So haben wir heute zwei Extreme der menschlichen Seelenverfassung: auf der einen Seite den Materialismus, der ahrimanisch ist, auf der anderen Seite den Mystizismus, der luziferisch ist. Wir haben auf der einen Seite den großen Weltanschauungszug vom Westen nach dem Osten, der nur aus der Materie heraus eine mechanistische Naturwissenschaft erarbeitet, der sozusagen unsere äußere Bildung durchzieht. Wir haben auf der anderen Seite den Zug vom Osten nach dem Westen, der wahrhaftig heute nicht wenig Geister ergreift, der immer mehr Geister ergreifen wird. Und man möchte wünschen, daß dasjenige, was Anthroposophie ist, von diesen Geistern nicht dadurch zerstört wird, daß es gerade von ihnen im Geiste einer schwärmerischen Mystik ausgelegt wird. Wir haben ja diese andere Strömung, die nur schöpfen will aus einer weltfremden Sphäre, wir haben insbesondere diesen Zug in derjenigen theosophischen Weltanschauung vorhanden, welche herübertragen will aus dem Orient längst verklungene Dinge, die heute für die Menschheit durchaus nicht taugen. In diesem Mitteleuropa hat sich vorbereitet die höhere Synthese, der Zusammenklang, die höhere Harmonie dieser zwei Extreme, aus welcher Harmonie, aus welchem Zusammenklang allein ein Fortschritt für die Menschheit ersprießen kann. Denn hier in Mitteleuropa haben gegipfelt geistige Strömungen, die aus wirklich bedeutsamen Untergründen hervorgegangen sind – zuletzt aus dem, was, wie abglimmend dazumal und überwuchert von dem anderen, zunächst als eine intellektualistische Spiritualität im deutschen Idealismus erschienen ist, in solchen Weltanschauungen wie sie FichteSchelling, Hegel hatten, wovon diejenige Schellings sogar an ihrem Ende nahe daran war, herauszugebären nach und nach dasjenige, was hätte einlaufen können in eine wirkliche anthroposophische Geisteswissenschaft, für die nur die Zeit dazumal noch nicht reif war. Aber es erscheint einem ja so, als ob sich alle Welt verschworen hätte, dasjenige, was da im Anzuge war, nur ja nicht irgendwie zu einer Entfaltung kommen zu lassen. Ich möchte sagen: Vom Orient und Okzident aus sind Luzifer und Ahriman verschworen, daß diese Synthese nicht gedeihen kann. Denn hier in dieser mittleren Gegend der Erde sind eigentlich diejenigen Menschen gewesen, die, wenn sie auch wegen der Verhältnisse der Zeiten manchmal auf halbem Wege haben stehenbleiben müssen, nach der Geistigkeit gestrebt haben, aber zu gleicher Zeit gestrebt haben nach einer hingebungsvollen Naturerkenntnis. [1] Hier in Mitteleuropa wären im Grunde genommen diejenigen Menschen vorhanden, die wirklich auf der einen Seite sich erheben wollten zur Geistigkeit und die auf der anderen Seite auch einen Sinn hätten für das Erfassen der ganzen Breite der äußeren natürlichen Erscheinungswelt. Das ist dasjenige, was heute notwendig ist. Nur aus diesem Geiste heraus kann die Menschheit vorwärtskommen. Daher ist es auf dem Erkenntnisgebiet ebenso notwendig, daß die Menschen heute sich vertiefen in dasjenige, was Naturanschauung bieten kann, wie es auf der anderen Seite notwendig ist, daß sie sich vertiefen in dasjenige, was Geisteswissenschaft bringen kann. Weder das eine noch das andere enthält die volle Wahrheit, allein der Zusammenklang von beiden in der menschlichen Seele gibt die volle Wahrheit. Und ebenso ist es auf praktischem Gebiet. [2]
