Christus Leben
► Pfingstereignis

Die Menschen, die Materialisten sein wollen, die durchaus nur an das glauben wollen, was sich dem materialistischen Bewußtsein im Sinnensein ergibt, sie können keinen Weg finden zu dem Christus Jesus. Denn dieser Weg ist abgeschnitten worden dadurch, daß diejenigen, welche dem Christus am nächsten standen, ihn gerade, während sich das Mysterium von Golgatha vollzogen hat, verlassen haben und ihn erst später (als Äthergestalt) wiedergetroffen haben, also nicht mitgemacht haben, was sich dazumal auf dem physischen Plan in Palästina zugetragen hat. Und daß keine irgendwie glaubwürdigen Dokumente von der anderen Seite (Judentum) gegeben worden sind, das weiß ja jedermann. Dennoch haben wir in den Evangelien Schilderungen gerade dieses Mysteriums von Golgatha. Wie sind diese Schilderungen zustande gekommen? Es wird uns hinlänglich (zum Beispiel) auch im Markus-Evangelium angedeutet, wenn auch kurz und prägnant, nach der Auferstehungsszene, daß der Jüngling im weißen Talar, das heißt der kosmische Christus, nachdem das Mysterium sich vollzogen hatte, den Jüngern wieder sich gezeigt hat, auf die Jünger Impulse ausgeübt hat. Und so konnten denn solche Jünger, solche Apostel, wie es etwa Petrus war, nachher dadurch, daß sie durchdrungen waren von dem Impuls, der auf sie ausgeübt wurde, zum hellseherischen Schauen entflammt werden, so daß sie das, was sie nicht mit physischen Augen mit angesehen haben, weil sie entflohen waren, hinterher hellseherisch geschaut haben. [1] Bei einem solchen Hellsehen, das da bei den Jüngern auftrat, ist es gegenüber dem gewöhnlichen Erinnern so, daß man Ereignisse physisch-sinnliche – wie im Gedächtnis hat, aber solche, bei denen man nicht dabeigewesen ist. Aber der Impuls, der von dem Christus auf solche Jünger wie Petrus ausgegangen war, konnte sich mitteilen auch an die, welche wieder Schüler dieser Jünger waren. Ein solcher Schüler des Petrus war der, welcher ursprünglich zusammengestellt hat – allerdings nur mündlich – das sogenannte Markus-Evangelium. So ging der Impuls, der sich in Petrus selber geltend gemacht hatte, auf die Markus-Seele über, so daß Markus selber in seiner eigenen Seele das aufleuchten sah, was in Jerusalem als Mysterium von Golgatha sich vollzogen hatte. [2]

Wie erwachend kamen sich die Apostel vor, wie Menschen, welche in diesem Augenblick das Empfinden hatten, daß sie lange Zeit – viele Tage hindurch – in einem ihnen ungewohnten Bewußtseinszustand gelebt hätten. Es war tatsächlich etwas wie eine Art Aufwachen aus einem tiefen Schlaf, allerdings einem merkwürdigen, traumerfüllten Schlaf, der aber so ist, daß man daneben alle äußeren Verrichtungen des Tages vollbringt, als leiblich gesunder Mensch herumgeht, so daß gewissermaßen auch die anderen Menschen, mit denen man umgeht, einem gar nicht ansehen, daß man in einem anderen Bewußtseinszustand ist. Dennoch trat der Zeitpunkt ein, wo es den Aposteln so vorkam, als ob sie eine lange, tagelang dauernde Zeit verlebt hätten wie in einem traumerfüllten Schlafe, aus dem sie nun mit diesem Pfingstereignis erwachten. Schon dieses Erwachen fühlten sie, wie wenn aus dem Weltenall niedergestiegen wäre auf sie etwas, was man nur nennen könnte die Substanz der allwaltenden Liebe. Und den anderen Menschen, die sie beobachten konnten, wie sie nun sprachen, kamen sie ganz fremdartig vor. Jetzt kamen sie den Leuten wie verwandelt vor: wie Menschen, die in der Tat erlangt hatten eine ganz neue Verfassung, eine ganz neue Stimmung der Seele, wie Menschen, die alle Engigkeit des Lebens, alle Eigensüchtigkeit des Lebens verloren hatten, die ein unendlich weites Herz, eine umfassende Toleranz im Inneren gewonnen hatten, ein tiefes Herzensverständnis für alles, was menschlich auf der Erde ist, die sich so ausdrücken konnten, daß jeder, der da war, sie verstand. Man empfand gleichsam, daß sie in eines jeden Herz und Seele schauen konnten und aus dem tiefsten Inneren heraus Geheimnisse der Seele errieten, so daß sie einen jeden trösten konnten, dasjenige sagen konnten, was er gerade brauchte.

