Christus und das Phantom des physischen Leibes

Im Laufe der Erdentwickelung hat der Mensch die Form des physischen Leibes verloren, er hat nicht das, was ihm sozusagen von Göttern zugedacht war vom Erdenanfang an. Und es ist unmöglich, das Christentum zu begreifen, wenn man nicht einsieht, daß zur Zeit, als die Ereignisse von Palästina sich abspielten, das Menschengeschlecht über die Erde hin dort angekommen war, wo dieser Zerfall des physischen Leibes seinen Höhepunkt erreicht hatte, und wo eben deswegen für die gesamte Entwickelung der Menschheit die Gefahr bestand, daß das Ich-Bewußtsein, die eigentliche Errungenschaft der Erdentwickelung, verloren gehe. Wäre der Prozeß fortgeschritten – immer mehr und mehr wäre das Zerstörende eingezogen in die physische menschliche Leiblichkeit, und die Menschen, die (später) geboren worden wären, hätten leben müssen mit einem immer dumpferen Ichgefühl. Immer (zu) stumpfer wäre das geworden, was von der Vollkommenheit der Spiegelung eines physischen Leibes abhängt. Da trat das Mysterium von Golgatha ein. Es ist eingetreten, daß dieser eine Mensch, der der Träger des Christus war, einen solchen Tod durchgemacht hat, daß nach drei Tagen dasjenige, was am Menschen das eigentlich Sterbliche des physischen Leibes ist, verschwinden mußte und aus dem Grabe sich erhob jener Leib, der (nur) der Kräfteträger der physisch-materiellen Teile ist. Das, was eigentlich dem Menschen zugedacht war von den Beherrschern von Saturn, Sonne und Mond, das hat sich erhoben aus dem Grabe: das reine Phantom des physischen Leibes, mit allen Eigenschaften des physischen Leibes.

