Materialisten

Das Wesen des Materialismus ist nicht, daß man auf die materiellen Vorgänge hinsieht auf das, was sich an materiellen Vorgängen in der menschlichen Leiblichkeit abspielt und daß man hingebungsvoll den Wunderbau und die Wundertätigkeit des menschlichen Nervensystems und der anderen menschlichen Organe oder des Nervensystems der Tiere oder der Organe anderer Lebewesen studiert; nicht das macht einen zum Materialisten, daß man diese Dinge studiert, sondern das macht einen zum Materialisten, daß man bei dem Studium der materiellen Vorgänge vom Geiste verlassen ist, daß man in die Welt der Materie hineinschaut und nur Materie und materielle Vorgänge sieht. [1]

Warum sind wir heute Materialisten? Nicht aus dem Grunde, weil wir das Leben falsch interpretieren, sondern weil wir falsch leben. Wir leben und wir erziehen unsere Kinder so, daß sie nicht mit der Seele denken, sondern nur mit dem Gehirn. Die Menschen sind materialistisch, weil sie materiell geworden sind mit ihrem ganzen Leben, weil sie nicht danach trachten, die Freiheit zu erringen in einem Denken, das sich loslöst von der Leiblichkeit, das leibfrei wird. [2]

Wenn man eine geistige Anschauung hat, die nicht durch die äußere Welt zustande gebracht ist, dann können wir nicht, wenn wir uns an sie erinnern wollen, uns in ein inneres Phantom versetzen, das geblieben ist; das ist ja im Leibe. (siehe: Erinnerung). Da müssen wir durch eine viel stärkere Kraft, ohne diese Unterstützung, die ganze Sache vom Inneren heraus wiederum erarbeiten. So muß sich derjenige, der in der geistigen Welt lebt, innerlich mit seinem Willen mehr anstrengen als der, welcher sich auf die Unterstützung seines Leibes verläßt. Das aber hängt damit zusammen, daß alles dasjenige, was im Geisteswissenschaftlichen errungen wird, ja, was nur verstanden werden soll, überhaupt ein großes seelisches Anstrengen fordert. Man kann viel träger, fauler sein, wenn man Materialist ist, als wenn man Geisteswissenschafter ist. Und dies ist der Grund, warum die Menschen Materialisten sind, oder wenigstens einer der Gründe. Sie sind nicht Materialisten aus dem Grunde, weil sie ihrerseits durch eine Logik dazu gezwungen werden, sondern sie sind Materialisten aus Furcht, aber auch aus Trägheit, weil sie wollen, daß dasjenige, was da sich abspielt in der Seele, sich nicht durch die inneren Kräfte der Seele abspielt, sondern sich abspielt durch das, was im Leibe geschrieben ist, was da aufgezeichnet wird. [3]

Man glaubt heute, Materialist oder Idealist oder Spiritualist sei man durch den Inhalt einer Weltanschauung. Das ist nicht der Fall. Man ist noch lange nicht Spiritualist, wenn man sagt, man widmet sich der Betrachtung des Innerlichen und nicht der Betrachtung des Äußerlichen. Denn es könnte passieren, daß man sich seinem Inneren widmet und dann erst recht die Materie beobachtet, nämlich so, wie sie innerlich Flamme wird (siehe auch: Eingeweihte physiologische). [4] Der Materialist begeht nur den Fehler, daß er das Materielle hat und nicht gelten lassen will, daß es der Ausdruck eines Geistigen ist. Aber andererseits muß man immer im Unrecht bleiben, wenn man irgend etwas Geistiges behauptet und einem der Materialist Dinge sagt; von denen man keine Ahnung hat. Selbstverständlich kann man das reiche Gebiet der Forschung überblicken und doch von sehr vielem keine Ahnung haben; aber von der Art und Weise, wie die Dinge gewonnen werden, muß man eine Vorstellung haben. [5]

Zitate:

[1]  GA 73a, Seite 169   (Ausgabe 2005, 583 Seiten)
[2]  GA 335, Seite 194   (Ausgabe 2005, 498 Seiten)
[3]  GA 159, Seite 353f   (Ausgabe 1980, 388 Seiten)
[4]  GA 197, Seite 115   (Ausgabe 1967, 217 Seiten)
[5]  GA 164, Seite 207   (Ausgabe 1984, 286 Seiten)

Quellen:

GA 73a:  Fachwissenschaften und Anthroposophie (1920/1921)
GA 159:  Das Geheimnis des Todes. Wesen und Bedeutung Mitteleuropas und die europäischen Volksgeister (1915)
GA 164:  Der Wert des Denkens für eine den Menschen befriedigende Erkenntnis. Das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft (1915)
GA 197:  Gegensätze in der Menschheitsentwickelung. West und Ost – Materialismus und Mystik – Wissen und Glauben (1920)
GA 335:  Die Krisis der Gegenwart und der Weg zu gesundem Denken (1920)