Jetzt erst, in diesem Augenblick, da sie sich befruchtet fühlten mit der kosmischen Liebe, trat vor ihr Seelenauge ein Verständnis für das, was auf Golgatha eigentlich geschehen war. Und wenn wir in die Seele des einen dieser Apostel hineinsehen, desjenigen, der gewöhnlich Petrus genannt wird, so stellt sein Seeleninneres für den rückschauenden hellsichtigen Blick sich so dar, daß sein irdisches normales Bewußtsein in jenem Augenblicke gleichsam wie vollständig abgerissen war, von jenem Augenblicke an, der gewöhnlich bezeichnet wird als die Verleugnung. Er sah hin auf diese Verleugnungsszene, wie er gefragt worden war, ob er einen Zusammenhang habe mit dem Galiläer, und er wußte jetzt, daß er das dazumal abgeleugnet hatte, weil sein normales Bewußtsein begann sich herabzudämpfen, weil sich ausbreitete eine Art Traumzustand, der eine Entrücktheit in eine ganz andere Welt bedeutete. Er erinnerte sich auch, wie sich jener Zwischenzustand erfüllte nicht mit bloßen Traumbildern, sondern mit Gebilden, die eine Art höheren Bewußtseinszustand darstellen, die darstellen ein Mitleben von rein geistigen Angelegenheiten.

Und alles, was geschehen war, was Petrus gleichsam verschlafen hatte seit jener Zeit, das trat wie aus einem hellschauenden Traum vor seine Seele. Jetzt, wo die Befruchtung mit der allwaltenden kosmischen Liebe erfolgt war, traten ihm vor Augen die Bilder des Mysteriums von Golgatha. So traten sie ihm vor Augen, wie wir sie wiederum erleben können, wenn wir sie wachrufen können mit rückschauendem hellsichtigem Bewußtsein, wenn wir die Bedingungen dazu herstellen. [3] (Siehe auch Akasha-Chronik).

Auf dem Felde des durch mancherlei Bilder durchkreuzten Bewußtseins des Petrus hoben sich zum Beispiel heraus: das auf Golgatha erhöhte Kreuz, die Verfinsterung und das Beben. Das waren für den Petrus die ersten Früchte der Befruchtung mit der allwaltenden kosmischen Liebe beim Pfingstereignis. Und jetzt wußte er etwas, was er früher mit seinem normalen Bewußtsein tatsächlich nicht gewußt hatte: daß das Ereignis von Golgatha stattgefunden hat, und daß der Leib, der am Kreuze hing, derselbe Leib war, mit dem er oftmals im Leben gewandelt war. Jetzt wußte er, daß Jesus am Kreuze gestorben war und daß dieses Sterben eigentlich eine Geburt war, die Geburt desjenigen Geistes, der als allwaltende Liebe sich jetzt ausgegossen hatte in die Seelen der beim Pfingstfest versammelten Apostel. Und wie einen Strahl der urewigen, äonischen Liebe fühlte er in seiner Seele aufwachen den Geist als denselben, welcher geboren worden war, als der Jesus am Kreuze verschied. Und die ungeheure Wahrheit senkte sich in die Seele des Petrus: Es ist nur Schein, daß am Kreuze ein Tod sich vollzogen hat, in Wahrheit war dieser Tod, dem unendliches Leiden vorangegangen war, die Geburt desjenigen, was wie in einem Strahle jetzt in seine Seele hineingedrungen war, für die ganze Erde. Für die Erde war mit dem Tode des Jesus geboren dasjenige, was früher allseitig außerhalb der Erde vorhanden war: die allwaltende Liebe, die kosmische Liebe. Mit dem ist gemeint, was im Neuen Testament die Herabkunft, die Ausgießung des Heiligen Geistes genannt wird.

