Chartres – Schule von Chartres

Da gab es im elften, namentlich aber im zwölften Jahrhundert, herüberreichend ins dreizehnte Jahrhundert, eine eigentlich wunderbare Schule, in der Lehrer waren, welche durchaus wußten, wie in den vorangehenden Jahrhunderten die Schüler hingeführt wurden zum Erleben des Geistigen. Es war die Schule von Chartres, da war vor allen Dingen hingekommen ein Strahl der noch lebendigen Weisheit des Peter von Compostella, der in Spanien gewirkt hat, der ein lebendig mysterienhaftes Christentum in Spanien pflegte, das noch sprach von der Helferin Christi, der Natur, das noch sprach davon, daß erst dann, wenn diese Natur den Menschen eingeführt hat in die Elemente, in die Planetenwelt, in die Sternenwelt, daß erst dann der Mensch reif wird, die sieben Helferinnen kennenzulernen, als lebendige Göttinnen: Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik. Als göttlich-geistige Gestalten, lebendig lernten die Schüler sie kennen. In dieser Schule von Chartres lehrte zum Beispiel Bernhardus Sylvestris, der wie in mächtigen Schilderungen vor den Schülern entstehen ließ dasjenige, was eben alte Weisheit war. Johannes von Chartres, den man auch Johannes von Salisbury nannte, entwickelte da Anschauungen, in denen er sich auseinandersetzte mit dem Aristotelismus. Und mit einer inspirierenden Kraft verpflanzte sich dasjenige, was in der Schule von Chartres gelehrt wurde nach dem Cluniacenser-Orden hin. Und insbesondere war einer da, im zwölften Jahhundert, der eigentlich alle anderen überragte: Alain von Lille oder Alanus ab Insulis. [1] Und gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts war vieles von dem an der Universität von Orleans, wo merkwürdige Lehren nach dieser Art hin gepflegt wurden, wo manches vorhanden war von Inspiration durch die Schule von Chartres. [2] Wir sehen durch Frankreich hindurch bis nach Italien hinein die Geiststrahlen dieser Schule von Chartres. Brunetto Latini, der Lehrer Dantes, wurde zugänglich für die okkulten Ausstrahlungen der Schule von Chartres. [3] (Siehe: Brunetto Latini).

Die letzten Großen der Schule von Chartres waren eben in der geistigen Welt angekommen. Diejenigen Individualitäten, die die Hochblüte der Scholastik einleiteten, waren noch in der geistigen Welt. Und einer der wichtigsten Ideen-Austausche hinter den Kulissen der menschlichen Entwickelung spielte sich ab im Beginne des dreizehnten Jahrhunderts zwischen denen, die noch den alten schauenden Platonismus hinaufgetragen haben aus der Schule von Chartres in die übersinnliche Welt, und diejenigen, die sich dazu bereiteten, den Aristotelismus herunterzutragen als den großen Übergang für die Herbeiführung einer neuen Spiritualität, die in der Zukunft hereinfluten soll in die Entwickelung der Menschheit. Da kam man überein, indem gerade diese Individualitäten, die aus der Schule von Chartres herstammen, denen sagten, die sich eben anschickten, herunterzusteigen in die sinnlich-physische Welt und den Aristotelismus in der Scholastik als das richtige Element des Zeitalters zu pflegen: Für uns ist zunächst ein Erdenwirken nicht möglich, wir bleiben hier oben. Und so blieben denn, ohne daß sie in maßgeblichen Erdeninkarnationen bisher eintraten, die Geister von Chartres in der übersinnlichen Welt. Aber sie wirkten mächtig mit bei der Gestaltung jener grandiosen Imagination, die gestaltet wurde in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts (siehe: Michaelschule in der geistigen Welt). [4]

Im großen und ganzen kann man sagen: Wiederverkörperungen der Geister von Chartres sind eigentlich nur in geringem Maße dagewesen. Aber dennoch war es mir gegönnt, gerade eine Möglichkeit zu finden, durch eine Anregung in der Gegenwart auf die Schule von Chartres zurückzublicken. Es gab da einen Mönch, der ganz demjenigen hingegeben war, was dazumal in der Schule von Chartres ja an Lebenselement war. Aber man fühlte in der Schule von Chartres, gerade wenn man ihr recht hingegeben war, etwas von Abenddämmerungsstimmung des geistigen Lebens. Und ein einzelner solcher Mönch wurde in unserer Zeit doch verkörpert in einer Weise, daß man geradezu in wunderbarer Art den Abglanz des vorigen Lebens bei der betreffenden Persönlichkeit finden konnte. Diese Persönlichkeit war eine mir bekannte, sogar befreundete Schriftstellerin, die eine in unserer Zeit ganz merkwürdige Seelenstimmung in sich trug. Da ist in einem vorigen Erdenleben etwas als Keim gelegt worden, was jetzt herauskommt, in der Empfindung, daß eigentlich diese Seele, die da verkörpert war, gar nichts mit der Gegenwart zu tun hatte. [5]

Zitate:

[1]  GA 237, Seite 94ff   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[2]  GA 237, Seite 97   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[3]  GA 238, Seite 64   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)
[4]  GA 237, Seite 98f   (Ausgabe 1959, 186 Seiten)
[5]  GA 238, Seite 76f   (Ausgabe 1960, 184 Seiten)

Quellen:

GA 237:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Dritter Band. Die karmischen Zusammenhänge der anthroposophischen Bewegung (1924)
GA 238:  Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge - Vierter Band. Das geistige Leben der Gegenwart im Zusammenhang mit der anthroposophischen Bewegung (1924)