Der Philosoph Schelling bekam durch besondere Gnadenaugenblicke den einen oder den anderen Eindruck aus der geistigen Welt. [3] In Schelling wirkte geistige Inspiration fortdauernd herein. [4] Da, als ich Schelling wirklich nun in seinem biographischen Werdegang verfolgen konnte, aber nicht deutlich, klar wurde das erst viel, viel später, als ich meine «Rätsel der Philosophie» geschrieben hatte –, da konnte ich – wie gesagt, nicht ganz deutlich – wahrnehmen, wie vieles in Schellings Schriften eigentlich von ihm nur unter Inspiration niedergeschrieben ist, und daß die inspirierende Individualität Julian Apostata – Herzeloyde – Tycho Brahe ist, der nicht wieder selber auf dem physischen Plane erschienen ist, aber durch Schellings Seele ungeheuer viel gewirkt hat. Und dabei wurde ich gewahr, daß gerade dieser Tycho Brahe in einer eminent starken Weise nach seinem Tycho Brahe-Dasein fortgeschritten ist. Durch Schellings Leiblichkeit konnte ja nur wenig durchgehen. Aber wenn man das einmal weiß, daß da Tycho Brahes Individualität als inspirierend über Schelling schwebt, und dann die genialen Blitze in den «Gottheiten von Samothrake», die genialen Blitze namentlich am Schlusse der «Philosophie der Offenbarung» liest, mit der in ihrer Art doch großartigen Interpretation Schellings der alten Mysterien, und namentlich wenn man sich in die Sprache, die Schelling da führt, in die so merkwürdige Sprache vertieft, dann hört man bald nicht Schelling reden, sondern Tycho Brahe, der ja auch als Individualität in Julian viel dazu beigetragen hat, daß manches heraufgekommen ist im neueren Geistesleben, was dennoch wiederum so anregend gewirkt hat, daß wenigstens die äußeren Formen des Ausdruckes für das anthroposophisch Geartete manchmal davon hergenommen sind. [5]
Schelling genoß in München den anregenden Umgang mit Franz Xaver Baader, dessen philosophische Ideen sich ganz in der Richtung jener älteren Lehre (des Jakob Böhme) bewegten. Dies ist die Veranlassung, daß er sich selbst in diese Gedankenwelt einlebte. [6] Das Beste, das in Jakobs Böhmes Schriften auf so ungelehrte Art pulsiert, ist volkstümlicher Erkenntnisweg, ist ein Ergebnis des Volksgemütes selber. Und Schelling hat heraufgehoben in die Art der denkerischen Betrachtung, was dieses Volksgemüt in Jakob Böhmes ungelehrter, aber erleuchteter Seele erschaut hat. [7]
Die eigentliche Meinung Schellings über die Einheit von Natur und Geist ist selten richtig erfaßt worden. Man muß sich ganz in seine Vorstellungsart versetzen, wenn man darunter nicht eine Trivialität oder eine Absurdität verstehen will. Hier soll, um diese Vorstellungsart zu verdeutlichen auf einen Satz in seinem Buche «Von der Weltseele» hingewiesen werden, in dem er sich über die Natur der Schwerkraft ausspricht. Viele sehen eine Schwierigkeit in diesem Begriffe, weil er eine sogenannte «Wirkung in die Ferne» voraussetzt. Die Sonne wirkt anziehend auf die Erde, trotzdem nichts zwischen Sonne und Erde ist, was diese Anziehung vermittelt. Man muß sich denken, daß die Sonne durch den Raum hindurch ihre Wirkungssphäre auf Orte ausdehnt, an denen sie nicht ist. Diejenigen, die in grobsinnlichen Vorstellungen leben, sehen in einem solchen Gedanken eine Schwierigkeit. Wie kann ein Körper da wirken, wo er nicht ist? Schelling kehrt den ganzen Gedankenprozeß um. Er sagt: «Es ist sehr wahr, daß ein Körper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr, daß er nur da ist, wo er wirkt. «Wenn wir die Sonne durch die Anziehungskraft auf unsere Erde wirken sehen, so folgt daraus, daß sie sich in ihrem Sein bis auf unsere Erde erstreckt und daß wir kein Recht haben, ihr Dasein nur an den Ort zu versetzen, an dem sie durch ihre Sichtbarkeit wirkt. Die Sonne geht mit ihrem Sein über die Grenzen hinaus, innerhalb deren sie sichtbar ist; nur einen Teil ihres Wesens sieht man; der andere gibt sich durch die Anziehung zu erkennen. So ungefähr müssen wir uns auch das Verhältnis des Geistes zur Natur denken. Der Geist ist nicht nur da, wo er wahrgenommen wird, sondern auch da, wo er wahrnimmt. Sein Wesen erstreckt sich bis an die fernsten Orte, an denen er noch Gegenstände beobachten kann. Er umspannt und durchdringt die ganze ihm bekannte Natur. Wenn er das Gesetz eines äußeren Vorganges denkt, so bleibt dieser Vorgang nicht außen liegen, und der Geist nimmt bloß ein Spiegelbild auf, sondern dieser strömt sein Wesen in den Vorgang hinein; er durchdringt den Vorgang, und wenn er dann das Gesetz desselben findet, so spricht nicht er es in seinem abgesonderten Gehirnwinkel aus, sondern das Gesetz spricht sich selbst aus. Der Geist ist dorthin gegangen, wo das Gesetz wirkt. Hätte er es nicht beachtet, so hätte es auch gewirkt; aber es wäre nicht ausgesprochen worden. Da der Geist in den Vorgang gleichsam hineinkriecht, so wird das Gesetz auch noch außerdem, daß es wirkt, als Idee, als Begriff ausgesprochen. Nur wenn