Noch eines anderen Momentes seines Lebens mußte Petrus, auch Johannes und Jakobus, gedenken. Derjenige, mit dem sie auf der Erde gewandelt waren, hatte sie herausgeführt zum Ölberg, zum Garten Gethsemane und hatte gesagt: Wachet und betet! – Sie aber waren eingeschlafen und jetzt wußten sie: Dazumal war schon gekommen jener Zustand, der sich immer mehr und mehr ausbreitete über ihre Seelen. [4] Rückschauend aber kam ihnen Tag für Tag herauf die Zeit zwischen der Zeit des Mysteriums von Golgatha und der sogenannten Himmelfahrt. Die Apostel sahen sich wandelnd mit demjenigen, den wir den Christus nennen, nach dem Mysterium von Golgatha. Und sie sahen auch, wie er tatsächlich dazumal ihnen Lehren gab vom Reiche des Geistes, wie er sie unterwies. Und sie lernten verstehen, wie sie vierzig Tage lang mit diesem Wesen, das am Kreuze geboren war, herumgegangen waren, wie dieses Wesen – die aus dem Kosmos in die Erde geborene allwaltende Liebe – ihr Lehrer war, wie sie aber mit ihrem normalen Bewußtsein nicht reif gewesen waren, zu verstehen, was dieses Wesen zu sagen hatte, wie sie mit unterbewußten Kräften ihrer Seele das hatten aufnehmen müssen. Wie Nachtwandler hatten sie zugehört. Als der geistige Lehrer war er ihnen erschienen und hatte sie unterwiesen in Geheimnissen, die sie nur verstehen konnten, indem er sie entrückte in einen ganz anderen Bewußtseinszustand. Sie schauten sich gegenüberstehend diesem geistigen Wesen, das sie unterrichtete, und damit sie das erkannten, verwandelte sich dieses Bild, indem es sich zugleich aufrechterhielt, in das Bild des Abendmahles, das sie miterlebt hatten mit dem Christus Jesus. Da erst erkannten sie, daß es Derselbe ist, mit dem sie einstmals gewandelt sind im Leibe. [5] Wie ein vollständiges Zusammenfließen der Erinnerungen aus dem Bewußtseinszustand, der gleichsam ein Schlafzustand war, mit den Erinnerungsbildern, die vorangegangen waren; wie zwei Bilder, die sich deckten, erlebten sie das. So erkannten sie, daß diese zwei Wesenheiten zusammengehören: der Auferstandene und Derjenige mit dem sie im Leibe herumgewandelt waren. [6]

Die Menschenseele geht von der Erde in das Devachan, der Christus geht aus der Geisteswelt in die Erdensphäre hinein, vereinigt sich mit der Erde. Daß der Gott also in sein irdisches Dasein eingezogen ist, das trat im Bilde der Himmelfahrt, eigentlich der Erdenfahrt (denn Geisterlebnisse haben umgekehrte Perspektive), den Aposteln und Jüngern beim Pfingstfeste vor den Geist als eines der letzten Ereignisse. [7]

Zitate:

[1]  GA 139, Seite 187   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[2]  GA 139, Seite 188   (Ausgabe 1960, 212 Seiten)
[3]  GA 148, Seite 23ff   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[4]  GA 148, Seite 32f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[5]  GA 148, Seite 34f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[6]  GA 148, Seite 36   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)
[7]  GA 148, Seite 212f   (Ausgabe 1980, 342 Seiten)

Quellen:

GA 139:  Das Markus-Evangelium (1912)
GA 148:  Aus der Akasha-Forschung. Das Fünfte Evangelium (1913/1914)