasein gegenüber die Aufgabe, es zu bearbeiten, so daß es als von der Idee ausfließend erscheint, daß es als einzelnes ganz verflüchtigt und aufgeht in der Idee, in deren Element wir uns versetzt fühlen. Unser Geist bat die Aufgabe, sich so auszubilden, daß er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art zu durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint. [9]
Die Menschenseele ist so in die Welt gestellt, daß sie wegen ihrer eigenen Wesenheit die Dinge anders macht, als sie in Wirklichkeit sind. Es liegt im Wesen der Seele, beim ersten Anblick der Dinge etwas auszulöschen, das zu ihrer Wirklichkeit gehört. Daher sind sie für die Sinne so, wie sie nicht in Wirklichkeit sind, sondern so, wie sie die Seele gestaltet. Aber ihr Schein (oder ihre bloße Erscheinung) beruht darauf, daß die Seele ihnen erst weggenommen hat, was zu ihnen gehört. Indem der Mensch nun nicht bei dem ersten Anschauen der Dinge verbleibt, fügt er im Erkennen das zu ihnen hinzu, was ihre volle Wirklichkeit erst offenbart. Was der Mensch erkennend selbstschöpferisch erzeugt, erscheint nur deshalb als eine Innenoffenbarung der Seele, weil der Mensch sich, bevor er das Erkenntniserlebnis hat, dem verschließen muß, was aus dem Wesen der Dinge kommt. Er kann es an den Dingen noch nicht schauen, wenn er ihnen zunächst sich nur entgegenstellt. Im Erkennen schließt er sich selbsttätig das zuerst Verborgene auf. Hält nun der Mensch das, was er zuerst wahrgenommen hat, für eine Wirklichkeit, so wird ihm das erkennend Erzeugte so erscheinen, als ob er es zu dieser Wirklichkeit hinzugebracht hätte. [10]
Es hängt die Entwickelung des Selbstbewußtseins gerade davon ab, daß der Seele die Möglichkeit gegeben ist, die Welt ohne den Teil der Wirklichkeit wahrzunehmen, welchen das selbstbewußte Ich auf einer gewissen Stufe, auf derjenigen, die vor seiner Erkenntnis liegt, auslöscht. – Die Weltenkräfte dieses Wirklichkeitsgliedes arbeiten also am Seelenwesen so, daß sie sich in die Verborgenheit zurückziehen, um das selbstbewußte Ich kraftvoll aufleuchten zu lassen. Dieses muß demnach einsehen, daß es seine Selbsterkenntnis einer Tatsache verdankt, welche über die Welterkenntnis einen Schleier breitet. Dadurch ist notwendig, daß alles, was die Seele zum kraftvollen, energischen Erleben des Ich bringt, die tieferen Grundlagen unoffenbar macht, in welchen dieses Ich wurzelt. Nun ist aber alle Erkenntnis des gewöhnlichen Bewußtseins eine solche, welche das Kraftvolle des selbstbewußten Ich bewirkt. Gibt man zu, daß die Dinge so stehen, so kann man die Antwort auf die Rätselfragen der Philosophie nicht in den Erlebnissen der Seele suchen, die sich dem gewöhnlichen Bewußtsein darbieten. Dieses Bewußtsein ist dazu berufen, das selbstbewußte Ich zu erkraften; es muß, zu diesem Ziele strebend, den Ausblick in den Zusammenhang des Ich mit der objektiven Welt verschleiern, kann also nicht zeigen, wie die Seele mit der wahren Welt zusammenhängt.
