Kant

Kant hat es sich sauer werden lassen, dürfen wir sagen, den Geltungswert der Ideen und Ideale für die menschliche Seele zu erobern. Bevor er an seine Vernunftkritik gegangen ist, setzte er sich auseinander mit dem Geisterseher Swedenborg. Was diesem Swedenborg aufgegangen ist als eine geistige Schau über das, was hinter der sinnlichen Welt liegt, das prüfte Kant, prüfte es in der Absicht, um eine Anschauung darüber zu gewinnen, ob es noch einen anderen Weg gibt durch die Tore der Natur hinein zu den Quellen der Natur und des geistigen Daseins als denjenigen, den äußeres Verstandeswissen sich zu erobern vermag. Und aus der Betrachtung des Geistersehers Swedenborg ging Kant das hervor, was ihm als Ziel vorschwebte: den Schauplatz der Gedanken weitzumachen für Ideen und Ideale dadurch, daß das Wissen entthront wurde, das sich nur mit der äußeren Erscheinungswelt befassen kann. [1]

Der Weg, auf dem Kant zu seinen Ergebnissen gekommen ist, war durch die Gedankenwelt Humes gegangen. Bei diesem fand er die Ansicht, daß die Dinge und Vorgänge der Welt der menschlichen Seele gar keine gedanklichen Zusammenhänge offenbaren, daß der menschliche Verstand sich nur gewohnheitsmäßig solche Zusammenhänge vorstelle, wenn er die Weltdinge und Weltvorgänge in Raum und Zeit nebeneinander und nacheinander wahrnehme. Daß der menschliche Verstand das, was ihm Erkenntnis scheint, nicht aus der Welt erhalte: diese Meinung Humes machte auf Kant Eindruck. Es ergab sich für ihn der Gedanke als eine Möglichkeit: die Erkenntnisse des menschlichen Verstandes kommen nicht aus der Weltwirklichkeit. [2]

Aus einem Schüler Wolffs ist etwas anderes dadurch geworden, daß ihn der englische Philosoph David Hume, wie er selber sagt, aus dem dumpfen dogmatischen Schlummer geweckt hat. Da ist in Kant – es paßte nur schlecht in ihn herein, weil er zu stark verstrickt war mit dem Mitteleuropäertum – hineingefahren dasjenige, was jetzt die Westkultur ist. [3]

Wichtiger ist es für Kant, viel wichtiger: Wie verhält sich dasjenige, was wir Begriffe nennen, was überhaupt der ganze Inhalt der Erkenntnis ist, zu einer äußeren Wirklichkeit? – als dieser Inhalt der Erkenntnis selbst. So paradox das sich ausnimmt: Kant sucht sich ein Prinzip der Gewißheit dadurch, daß er überhaupt leugnet, (nämlich daß) wir nehmen den Inhalt unserer Erkenntnis aus den Dingen, und (er) behauptet, wir nehmen ihn aus uns selber und legen ihn in die Dinge hinein. Das heißt mit anderen Worten, und das ist eben die Paradoxie: Wir haben Wahrheit, weil wir sie selber machen, wir haben im Subjekte Wahrheit, weil wir sie selbst erzeugen. Wir tragen die Wahrheit erst in die Dinge hinein. Da haben Sie die letzte Konsequenz des Nominalismus. Der Kantianismus ist damit in einer gewissen Weise die äußerste Spitze des Nominalismus, in einer gewissen Weise der äußerste Niedergang der abendländischen Philosophie, der vollständige Bankrott des Menschen in bezug auf sein Wahrheitsstreben, die Verzweiflung daran, daß man irgendwie aus den Dingen heraus die Wahrheit gewinnen könnte. Kant hat alle Objektivität, alle Möglichkeit des Menschen, in die Realität der Dinge unterzutauchen, zerstört. Er hat jedes mögliche Wahrheitsstreben zerstört, denn Wahrheit kann nicht bestehen, wenn sie nur im Subjekte gemacht wird. [4]

Es gibt von Kant eine Kritik der reinen Vernunft, worin er alles dasjenige sagt, was er zu sagen hat über die Naturerkenntnis. Und auf der anderen Seite gibt es von ihm eine Kritik der praktischen Vernunft, in welcher er spricht von den sittlichen Ideen. Man möchte sagen: Für ihn entspringt das gesamte menschliche Leben aus zwei voneinander ganz getrennten Wurzeln, die er in seinen zwei Haupt – Kritiken beschreibt. [5]

Es entstand durch das Mittelalter und hinauf bis zu Kant die Behauptung: Man könne nichts wissen über das Geistige; vom Geistigen kann man nur etwas glauben. Die Kirchen, die kommen natürlich mit dieser Lehre, daß man vom Geistigen nichts wissen könne, das müsse man glauben, sehr gut weg, denn dann können sie daraus diktieren, was der Mensch vom Geistigen glauben soll! Nun gab es Philosophen, – Leibniz, Wolff und so weiter –, die bis zu Kant hin behaupteten, daß man wenigstens einiges wissen kann, durch bloße Vernunft wissen kann, was in der Welt Geistiges ist. Kant sagte nun: Das ist alles Unsinn, zu glauben, daß man irgend etwas vom Geistigen wissen kann, sondern das Geistige muß man alles bloß glauben! – Und Kant hat auch, als er die 2. Auflage seiner «Kritik der reinen Vernunft» geschrieben hat, sich verraten. Da steht ein kurioser Satz drinnen: «Ich mußte das Wissen absetzen, um für den Glauben Platz zu bekommen». Das ist das Bekenntnis. Das ist dasjenige, was zum unbekannten «Ding an sich» geführt hat. So ist eigentlich die Lehre von Kant eine Stütze des Glaubens geworden. [6]

Zitate:

[1]  GA 64, Seite 373   (Ausgabe 1959, 495 Seiten)
[2]  GA 18, Seite 146f   (Ausgabe 1955, 688 Seiten)
[3]  GA 200, Seite 21   (Ausgabe 1970, 154 Seiten)
[4]  GA 74, Seite 88f   (Ausgabe 1967, 117 Seiten)
[5]  GA 191, Seite 126   (Ausgabe 1983, 296 Seiten)
[6]  GA 353, Seite 222f   (Ausgabe 1968, 308 Seiten)

Quellen:

GA 18:  Die Rätsel der Philosophie. in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914)
GA 64:  Aus schicksaltragender Zeit (1914/1915)
GA 74:  Die Philosophie des Thomas von Aquino (1920)
GA 191:  Soziales Verständnis aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (1919)
GA 200:  Die neue Geistigkeit und das Christus-Erlebnis des zwanzigsten Jahrhunderts (1920)
GA 353:  Die Geschichte der Menschheit und die Weltanschauungen der Kulturvölker (1924)