der Geist auf die Natur keine Rücksicht nimmt und sich selbst anschaut, dann kommt es ihm vor, als wenn er abgesondert von der Natur wäre, wie es dem Auge vorkommt, daß die Sonne innerhalb eines gewissen Raumes eingeschlossen sei, wenn davon abgesehen wird, daß sie auch da ist, wo sie durch Anziehung wirkt. Lasse ich also in meinem Geiste die Ideen entstehen, die Naturgesetze ausdrücken, so ist ebenso wahr, wie die eine Behauptung: daß ich die Natur schaffe, die andere: daß sich in mir die Natur selber schafft. [8]
Lehrte in Jena doch auch Schelling, der dann aus einem ähnlichen Streben wie Fichte sich wirklich durchrang, wie ich oftmals betonte, zu einer recht tiefen Auffassung des Christentums, ja des Mysteriums von Golgatha, der sich geradezu zu einer Art von Theosophie hinwendete, die er dann, allerdings ohne von seinen Zeitgenossen verstanden zu werden, in seiner «Philosophie der Mythologie» und in seiner «Philosophie der Offenbarung» zum Ausdrucke brachte, die aber schon lebte in jener Abhandlung, die er in Anlehnung an Jakob Böhme geschrieben hat über die menschliche Freiheit und andere damit zusammenhängende Gegenstände, schon lebte in seinem Gespräche «Bruno oder über das göttliche und das natürliche Prinzip der Dinge», namentlich lebte in seiner schönen Abhandlung «Über die Gottheiten von Samothrake», wo er ein Bild aufrollte von dem, was nach seiner Ansicht wirklich gelebt hat in jenen alten Mysterien. [9] Eine der besten Ausführungen in Schellings «Philosophie der Offenbarung» ist, daß er darauf hinweist, daß es beim Christentum weniger ankommt auf irgendeine Lehre, als auf die Auffassung einer Tatsache. Was geschehen ist am Ausgangspunkte des Christentums, das ist eine Tatsache. Wenn man nur von einer Lehre spricht, dann wird man sehr leicht verleitet werden können, auf diese Lehre hin dogmatisieren zu wollen. Wenn man sich aber über die Entwickelung der Menschheit klar ist, so muß man sich sagen: Lehren sind in lebendiger Fortentwickelung; Lehren schreiten, so wie die Menschheit selber, fort. Tatsachen stehen natürlich an der Stelle der geschichtlichen Entwickelung, an der sie geschehen sind. [10]
[1] | GA 203, Seite 56f | (Ausgabe 1978, 342 Seiten) |
[2] | GA 203, Seite 60 | (Ausgabe 1978, 342 Seiten) |
[3] | GA 329, Seite 307 | (Ausgabe 1985, 348 Seiten) |
[4] | GA 238, Seite 99 | (Ausgabe 1960, 184 Seiten) |
[5] | GA 238, Seite 101f | (Ausgabe 1960, 184 Seiten) |
[6] | GA 18, Seite 220f | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[7] | GA 20, Seite 43 | (Ausgabe 0, 0 Seiten) |
[8] | GA 18, Seite 214f | (Ausgabe 1955, 688 Seiten) |
[9] | GA 273, Seite 61 | (Ausgabe 1981, 286 Seiten) |
[10] | GA 332a, Seite 143 | (Ausgabe 1977, 238 Seiten) |
GA 18: | Die Rätsel der Philosophie. in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt (1914) |
GA 20: | Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten (1916) |
GA 203: | Die Verantwortung des Menschen für die Weltentwickelung durch seinen geistigen Zusammenhang mit dem Erdplaneten und der Sternenwelt (1921) |
GA 238: | Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924) |
GA 273: | Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes «Faust» Band II: Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht (1916-1919) |
GA 329: | Die Befreiung des Menschenwesens als Grundlage für eine soziale Neugestaltung. Altes Denken und neues soziales Wollen (1919) |
GA 332a: | Soziale Zukunft (1919) |