Damit ist der Grund angedeutet, warum ein Erkenntnisstreben, welches mit den Mitteln der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart oder mit ähnlichem philosophisch vorwärts kommen will, stets an einem Punkte anlangen muß, wo ihm das Erstrebte im Erkennen zerfällt. [11]
Will die Seele zu den Quellen kommen, aus denen die Erlebnisse der Seele aus der wahren Wirklichkeit hervorsprudeln, so muß sie aus diesem gewöhnlichen Bewußtsein herausdringen. Sie muß etwas in sich erleben, was ihr dieses Bewußtsein nicht geben kann. Solange man die Seelenerlebnisse nimmt, wie sie sich dem gewöhnlichen Bewußtsein darbieten, solange kommt man nicht in die Tiefen der Seele. Mittel, tiefer in die Seele einzudringen, bieten sich dar, wenn man den Blick auf dasjenige richtet, was im gewöhnlichen Bewußtsein zwar mitarbeitet, aber in seiner Arbeit gar nicht in dieses Bewußtsein eintritt. Wenn der Mensch denkt, so ist sein Bewußtsein auf die Gedanken gerichtet. Er will durch die Gedanken etwas vorstellen; er will im gewöhnlichen Sinne richtig denken. Man kann aber auch die Tätigkeit des Denkens als solche in das Geistesauge fassen. Es kommt hierbei nicht darauf an, in Gedanken zu leben, sondern darauf, die Denktätigkeit zu erleben. Auf diese Weise reißt sich die Seele los von dem, was sie in ihrem gewöhnlichen Denken vollführt. Sie wird dann, wenn sie solche innere Übung genügend lange fortsetzt, nach einiger Zeit erkennen, wie sie in Erlebnisse hineingeraten ist, welche sie abtrennen von demjenigen Denken und Vorstellen, das an die leiblichen Organe gebunden ist. Ein gleiches kann man vollziehen mit dem Fühlen und Wollen der Seele, ja, auch mit dem Empfinden, dem Wahrnehmen der Außendinge. Durch eine Seelenarbeit, die durch Übung zu einem solchen Verharren in der inneren Tätigkeit des Denkens, Fühlens und Wollens gelangt, daß diese Erlebnisse gewissermaßen sich geistig in sich «verdichten». Sie offenbaren dann in dieser «Verdichtung» ihr inneres Wesen, das im gewöhnlichen Bewußtsein nicht wahrgenommen werden kann. Man entdeckt durch solche Seelenarbeit, daß für das Zustandekommen des gewöhnlichen Bewußtseins die Seelenkräfte sich so «verdünnen» müssen und daß sie in dieser Verdünnung unwahrnehmbar werden. Die hier gemeinte Seelenarbeit besteht in der unbegrenzten Steigerung von Seelenfähigkeiten, welche auch das gewöhnliche Bewußtsein kennt, die dieses aber in solcher Steigerung nicht anwendet.
Es sind die Fähigkeiten der Aufmerksamkeit und der liebevollen Hingabe an das von der Seele Erlebte. Es müssen, um das Angedeutete zu erreichen, diese Fähigkeiten in einem solchen Grade gesteigert werden, daß sie wie völlig neue Seelenkräfte wirken. Indem man so vorgeht, ergreift man in der Seele ein wirkliches Erleben, dessen eigene Wesenheit sich als eine solche offenbart, welche von den Bedingungen der leiblichen Organe unabhängig ist. [12]
Und als eine erste Erfahrung dieses errungenen neuen Geisteslebens stellt sich die wahre Erkenntnis des gewöhnlichen Seelenlebens dar. In Wahrheit ist auch dieses nicht durch den Leib hervorgebracht, sondern es verläuft außerhalb des Leibes. Ich lebe mit der Farbe außer meinem Leibe; durch die Tätigkeit des Leibes (des Auges, des Nervensystems) wird mir die Farbe zur bewußten Wahrnehmung gemacht. Nicht ein Hervorbringer der Wahrnehmungen, des Seelischen überhaupt, ist der Menschen-leib, sondern ein Spiegelungsapparat dessen, was außerhalb des Leibes seelisch-geistig sich abspielt.