Denken wir uns den aus dem Grabe erstandene Leib des Christus, so können wir uns vorstellen: ebenso wie von dem Leibe des Adam abstammen die Leiber der Erdenmenschen, insofern sie den zerfallenden Leib haben, so stammen ab von dem, was aus dem Grabe auferstand, die geistigen Leiber, die Phantome für alle Menschen. Und es ist möglich, jene Beziehung zu dem Christus herzustellen, durch welche der Erdenmensch seinem sonst zerfallenden physischen Leib einfügt dieses Phantom, das aus dem Grabe von Golgatha auferstanden ist. [1] Dieser Leib teilt sich jedem mit, der die entsprechende Beziehung zu dem Christus sich aneignet im Laufe der Zeit. [2] Bei den Eingeweihten oder den Adepten war es immer so, daß sie die Einweihung empfangen mußten außerhalb ihres physischen Leibes, die sich aber nicht erstreckt hat auf eine Auferweckung des physischen Phantoms. Es waren ja allerdings ähnliche Dinge vorgekommen, aber niemals dies eine, daß durch einen vollständigen menschlichen Tod geschritten worden wäre und nachher das völlige Phantom über den Tod den Sieg davongetragen hätte. Das Wichtigste ist nicht, was der Christus Jesus gelehrt hat, sondern was er der Menschheit gegeben hat. Seine Auferstehung ist ein Geborenwerden eines neuen Gliedes der menschlichen Natur: eines unverweslichen Leibes. [3] Hätte nicht die Individualität des Zarathustra bis zum dreißigsten Jahre diese Leiblichkeit durchdrungen, so wären ihre Augen nicht fähig gewesen, zu ertragen die Substanz des Christus. Um den Christus aufnehmen zu können, mußte diese Leiblichkeit eben gleichsam vorbereitet, ausgeweitet werden durch die Individualität des Zarathustra. Durch die drei Jahre, von der Johannes-Taufe im Jordan an bis zum eigentlichen Mysterium von Golgatha, war die leibliche Entwickelung des physischen Leibes, des Ätherleibes und des Astralleibes eine ganz andere, als die leibliche Entwickelung bei anderen Menschen. Dadurch daß auf den nathanischen Jesus in früheren Inkarnationen luziferische und ahrimanische Kräfte nicht Einfluß genommen hatten, war die Möglichkeit gegeben, daß von der Johannes-Taufe ab – da jetzt nicht eine menschliche Ich-Individualität in diesem Jesus von Nazareth war, sondern die Christus-Individualität – alles das nicht herausgebildet wurde, was sonst beim Menschen in seiner Leiblichkeit immer wirken muß. Das was wir das menschliche Phantom nennen, die eigentliche Urgestalt, die in sich auffaßt, einsaugt die materiellen Elemente und sie dann mit dem Tode abgibt – degenerierte im Laufe der menschlichen Entwickelung. Vom Anfang der menschlichen Entwickelung an war dieses Phantom dazu bestimmt, unberührt zu bleiben von den materiellen Teilen, die aus dem Mineral-, Pflanzen- oder Tierreich vom Menschen als Nahrungsmittel aufgenommen werden. Unberührt davon sollte das Phantom bleiben. Es war aber nicht unberührt geblieben, denn durch den luziferischen Einfluß trat eine enge Verbindung ein zwischen dem Phantom und den Kräften die der Mensch aufnimmt durch die irdische Entwickelung – besonders mit den Aschenbestandteilen; und dadurch, anstatt mit dem Ätherleib des Menschen mitzugehen, ging es nun mit dem mit, was Zerfallprodukte sind. Und wo die luziferischen Einflüsse so hintan gehalten worden waren, wie dies beim nathanischen Jesus der Fall war, da zeigte es sich, daß sich keinerlei Anziehungskräfte geltend machten zwischen dem menschlichen Phantom und dem, was als materielle Teile aufgenommen wurde. Man drückt das okkult so aus, man sagt: Eigentlich sollte das menschliche Phantom keine Anziehungskräfte haben zu den Aschenbestandteilen, sondern es sollte nur mit den sich lösenden Salzbestandteilen eine Anziehung haben, so daß es den Weg der Verflüchtigung nimmt in dem Maße, als die Salzbestandteile sich auflösen. Das war aber gerade das Eigentliche, daß mit der Johannes-Taufe, aller Zusammenhang des Phantoms mit den Aschen­bestandteilen vernichtet, vertilgt worden war und der einzige Zusammenhang blieb mit den Salzbestandteilen. Das tritt uns auch da hervor, wo der Christus Jesus denjenigen, die er zunächst erwählt hatte, klarmachen will: Es soll durch die Art, wie ihr euch verbunden fühlt mit der Christus-Wesenheit, zur weiteren menschlichen Entwickelung die Möglichkeit herbeigeführt werden, daß der eine aus dem Grabe auferstandene Leib – der Geistleib – auf die Menschen übergehen kann. – Dies will der Christus sagen, als er die Worte gebraucht: «Ihr seid das Salz der Erde!» Als der Leib vom Kreuze herabgenommen wurde, waren sozusagen die Teile noch zusammenhaltend; aber sie waren in keiner Verbindung mit dem Phantom, weil das Phantom von ihnen völlig frei war. Als der Leib dann mit gewissen Substanzen versetzt wurde, die dann wieder auf diesen Leib ganz anders wirkten als auf einen anderen Leib, der einbalsamiert wird, da geschah es, daß sich die materiellen Stoffe nach dem Begräbnis rasch verflüchtigten, rasch in die Elemente übergingen. Das Phantom aber, woran die Entwickelung des Ich hängt, das war aus dem Grabe auferstanden. [4]

Sie können sich ja mit Christus nur dadurch vereinen, daß Christus in das Phantom des physischen Menschenleibes übergegangen ist. Das ist in den Worten enthalten: «… das Eingehen in die physische Erde»; und das findet der Mensch, wenn er das Physische – auch wenn es als Physisches schon verdorben ist – gerade an Christus anknüpft. So geschieht die Erneuerung in der Verbindung mit Christus, die als Folge des Mysteriums von Golgatha da ist. [5]

Zitate:

[1]  GA 131, Seite 166f   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[2]  GA 131, Seite 169   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[3]  GA 131, Seite 171   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[4]  GA 131, Seite 184uf   (Ausgabe 1958, 244 Seiten)
[5]  GA 344, Seite 163   (Ausgabe 1994, 285 Seiten)

Quellen:

GA 131:  Von Jesus zu Christus (1911)
GA 344:  Vorträge und Kurse über christlich-religiöses Wirken, III. Vorträge bei der Begründung der Christengemeinschaft (1922)