Während des menschlichen Schlafes ist die spiegelnde Wechselwirkung zwischen dem Leibe und der Seele unterbrochen. Daher verläuft der Schlaf unbewußt. Durch die angedeuteten und ähnlichen Seelenübungen wird bewirkt, daß die Seele ein anderes als das gewöhnliche Bewußtsein entfaltet. Sie gelangt dadurch zu der Fähigkeit, rein seelisch-geistig nicht nur zu erleben, sondern auch das Erlebte in sich so zu erstarken, daß dieses sich gewissermaßen ohne die Hilfe des Leibes in sich selbst spiegelt (siehe dazu: Ätherarten – Wärmeäther) und sie so zur geistigen Wahrnehmung kommt. Und in dem so Erlebten kann erst die Seele sich selbst wahrhaft erkennen, kann sie sich in ihrem Wesen bewußt erleben. – Wie die Erinnerung vergangener Tatsachen des physischen Erlebens aus den Tiefen der Seele heraufzaubert, so treten vor eine Seele, welche sich durch die charakterisierten Verrichtungen dazu bereitgemacht hat, aus deren inneren Tiefen wesenhafte Erlebnisse herauf, welche nicht der Welt des Sinnesseins angehören, doch aber einer Welt, in welcher die Seele ihr Grundwesen hat. [13]
In der Seele eröffnet sich so der Ausblick auf eine Wirklichkeit, welche den Sinnen unzugänglich ist. Und dieses Erleben offenbart sich als ein Individuelles. Es tritt auf wie ein höherer Mensch, der zu dem physischen Menschen wie zu seinem Werkzeuge steht. [14]
Dieser gegenwärtige physische Leib hat wohl der Seele die Möglichkeit gegeben, Erlebnisse im Zusammenhange mit der Außenwelt zu haben, welche den geistig-seelischen Menschen anders machen als er war, da er das Leben in diesem physischen Leibe angetreten hat; doch ist dieser Leib gewissermaßen zu bestimmt gestaltet, als daß der geistig-seelische Mensch ihn nach den in ihm gemachten Erlebnissen umformen könnte. So steckt in dem Menschen ein geistig-seelisches Wesen, das die Anlage zu einem neuen Menschen enthält. [15] Dazu kommt, daß das Einleben der Seele in die vom Leibe unabhängige Geisteswelt ihr das wahrhaft Geistig-Seelische auf eine ähnliche Art ins Bewußtsein treten läßt, wie in der Erinnerung Vergangenes auftaucht. Doch zeigt sich dieses Geistig-Seelische als über das Einzelleben hinausreichend. Wie, was ich jetzt in meinem Bewußtsein trage, in sich die Ergebnisse meines früheren physischen Erlebens in sich enthält, so offenbart sich der durch die angedeuteten Übungen gegangenen Seele das ganze physische Erleben, mit der besonderen Gestaltung des Leibes, als geformt von dem geistig-seelischen Wesen, das der Leibesbildung vorangegangen ist. Es führt zur Erkenntnis, daß die Menschenseele in wiederholten Erdenleben lebt, und daß zwischen diesen Erdenleben rein geistiges Dasein liegt. [16] Auf diesem Wege wird auch erkannt, daß der Ursprung der sittlichen Impulse in derjenigen Welt liegt, welche die Seele leibfrei anschaut. [17]
Wodurch kommen wir überhaupt dazu, irgendeinen Satz aufzustellen über das, was unsere Erkenntnis ist? Nun zeigt Ihnen schon die leiseste Selbstbesinnung, daß Ihr Denken etwas über Sie Hinausgehendes ist. Es hat mit Ihrem Ich nichts zu tun, daß zwei mal zwei gleich vier ist. Nichts im Felde der Weisheit hat mit Ihrem Ich zu tun. Weil Sie sich zu einem objektiven, in sich geschlossenen Denken erheben können, können Sie auch objektiv über die Welt urteilen. Alle Denker setzen diesen Satz schon voraus, sonst könnten sie sich gar nicht hinsetzen und über die Welt nachdenken. [18]
Wenn kein Gedanke und kein Begriff im Raume draußen wäre, dann könnte man auch keine herausholen. Es wäre illusionär, über die Welt nachzudenken, wenn die Welt nicht nach Gedanken aufgebaut wäre. Der Stein, über den Sie nachdenken und den Sie begreifen, muß durch einen Gedanken entstanden sein, sonst könnte der Gedanke nicht herausgeholt werden. Wenn Sie sich nicht in groteske Widersprüche verwickeln wollen, so müssen Sie zugeben, daß die Gedanken in der Welt draußen ebenso wahr sind wie die Gedanken in Ihrem Kopf drinnen. Sie denken, und die Gedanken, die in Ihnen leben, sind keine anderen als die, welche die Welt aufgebaut haben. Was in meinem Kopfe als Gedanke aufleuchtet, das hat mit der ganzen Außenwelt etwas zu tun. Das ist zunächst Geist draußen in der Welt, und dann die Wiederholung des Geistes in der eigenen Seele. [19] Wodurch entstand denn eigentlich die Schwierigkeit des Nominalismus? Wodurch entstand der ganze Kantianismus? Dadurch, daß die Wahrnehmungswelt genommen wird, dann beobachtet man die Wahrnehmungswelt und breitet über sie durch das Seelenleben die Ideenwelt aus. Nun hat man die Anschauung, als ob diese Ideenwelt die äußeren Wahrnehmungen abbilden sollte. Aber die Ideenwelt ist im Inneren. Was hat diese im Inneren des Menschen befindliche Ideenwelt mit dem, was da draußen ist, zu tun? Diese Frage konnte Kant nicht anders beantworten als dadurch, daß er sagte: Also stülpen wir eben über die Wahrnehmungswelt die Ideenwelt drüber, machen wir die Wahrheit. – So ist die Sache nicht. Die Sache ist so, daß, wenn wir die Wahrnehmung unbefangen betrachten, sie ein Nichtfertiges ist, überall ein Nicht-in-sich-Abgeschlossenes. Indem wir uns hereingestellt haben in die Welt, indem wir hereingeboren sind in die Welt, spalten wir den Weltinhalt in die Wahrnehmung, die uns von außen erscheint, und in die Ideenwelt, die uns im Inneren der Seele erscheint. [20] Dadurch, daß ich lebe, daß ich werde, daß ich mich entwickle, bringe ich die zwei Strömungen der Wirklichkeit zusammen. Ich in meinem Erkenntniserleben arbeite mich in die Wirklichkeit hinein. Ich würde niemals zu einem Bewußtsein gekommen sein, wenn ich mir nicht abgespalten hätte durch mein Hereingehen in die Welt die Ideenwelt von der äußeren Wahrnehmungswelt. Aber ich würde niemals die Brücke zur Welt finden, wenn ich dasjenige, was ich mir abgespalten habe, die Ideenwelt, nicht wiederum in Vereinigung brächte mit dem, was ohne diese Ideenwelt eben keine Wirklichkeit ist.
Kant sucht die Wirklichkeit bloß in der äußeren Wahrnehmung und ahnt gar nicht, daß diese andere Hälfte der Wirklichkeit gerade in dem liegt, was wir in uns tragen. Wir haben das, was wir als Ideenwelt in uns tragen, erst der äußeren Wirklichkeit entrissen. Jetzt ist der Nominalismus gelöst, denn jetzt stülpen wir nicht irgendwie formal Raum und Zeit und Ideen, die bloße Nomina wären, über die äußere Wahrnehmung hinüber, sondern jetzt geben wir in ihrem Erkennen der Wahrnehmung zurück, was wir ihr, wenn wir bei unserer Geburt ins sinnliche Dasein treten, genommen haben. [21]
[1] | GA 30, Seite 201f | (Ausgabe 1961, 629 Seiten) |
[2] | GA 4, Seite 38 | (Ausgabe 1973, 278 Seiten) |
[3] | GA 2, Seite 80 | (Ausgabe 1960, 150 Seiten) |
[4] | GA 4, Seite 53 | (Ausgabe 1973, 278 Seiten) |
[5] | GA 1, Seite 156f | (Ausgabe 1987, 350 Seiten) |
[6] | GA 1, Seite 157f | (Ausgabe 1987, 350 Seiten) |
[7] | GA 1, Seite 160ff | (Ausgabe 1987, 350 Seiten) |
[8] | GA 1, Seite 163ff | (Ausgabe 1987, 350 Seiten) |
[9] | GA 1, Seite 167 | (Ausgabe 1987, 350 Seiten) |
[10] | GA 18, Seite 597ff | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[11] | GA 18, Seite 601f | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[12] | GA 18, Seite 603ff | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[13] | GA 18, Seite 606ff | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[14] | GA 18, Seite 610f | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[15] | GA 18, Seite 612 | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[16] | GA 18, Seite 614f | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[17] | GA 18, Seite 621f | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[18] | GA 52, Seite 132f | (Ausgabe 1972, 442 Seiten) |
[19] | GA 54, Seite 67 | (Ausgabe 1966, 540 Seiten) |
[20] | GA 74, Seite 96f | (Ausgabe 1967, 117 Seiten) |
[21] | GA 74, Seite 98 | (Ausgabe 1967, 117 Seiten) |
GA 1: | Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. Zugleich eine Grundlegung der Geisteswissenschaft (Anthroposophie) (1884-1897) |
GA 2: | Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, mit besonderer Rücksicht auf Schiller (1886) |
GA 4: | Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung – Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894) |
GA 18: | Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914) |
GA 30: | Methodische Grundlagen der Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, Naturwissenschaft, Ästhetik und Seelenkunde (1884-1901) |
GA 52: | Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung (1903/1904) |
GA 54: | Die Welträtsel und die Anthroposophie (1905/1906) |
GA 74: | Die Philosophie des Thomas von Aquino (1920) |